Der stille Pförtner

Ich ging die Straße entlang und kam zu einem großen Geschäftshaus. Als ich eintreten wollte, öffnete sich die Tür vor mir. Ich sah einen Schwarzafrikaner, der sie offen hielt. Als ich an ihm vorbeigegangen war, machte er die Tür wieder zu, und stillschweigend wie eine Statue stand er da. Er erinnerte mich an einen andern Pförtner, der stillschweigend wie ein Schatten vor der Tür steht, die sich vor uns befindet. Dieser stille Pförtner ist der Tod.
Wie der Schwarzafrikaner die Tür vor mir öffnete und sie hinter mir zumachte, so wird auch der Tod eines Tages kommen, die Tür vor uns aufschließen, und wenn wir hindurchgeführt sind, die Tür hinter uns verschließen. Diese Tür liegt vor uns allen. Ein Vorhang verbirgt sie vor unseren Augen. Doch früher oder später werden wir diese Pforte sehen und auch den stillen Pförtner, der bereit ist, die Pforte zu öffnen, die uns Einlass in jene Welt gewährt. Alle Menschen müssen durch diese Pforte gehen. Es wird uns nur von zwei Männern berichtet, die das Vorrecht hatten, in das jenseitige Leben einzutreten, ohne diese Pforte zu passieren.
Für ein wahres Kind Gottes ist diese Pforte der Zugang zum ewigen Licht und zur ewigen Herrlichkeit, in eine Welt, die mit göttlichem Strahlenglanz erfüllt ist, wo das Lamm das Licht ist und wo es keine Nacht gibt. Es ist die Eingangspforte, der Zutritt zu allem, wonach unsere Herzen sich sehnen und verlangen – ewige und unaussprechliche Freude zur Rechten des Herrn, die Gemeinschaft der Heiligen, die Gegenwart der Herrlichkeit Gottes, unbefleckte Heiligkeit, die Musik und die Harfentöne der himmlischen Chöre; Freiheit von allem, was uns hier geängstigt, geplagt und gehindert hat; Freiheit für die Seele; Freiheit von irdischen Schranken; Freiheit, die Freuden und Herrlichkeiten des Paradieses zu genießen. „Alles ist euer“, sagte Paulus.
In diesen herrlichen, ewigen Hafen der Ruhe werden wir durch den stillen Pförtner geführt. Wenn wir diese herrlichen Aussichten wahrnehmen, so hüpft unser Herz vor Freude und Verlangen, dort zu sein, und mit Paulus können wir sagen: „Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre“. Diesen herrlichen Zustand brauche ich nicht zu schildern. O wie bewegt es die Seele und mit welcher Sehnsucht schauen wir aus nach unsrer Behausung, die vom Himmel ist, und uns verlangt, dass wir damit überkleidet werden!
Die Tür schließt hinter uns und trennt uns für alle Ewigkeit von allen unseren Leiden, unsrer Trauer, unsrer Furcht, unsrer Müdigkeit, unsren Prüfungen, unsren Kämpfen, unsren Enttäuschungen, unserem Herzeleid und unserem Sehnen. Wir verlassen die Dinge, die uns beschweren und unterdrücken. Wir verlassen die Gesellschaft der Sünder und alle ihre gottlosen Taten, ihre bösen Worte und schlechten Einflüsse. Nie wieder werden wir verspottet oder verfolgt werden. Nie wieder werden wir ihr liebloses Richten hören, noch den Blick des Spottes und der Verachtung sehen. Die Dornen des Weges, das ermüdende und ängstliche Harren, den Kampf gegen das Böse, das tägliche Erdulden – alles dieses lassen wir zurück und die Tür wird hinter uns verschlossen.
Auf der andern Seite dieser Pforte wird keine Armut und Entbehrung mehr sein, denn dort werden uns die Reichtümer Gottes zuteil. Dort wird es kein Leiden mehr geben, denn wir werden in alle Ewigkeit von dem Baum des Lebens essen. Dort wird es keine Tränen geben, denn der Herr wird alle Tränen von unsren Augen abwischen. Dort wird auch kein Tod herrschen, sondern Leben, ewiges Leben. Ist es ein Wunder, dass der Christ den Tod nicht fürchtet? – Kein Wunder, dass er der Ewigkeit mit freudigem Erwarten und Sehnen entgegensieht! Kein Wunder, dass er von den ewigen Herrlichkeiten träumt und sich sehnt, dort zu sein! Kein Wunder, dass er sich nach dem Ende dieses Lebens sehnt! Wenn er das Jenseits erreicht, wird er von seiner Arbeit ruhen und die herrliche Belohnung der Heiligen im Lichte ererben. „O Tod, wo ist dein Stachel? O Hölle, wo ist dein Sieg?“
Lasst uns auch die andere Seite des Bildes betrachten. Der Sünder kommt nicht mit freudigem Mut zu dieser Pforte, sondern mit heimlicher Furcht und banger Vorahnung.
Ich lag in einem Krankenhaus. Die Abenddämmerung brach herein und in dem Dämmerlicht kam eine Krankenpflegerin leise in mein Zimmer und setzte sich hin. „Ich habe viele Leute in diesem Krankenhaus sterben sehen“,  sagte sie, „aber Christen sterben so ganz anders wie andere Leute. Gewöhnlich sterben sie so leicht und ruhig und sogar mit einem Lächeln auf ihrem Angesicht. Aber“,  fügte sie hinzu, „es ist ganz anders mit den Sündern. Ich habe viele Gottlose sterben sehen, und einige dieser Szenen waren entsetzlich. Oft sterben sie so schwer, kämpfen gegen den Tod bis zum letzten Augenblick und schrecken mit Furcht vor ihm zurück.“ Alle Krankenpfleger, Wärterinnen und Ärzte, sowie auch viele andere Leute könnten ähnliche Zeugnisse ablegen.
Aber ist es ein Wunder, dass der Sünder vor dem Tod zurückschreckt? Für ihn ist der Tod ein Ungeheuer, das ihn erfassen und hinunterziehen will. Für ihn gibt es kein Licht in dem finsteren Tal, das er durchschreiten muss, noch hat er einen Stecken oder Stab, sich zu trösten. Keine Hand führt ihn. Vor ihm liegt keine offene Tür zum Himmel. Alles ist Dunkelheit, Finsternis und Verzweiflung. Für ihn öffnet sich die Pforte in eine Welt der Finsternis, in eine Welt ohne Hoffnung und ohne Gott. Sein anklagendes Gewissen und sein Gedächtnis gehen mit ihm in die jenseitige, finstere Welt. O was für Begleiter das sind! Das Totengeläute über deine Seele ertönt und hallt wider in Klagetönen der Verzweiflung: „Der Zorn Gottes bleibt über ihm“; für ihn ist bereitet das „Dunkel der Finsternis in Ewigkeit“.
Diese Schilderung ist nicht übertrieben. Es ist genau das, was der Sünder zu erwarten hat, wenn er durch die Pforte der Ewigkeit schreitet. Außerdem trennt ihn die Pforte von allen Dingen, auf die er sein Vertrauen setzte und an welchen er seine Freude, seine Erquickung und seinen Trost in diesem Leben fand. Er verlässt alle seine Freunde. Nie wieder wird er ihre Stimme hören. Auch wird er nicht mehr den Klang der Melodien hören, die einst sein Ohr entzückten. Nie mehr kann er die Schönheit der Natur bewundern, noch den lieblichen Gesang der Vögel hören. Hinter der Pforte, die nun für immer geschlossen ist, muss er alle seine Besitztümer zurücklassen; Dinge, an denen er Genuss und Freude fand; all sein Geld, das er mühsam erarbeitete; alles, wofür er lebte. Des Christen Hoffnung reicht durch diese Pforte hinüber ins Jenseits. Aber des Sünders Hoffnung schwindet, sobald er die Pforte erreicht, und wenn er über die Schwelle schreitet, muss er alles zurücklassen.
Mein lieber Leser und Freund, was wird der stille Pförtner dir aufschließen? Was wird dein Lohn, dein Schicksal sein? Wirst du dich mit Furcht und Zittern nahen? Wird dein Gewissen dich anklagen? Wird dein Herz mit Furcht erfüllt sein? Oder kannst du diesem Augenblick mit dem Bewusstsein entgegensehen, dass mit deiner Seele alles wohl steht und dass der Tod seinen Stachel verloren hat? Das Ende steht dir bevor. Jede Minute und jede Stunde kommst du ihm näher. Hier gibt es kein Entrinnen, keinen Ausweg. Wie wirst du dieser ernsten, feierlichen und prüfenden Stunde begegnen? Nur dann kannst du ihr mutig und vertrauensvoll entgegensehen, wenn du deine Kleider gewaschen und hell gemacht hast im Blut des Lammes; wenn du hier ein gottesfürchtiges und ein Gott wohlgefälliges Leben führst; wenn dein Leben mit seinem Wort übereinstimmt. Nur dann wird das Öffnen der Pforte ein herrlicher Segen und nicht ein furchtbares Verderben für dich sein.
Wenn du noch nicht für jene ernste Stunde bereit bist, so zögere nicht, dich vorzubereiten. Christus sagt: „Kommet her zu mir...“. „Der Geist und die Braut sprechen: Komm!“ Die Stimme Gottes sagt: „Bereite dich und begegne deinem Gott“. Die Stimme deiner Vernunft wiederholt diese Worte. Die Stimme deines Gewissens redet mit allem Ernst zu dir. „Jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils!“ Jesus Christus hat am Kreuz sein Blut für dich vergossen. Der Preis für deine Erlösung ist bezahlt. Du brauchst nicht verloren zu gehen. Tue Buße für deine Sünden und gib Gott dein Herz. Glaube an seinen geliebten Sohn und gehorche seinem Wort. Siehe, was Gottes Sohn für dich getan hat! Er wurde um deiner Sünde willen verwundet und um deiner Missetat willen geschlagen. Er hat für dich gelitten, weil er dich liebt, und um dich mit Gott zu versöhnen. Folge seinen Fußstapfen, wandle im Licht seines Wortes. 
Wenn du dich dann der stillen Pforte näherst, so kannst du mit einem Lächeln auf deinem Angesicht, mit einem Freudenblick in deinen Augen und einem Triumphgesang in deinem Herzen ihr entgegensehen. Die Pforten der ewigen Herrlichkeit werden sich dann für deine erlöste Seele aufschließen und du wirst mit Siegesjubel einziehen können. O weise die angebotene Gnade und Barmherzigkeit nicht zurück! Widerstrebe nicht dem Heiligen Geist, damit nicht „Heulen und Zähneknirschen“ dein Teil in „der Finsternis in alle Ewigkeit“ sei!
                                                

Soll ich ohne Heiland sterben
Und verlieren meine Seel’?
Wenn der Tod kommt, es gewahren,
Dass das Ziel ich hab verfehlt?
Soll ich ohne Heiland sterben,
Achten seine Stimm’ nicht mehr?
Soll ich noch mein Herz verhärten,
Schließen selbst die Gnadentür?

Soll ich ohne Heiland sterben?
Trotz dem Licht, das er mir gibt,
Noch beständig ihn abweisen,
Der mich so unendlich liebt?

Soll ich ohne Heiland sterben?
Da die Heimat schon in Sicht,
Dennoch ewig sein verloren,
Fern von Gottes Angesicht?

Soll ich ohne Heiland sterben?
Keine Hoffnung ohne ihn!
Wenn ich ihm das Herz verschließe,
Kann er mich nicht zu sich ziehn!

Soll ich einst den Himmel erben,
Wo mir winkt die Lebenskron’,
Oder als ein Sünder sterben
Und empfangen Sündenlohn?