Von Erenstine Lutz, Kanada

Den 17. März 1939

Wenn ich mich nicht irre, war es im Frühjahr 1910, als wir mit der Gemeinde Gottes bekannt wurden. Wir waren damals erst kürzlich von Deutschland zurückgekommen und hatten uns in Dolganez eine Landwirtschaft gekauft. Dazu gehörte ein großes Haus, das nahe an der Dorfstraße lag. In diesem Haus war die Baptistenversammlung. Als eines Sonntags Prediger Steinke von der Selbstverleugnung sprach, ging es mir sehr zu Herzen. Ich wünschte, wenn es hier auf Erden möglich wäre, solch eine Erfahrung zu machen. Gern wäre ich dabei.

Noch an demselben Abend kam die Schwester meines Mannes und lud uns für den Abend auf Besuch zu sich ein. Ich entschuldigte uns und gab an, dass wir kein Schloss zum Verschließen des Hauses hatten. Außerdem fehlten uns auch die Leitern auf dem Wagen. Die zwei ältesten Kinder hatten aber etwas vom Fahren gehört. Und weil mein Mann sich ganz stille verhielt, dachten sie, es läge an mir. So zupften und rissen sie mich und bettelten, dass wir doch fahren möchten. Als sie mich noch eine Weile so gequält hatten, befiel mich der Zorn. Ich griff nach einem Stück Holz, das ich gerade in die Hände bekam, und wollte auf sie losschlagen. Und wären sie nicht ausgerissen, hätten sie wohl auch tüchtig abbekommen. Mein Mann, der sich etwas besser beherrschen konnte, sah mich an und sagte: „Wo ist deine Selbstverleugnung?“ Dieses ging mir sehr zu Herzen und in mir entstand ein Kampf. Ich war sehr unglücklich und weinte den ganzen Abend. Unter anderem sagte ich zu meinem Mann: „Auf diesem Weg geht es nicht zum Himmel. Denn nach dem Wort Gottes sollte es doch hier schon möglich sein, den Sieg über den Zorn zu haben!“

In den Tagen kam auch zu uns die Nachricht, dass es in unserer Nähe schon Prediger gibt, die lehren, dass ein Mensch ohne Sünde leben kann und soll. Dieses alles arbeitete in meinem Herzen gewaltig. Ich dachte über so manches in der Vergangenheit nach. Auch über unsere Prediger und ihre ernsten Predigten. Und darüber, warum wir nicht diese durchgreifende Lehre und Befolgung hatten. Unter uns war noch niemand, der so lebte und handelte. Sogar unser Diakon, von dem so viel gehalten wurde. Ihm erlaubte sein Gewissen, dass er einmal den Nachbarssohn, der über seine Wiese ging, mit dem Spaten schlug und ihm dadurch eine größere Wunde zufügte. Nachher stritt er allerdings ab, dieses getan zu haben. Die Mutter dieses Jungen, die auch ein Mitglied der Gemeinde war, bekam kein Recht, weil der Sohn noch nicht als Mitglied der Gemeinde zählte. Sie musste sich mit einem verwundeten Herzen zufriedengeben. Dieses und vieles andere, das immer wieder in der Gemeinde vorkam, hatte schon jahrelang mein Gemüt beschwert. Ich brach darunter weinend zusammen und sagte zu meinem Mann: „Wenn dies alles richtig ist und alle damit in den Himmel kommen wollen, dann weiß ich nicht, was das für ein Himmel sein wird.“

An einem anderen Tag kam meine Schwester und Schwager Krause von Antonowka in Begleitung von zwei Brüdern der Gemeinde Gottes, Adam und Kürbs, zu uns. Und nach kurzem Aufenthalt begaben sie sich alle zu meiner Schwester Tiede, die nicht weit von uns entfernt wohnte. Als mein Mann abends nach Hause kam, gingen auch wir hin.

Bruder Adam, der auch jahrelang zu derselben Gemeinde gehört hatte, erzählte uns, dass er immer sündigen musste, wenn der Teufel es wollte. Er hatte so lange Sieg, bis er über etwas erregt worden war. Er erzählte, dass er sich an so manchem vergriffen hatte, während er ein aktives Mitglied in der Gemeinschaft war. Und sogar seine Frau habe er geschlagen. Endlich sei er dann in seinen Innern erwacht und wurde überzeugt, dass Gott seinen Namen schon längst aus dem Buch des Lebens getilgt hat. Während dieser Unterhaltung wurde mir alles klar und ich sah meinen Herzenszustand wie ein aufgeschlagenes Buch vor mir. Ich wandte mich zu meiner Schwester und fragte, ob sie glaube, dass diese richtig lehren. Sie fragte dann mich, ob es nicht Zelt sei, dass wir unser Leben nach dem Wort Gottes einrichten sollten. Ich sah, dass meine Schwester das meinte, was sie sagte, und dachte in meinem Herzen: „Wenn du schon denkst, dass es für dich Zeit ist, dann ist es für mich die höchste Zeit!“ Ich fühlte mich nicht besser als die anderen Gemeindeglieder.

Von der Zeit an waren wir die Furcht los, dass Menschen uns aus der Gemeinde ausschließen könnten. Das Wort Gottes war uns viel klarer als zuvor. Wir sahen, dass der Herr den ausschließt, der sündigt, und den aufnimmt, der reumütig zu ihm kommt. Das Wort Gottes wurde uns immer klarer und wir waren über unsere Vorrechte von Herzen froh und glücklich. Wir öffneten dann für die Wahrheit unser Herz und Haus.

Bruder Malzon hatte zu jener Zeit in Rowno, unserer nächsten größeren Stadt, eine Versandbuchhandlung eingerichtet. In Antonowka hatte er schon Versammlungen abgehalten, durch die eine Erweckung entstanden war. Zum ersten Ostertag 1910 wurde er von den Gläubigen in Klein-Kuplja eingeladen. Und am zweiten Ostertag weilte er bei uns. Weil der Raum die Besucher nicht fassen konnte, wurden die Fenster herausgenommen. Viele Leute nahmen draußen stehend an den Gottesdiensten teil. Das Wort griff dann um sich wie ein Lauffeuer und die Leute wurden über ihren Zustand aufgeklärt. Es fanden auf allen Seiten und in der ganzen Umgebung Erweckungsversammlungen statt. Die meisten Menschen wachten in ihrem Innern auf und der Boden des Herzens konnte von neuem bearbeitet werden. Gottes Wort wuchs und brachte reichlich Frucht.

Wie oft denken wir an jene herrliche Zeit, besonders an die großen und verlängerten Versammlungen in Klein-Kuplja. Unverdrossen kamen die Leute von weit und breit zu den gesegneten Stunden, ob es abends oder am Tag, sonntags oder wochentags war. Ob sie zu Fuß oder mit der Fuhre kamen, immer waren sie froh, fertig und bereit zu diesen Stunden zu eilen. Auch der schöne Gesang zog die Leute an. Die frohen und glücklichen Zeugen, die ernsten und überzeugenden Predigten und die tiefen, reumütigen Herzensgebete – alles wirkte und wurde den Leuten niemals zuviel.

Auch der liebe Bruder Michael Kern, der so oft seine Scheune, Hof und Haus voller Menschen hatte, zeigte sich darüber nie unwillig. Wir lernten in der Zeit auch mehrere ältere Brüder kennen, die uns besuchten, wie Bruder Wehking aus Deutschland, der im Kriege gefallen ist. Auch Bruder Ebel von USA besuchte uns einmal allein und einmal in Begleitung seiner lieben Frau. Auch Bruder Hinz mit seiner Frau weilten einige Male bei uns im Segen.

Durch Bruder Malzon hat der Herr in unserer Gegend die Gemeinde ins Leben gerufen. Und er hat bis zum Ausbruch des Krieges unter den neugeborenen Lämmern und an vielen Orten treulich gedient und gearbeitet. Auch seinen Gegnern verstand er so zu begegnen, dass ihnen geholfen wurde. Und wo es galt stille zu sein, verhielt er sich in einem Eckchen ganz ruhig und ließ die Pfeile des Feindes vorbeiprallen. Diese Stunden waren die gesegnetsten in unserem Leben.

Am letzten Oktobertag 1921 verabschiedete ich mich von Geschwister Malzon in Omsk (Sibirien) und begab mich mit meinen Kindern auf den Heimweg. Genau nach einem Monat fuhr ich in Ssarne über die russisch-polnische Grenze und begab mich bald auf den Weg nach Kanada zu meinem Mann, der schon kurz vor dem Krieg dorthin kam.