Anfang der Verfolgungen

Trotzdem die Behörden den Gedanken verfolgten, Gottes Sache zu vernichten, gab sie von uns das Zeugnis, dass die Gemeinde Gottes das auslebt, was sie predigt, und das predigt, was sie auslebt. So hatten wir noch immer große religiöse Freiheit und die Möglichkeit, uns aufzubauen und zu vergrößern. Während andere Gemeinschaften und Kirchen schon beengt und zerstört wurden, bekamen wir noch die Erlaubnis, große, neue Versammlungshäuser zu bauen und neue Versammlungen anzufangen.

Als 1927 die lutherische Kirche in unserem Ort ein Dankesfest feiern wollte – der Herr hatte sie nach 12 Jahren Verbannung und Verschleppung wieder zurückgebracht – sickerte es durch, dass zu diesem Dankgottesdienst viele von der Behörde kommen würden. Da wurde es ihnen wegen der Hauptansprache bange. Sie kamen zu uns und baten, dass ich diese Rede halten möchte. So sprach ich dann an dem Sonntag unerschrocken zu etwa 2000 Menschen. Und der Herr sprach auch wirklich die Herzen der Zuhörer an und schenkte seinen Segen. Viele von ihnen sind noch danach in ihrem Innern erwacht. Etliche schrieben uns sogar noch aus dem weiten Sibirien von ihrer inneren Erfahrung, zu der sie bei dieser Feier angeregt worden waren.

Im Durchschnitt hatten wir an den Sonntagen vor- und auch nachmittags einen gut besuchten Gottesdienst. Den Leuten wurde es nicht zu schwer, weite Wege zurückzulegen und zweimal am Tag zu den Versammlungen zu kommen. Die meisten verließen auch nicht gern den Raum, ohne gebetet zu haben. Uns blieb nichts anderes übrig, als den Menschen hierin Freiheit zu lassen, so dass bei größeren Zusammenkünften oft eine Anzahl zu gleicher Zeit laut beteten.

Der Herr ließ uns auch über die Zukunft nicht im Dunkeln, sondern ließ uns voraussehen, dass über die Gläubigen mancherlei Schwierigkeiten hereinbrechen würden. Deshalb sprachen wir in unseren größeren Zusammenkünften mit etlichen Trägern des Werkes, dass es unbedingt notwendig sei, dass jemand die Kinder Gottes im Ausland aufsuchte müsse, um die Verantwortlichen dort über unsere Lage zu informieren. Die Geschwister hinter der Grenze zu informieren, erschien uns als unbedingte Notwendigkeit. Wir benötigten dringend Gotteskinder, die in über uns kommenden schweren Zeiten für uns beten und hinter uns standen.

Hierüber sprach ich auch mit Bruder Ackermann und sagte ihm, dass nur er oder Bruder Hinz wegen den wirtschaftlichen und familiären Verhältnissen eher zu entbehren wären und in Frage kämen. Bruder Ackermann sagte mir aber, dass er seine Berufung hierzu nicht fühlte und glaubte, diesen Aufgaben nicht so gewachsen zu sein. Er meinte dann, dass diese Fahrt viel besser für Bruder Hinz oder für mich passen würde. Als ich ihm dann klarmachte, dass ich doch wegen meiner kleinen Kinder und der großen Arbeit, in der ich mich befand, nicht fahren könnte, wandten wir uns dieser Sache wegen brieflich an Bruder Hinz. Er sagte aber auch ab.

Bald darauf erwachte auch in meiner Frau ein innerer Trieb, der sich immer mehr bemerkbar machte, dass doch jemand fahren müsse. Als wir dann spürten, dass hierfür niemand anders da war, schenkte der Herr uns große Freudigkeit. Und auch meine liebe Frau wurde willig, dieses große Opfer zu bringen. Sie ermutigte mich noch, dass ich fahren sollte. Der Herr half in allem wunderbar, auch im Besorgen der Reisepapiere. Am 30. September hatten wir in Natalien noch eine größere Versammlung, zu der eine Anzahl Diener des Evangeliums von anderen Orten erschienen waren. Mehrere davon, meine Familie und auch andere Geschwister begleiteten mich am darauffolgenden Tag zum Bahnhof. Meine liebe Frau fuhr noch bis an die russisch-polnische Grenze mit.

Meine Reise hatte manche neue Sorgen und Gedanken für uns gebracht. Ich stand in den Gemeinden in voller Arbeit, die ja nun von jemanden übernommen werden musste. Weil der Herr wohl unseren Glauben prüfen wollte, ließ er uns im Voraus keinen Weg dazu sehen. Wie er es aber schon oft tat, so machte er es auch da. In dem Moment, als es am nötigsten war, griff er ein, zeigte und führte uns den Weg. Für die nötigste Arbeit erweckte der Herr die Brüder Reinhold Busenius und Gustav Albrecht. Meine Frau, die mit der Arbeit in allem gut vertraut und eingeweiht war, konnte diesen Brüdern oft mit Rat und Tat zur Seite stehen. Es galt, manche Besuche zu machen und manche schwierige Sachen zu regeln.

Dem Bruder Hinz hatte es der Herr aufs Herz gelegt und er besuchte, solange es ihm möglich war, die Hauptsonntage in Natalien regelmäßig. Auch Bruder Adolf Rösler von Dubowa und Bruder Barbulla von Horschtschik hatten dies sich zur Aufgabe gemacht. Sie besuchten öfter auch die Geschwister in der Gegend. Auch die Brüder Gänsle und Raaf aus Neusatz und Bruder Zacharias aus dem Transkaukasien (Tiflis) machten den weiten Weg und besuchten in der Ukraine und unserer Gegend die Versammlungsorte.

Ich war in der Absicht weggefahren, in drei bis vier Monaten wiederzukommen. Aber kurz nach meiner Wegfahrt gestalteten sich die Verhältnisse derart, dass mir aus Russland von mehreren Stellen geraten wurde, noch nicht zurückzukehren. Die Arbeit dort wurde sehr erschwert, die Verfolgung der Geistlichkeit setzte ein. Schon zu meiner Zeit stießen wir in der Arbeit für den Herrn auf viele Schwierigkeiten und Hindernisse. So mussten wir uns, wenn wir auf einem Ort predigen wollten, bei der Polizei anmelden. Dieses und vieles andere mehr ging nicht ohne Schwierigkeiten und Hindernisse vor sich.

Nun wurde aber alles noch viel, viel schwieriger. Als einmal Bruder Klotz und Bruder Lachmeyer aus Zebriko, Bruder Schäfer aus der Kolonie Berlin und Bruder J. Hinz aus Tschernjachow die Kolonie Natalien besuchten, wurden sie aus der Versammlung weggeholt und verhaftet. Bald wurde auch Bruder Gänsle verhaftet und dann in den kalten Urwald in der Gegend von Tomsk gebracht. Ein Jahr später wurde auch seine Frau verschickt. Erst nach einer längeren Zeit fand das Ehepaar dort im Urwald zusammen.

Trotz der schweren und gefährlichen Zeiten erweckte der Herr noch immer wieder neue Kräfte, die entschieden für die Sache Gottes arbeiten konnten, und die noch andere in deren Arbeit unterstützten. In der Kolonie Sergejewka erweckte der Herr den Bruder Reinhold Rohde und dessen Schwager, den Küster Hermann Schulz, dem er ganz besonders die Arbeit in seiner Gegend aufs Herz legte. Er scheute die Arbeit für den Herrn unter keinen Umständen. Und als er ins Gefängnis kam, versuchte er, dort den Gefangenen das Wort Gottes nahezubringen. Zwei junge Männer übergaben sich dort im Gefängnis dem Herrn. Und an einem Sonntag, von dem sie wussten, dass die Kinder Gottes von vielen Orten in Natalien zusammen die Verordnungen feiern, hielt er mit den zwei jungen Brüdern die Verordnungen dort im Gefängnis. Obwohl er in den fünf Jahren seiner Verbannung in Archangelsk viel durchmachen musste, wurde er nicht mutlos. Und der Herr schenkte ihm auch das Vorrecht, zurück zu den Seinen nach Wolhynien zu kehren. Mit diesen zusammen wurde er aber dann wieder in eine andere Gegend gebracht.

Auch Bruder Hinz wurde verhaftet oder liquidiert. Er und seine Frau wurden in die Nähe des Eismeeres verbannt, wo sie sich auch jetzt noch befinden. Bruder Adolf Rösler ging auch denselben Weg. Nach einer Zeit starb er nach vielen Leiden in der Verbannung. Bruder Herzog von Werowka und Bruder Mertens von Adolin mussten auch bald im Gefängnis ihr Leben lassen. Auch Bruder Barbulla musste schwere Dinge im Gefängnis erleben. Er ist aber, für uns wie ein Wunder, wieder losgekommen.

Bruder Busenius, der auch verhaftet und zur Zwangsarbeit verschickt war, hat der Herr wunderbar geholfen, loszukommen. Er befindet sich in Mittel-Russland. Bruder Ackermann ist auch aus dem Süden fort. Das letzte Nachricht von ihm war, dass er in Sibirien ist. Bruder Raaf wollte sich nicht gern von seiner großen Familie trennen lassen und hielt sich heimlich in ihrer Nähe auf. Er wurde dann mit einer Anzahl anderen, wie uns die Zeitungen berichteten, erschossen.

Wenn ich an alle Geschehnisse zurückdenke, die meiner Familie und mir während unseres Lebens in Russland und dann weiterhin begegneten, so kann ich nur sagen: „Gott hatte uns sehr lieb! Nie durften wir eigene Wege gehen, er durchkreuzte sie uns sofort. Gott ging mit uns große Glaubenswege“. In meiner Jugendzeit reiste ich dreimal aus Russland nach Deutschland. Das zweite Mal, im Jahre 1908, hatte ich vor, ganz in Deutschland zu bleiben. Es kam jedoch alles anders. Geschwister Doebert hielten es für gut, mich nach dem Kaukasus mitzunehmen. Nach vier Monaten kehrten die Geschwister nach Deutschland zurück. Ich aber blieb dort, denn die Arbeit hatte sich derart vergrößert, dass jemand dortbleiben musste. So harrte ich dann auf meinem Platz aus.

Im Jahre 1912 verheiratete ich mich. Als der Krieg ausbrach, mussten wir nach Sibirien. Dort waren wir sechs Jahre, von 1915 bis 1921. Auch hierin hatte Gott seine Wege mit uns. In der folgenden Zeit war ich dann sehr im Werke Gottes beschäftigt. Es gab viel, sehr viel Arbeit im Weinberge des Herrn. Von der Polengrenze bis Odessa und Weißrussland, in der Ukraine, Wolhynien und Taurin, überall entstanden neue Gemeinden und Versammlungen. Unsere Zeit war mit Arbeit reichlich ausgefüllt, bis dann im Jahre 1928 die Entscheidung fiel, dass ich nach Deutschland fahren sollte.

Meine Frau hatte schon gleich von der Hochzeit an wiederholt gesagt, dass uns keine Grenze je trennen sollte. Sie würde nicht einwilligen, dass ich nach Deutschland führe. Als dann aber keiner von den dortigen Brüdern fahren wollte, kam eines Tages meine liebe Frau zu mir und sagte, dass sie um des Werkes Gottes und der armen Notleidenden und Unterdrückten willen das Opfer bringe und in eine Trennung willige. Wir sahen schon im Voraus, dass sehr trübe Stunden über die Gläubigen in Russland kommen würden.

Als ich dann abfuhr, dachte ich, nur wenige Monate in Deutschland zu bleiben. Danach wollte ich wieder zurückkehren. Auf die Geschwister dort kamen nur allzubald Bedrängnisse und Leiden zu. Ein Teil von ihnen wurde verhaftet, andere verbannt und zu jahrelanger Zwangsarbeit verurteilt. Unter diesen Umständen schrieb mir meine Frau: „Bleibe in Deutschland – und wenn ich noch ein ganzes Jahr allein ausharren sollte. Ich möchte doch nicht, dass du jetzt zurückkommst.“ Ich blieb daher weiter hier.

Manche von den lieben Geschwistern in Russland sahen das nicht ein und erwarteten, dass meine Frau mich wieder zurückrufen sollte. Später, als sich einige von ihnen in ostsibirischer Gefangenschaft befanden, sahen sie die Sache ganz anders. Zu jener Zeit erhielt ich die unterschiedlichsten Briefe. Die einen schrieben: „Komm!“, die anderen aber baten: „Bleib, du läufst sonst ins Unglück!“

Nun wollte ich sehen, was meine Frau in diesem Meinungsstreit eigentlich dachte. Diese schrieb mir dann aber ganz einfach: „Und wenn ich noch jahrelang allein in Russland bleiben müsste, bin ich doch froh, dass mein Mann und Kind in guter Hut seien.“ Unser ältester Sohn Ruben war nämlich mit mir nach Deutschland gekommen. Meine Frau wollte sich auch darin aufopfern und glaubte fest, dass dieses auch für den Herrn sei.

Sie erlebte dort zur Genüge, wie Familien auf Nimmerwiedersehen auseinandergerissen wurden. Und überall, wo sie hinsah, war Verhaftung, Verbannung, Not, Elend und Hunger. Wir und andere mit uns sahen es immer deutlicher, dass mein Verbleiben in Deutschland der Weg Gottes für uns war.

Wie oft mir meine Frau in dieser Zeit auch schrieb, versuchte sie doch niemals, mir die ganze Schwere ihrer Lage zu offenbaren. Wenn sie auch mitunter am Anfang ihrer Briefe mir ihr Herz auszuschütten begann, so war sie doch am Schluss stets dankbar für Gottes Bewahrung, Führung und ihr Wohlergehen, im Vergleich mit anderen, die noch bedeutend mehr gequält wurden. Sie hatte nicht nur trübe Stunden wegen der täglichen Arbeiten, sondern auch wegen anderen Angelegenheiten. So war sie zum Beispiel dreimal ganz nahe daran, einen Reisepass zu erhalten. Kurz vor der Aushändigung wurde er ihr aber immer wieder abgesagt. Trotz allem war sie immer zuversichtlichen Herzens und in ihrer schweren Lage tröstete sie auch mich noch. Obwohl meine Frau dann seit einem Jahr staatenlos war und von deutscher Seite die Einreiseerlaubnis hatte, konnte sie immer noch nicht nach Deutschland reisen. Unsere gemeinsame Einbürgerung als Deutsche in Deutschland musste erst geschehen. Als dies dann im Dezember 1932 so weit war, erhielt meine Frau ihren endgültigen Reisepass. Endlich bekam sie auch, jedoch nicht ohne weitere Schwierigkeiten, am 10. März 1933 das Ausreisevisum. Und am 24. März traf meine Familie abends in Berlin ein. Ja, „Weg hat er allerwegen“. Gott führt uns gut, wenn es auch manchmal durch tiefe Schluchten geht.