Wahrheit ist etwas Wunderbares. Wahrheit ist eine Kraft in sich selbst. Sie birgt etwas Überzeugendes, das in unsrem Herzen eine Antwort hervorruft. Aber nicht immer ist diese Antwort ein und dieselbe; denn was für eine Wirkung die Wahrheit auf uns ausübt, hängt ganz von der Stellung ab, die wir ihr gegenüber einnehmen. Sie mag uns angenehm sein oder nicht, erfreuen oder traurig stimmen; wir mögen sie annehmen oder zurückweisen, ganz gleich – Wahrheit bleibt Wahrheit! Wollen wir eine Wahrheit auch nicht anerkennen – sie wird dennoch Wahrheit bleiben.
Sind wir überzeugt, dass eine Sache, die uns begegnet, Wahrheit ist, so sollten wir sie ruhig hinnehmen. Gewiss, wir können eine Wahrheit verneinen und vielleicht eine Zeit lang unser Gewissen etwas beruhigen. Niemals aber vermögen wir sie so weit von uns zu weisen, dass sie uns früher oder später nicht wieder gegenübertritt, und wir sie entweder berücksichtigen oder die Folgen ihrer Nichtbeachtung auf uns nehmen müssen. Unsere Stellung zur Wahrheit, ob so oder so, wird die Wahrheit selbst keinesfalls beeinträchtigen, wohl aber beeinträchtigen wir uns selbst, wenn wir nicht die richtige Stellung zu ihr einnehmen. Darum ist es so sehr wichtig, letzteres wirklich zu tun.
Jesus sagt: „Dein Wort ist die Wahrheit“, und an anderer Stelle lesen wir: „Das Wort, welches ich geredet habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage“. Wir glauben den Worten unseres Heilands. Eben weil sein Wort Wahrheit ist, erweist es sich als unbedingt notwendig acht zu geben, dass wir ihm gegenüber die rechte Stellung einnehmen. Es steht geschrieben: „Die Liebe freut sich der Wahrheit“. Lasst uns bedenken: Wir sind nur in der Liebe, wenn wir uns der Wahrheit freuen. In der Liebe freut sich unser Herz über jede göttliche Wahrheit. Wir erkennen, dass Wahrheit unsre Stärke ist, ja, der Glaube an die Wahrheit des Wortes Gottes ist unsre einzige Hoffnung zur Seligkeit. Lass dir Gottes Wort rauben und sieh, was dir noch bleibt – was hast du dann noch in der Zukunft, was im gegenwärtigen Leben?
Der Psalmist sagt: „Ich hoffe auf dein Wort“. In Röm. 15,4 redet der Apostel vom Trost der Schrift. David sagt: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“. An diesem Wort können wir uns halten, es ist uns eine Stütze. Es führt uns durch alle Zweifel, durch alle dunklen Stunden und ist uns ein wunderbarer Trost.
Dennoch kann es sein, dass wir gewisse Wahrheiten der Schrift nicht gerne hören, dass uns eine Wahrheit lästig oder unbequem ist oder dass wir vor ihr zurückschrecken. Wahrheiten können uns wie Dornen stechen und zwicken und keine Ruhe lassen. Lasst uns einmal ganz nüchtern untersuchen, ob es nicht irgendeine göttliche Wahrheit gibt, vor der auch wir zurückschrecken. Im Leben können wir zwar vor manchem zurückschrecken, was mit unserer Stellung zu Gott gar nichts zu tun hat. Weichen wir aber vor göttlichen Wahrheiten zurück, so können wir uns nicht entschuldigen; denn es gibt keine göttliche Wahrheit, die uns nicht zum Nutzen und zum Fortschritt dienen könnte. Jede Wahrheit Gottes bringt uns eine Stufe höher in der Erkenntnis, sofern wir uns mit ihr in Übereinstimmung bringen; dann kann sie uns niemals verletzen.
Ich weiß ganz genau, warum manche Leute manche Wahrheiten nicht gerne hören. Der Grund liegt sehr nahe. Sie nehmen sie nicht an, das heißt, sie sind nicht willig, sich mit ihr in Übereinstimmung zu bringen. Unter solchen Umständen sticht und zwickt uns die Wahrheit, darum weisen wir sie lieber weit, weit von uns. Solange wir sie nicht annehmen, ist sie uns unangenehm.
Ich erinnere mich eines Bruders, der eine Zeit lang die Predigten nicht ertragen konnte. Sie reizten ihn. Er wurde ärgerlich auf den Prediger, ärgerlich auf die Gemeinde, ja, ärgerlich auf die Bibel. „Aber jetzt ist alles anders“, sagt er, „ich habe die Wahrheit angenommen, bin errettet worden und richte mein Leben nach der Wahrheit aus. Jetzt freue ich mich der Wahrheit. Sie ist meiner Seele überaus köstlich.“
Wir können die Wahrheit nicht beseitigen, so wie wir einen Dorn aus unserem Finger ziehen. Wahrheit bleibt, und wo sie hineingedrungen ist, wird sie fort und fort quellen, so oft wir ihrer gedenken, bis wir sie annehmen und uns mit ihr in Übereinstimmung bringen.
Es gibt viele Leute, die gewisse Wahrheiten des Wortes Gottes nicht gerne predigen hören. Es ist ihnen sogar unangenehm, wenn Brüder oder Schwestern Wahrheiten in ihren Zeugnissen zum Ausdruck bringen. Der Grund liegt einfach darin: Sie bringen sich mit diesen Wahrheiten nicht in Übereinstimmung; nur daher sind sie ihnen unangenehm und unbequem.
Unangenehmes und Unbequemes aber sucht der Mensch immer zu umgehen. Andere freuen sich und jauchzen über dieselbe Wahrheit. Alle paar Tage bekomme ich einen Brief, worin ich für irgend etwas, das ich geschrieben habe, kritisiert werde. Erst vor wenigen Tagen erhielt ich ein Schreiben von einem Mann, der mich einer gewissen Sache wegen, die ich geschrieben hatte, arg verdammte. Mit derselben Post kam ein Brief von einem anderen, der mir seinen herzlichen Dank für denselben Aufsatz aussprach. Seine Seele hatte sich so recht daran erquicken können. Der Unterschied war nur der: der eine nahm die Wahrheit an, die in diesem Artikel zum Aus- druck gebracht war, der andere – nicht. Um sich zu verteidigen, musste letzterer den Aufsatz verdammen. Aber wir werden die Wahrheit nicht los, wenn wir sie verdammen, auch können wir uns nicht der Pflicht entheben, uns mit ihr in Übereinstimmung zu bringen.
Es dürfte gut sein, eine strenge Selbstprüfung vorzunehmen. Was hören wir eigentlich in einer Predigt gern? Was lesen wir gern? Doch nur Dinge, die wir bereit sind anzunehmen. Wird von unserer Pflicht gepredigt, die wir unseren Geschwistern gegenüber haben, wird uns irgendeine goldene Regel vor Augen gehalten, wie ist dann unsere innere Erwiderung? Finde aus, welche Wahrheiten dir nicht gefallen. Sei ehrlich zu dir selbst, schaue in dein eigenes Herz und untersuche, warum du diese oder jene Wahrheit nicht gerne hörst. Beseitige den Grund, der dir hindert, die Wahrheit anzunehmen, dann wirst du dich der Wahrheit freuen.
Gibt es gewisse Gebote Gottes, die du gerne verkündigen hörst und andere, die lästig sind? Stelle dich nur unter sie alle, und sie werden dir alle gefallen. Du hörst nicht gerne übers Vergeben predigen, wenn du in deinem Herzen Groll gegen jemand hegst. Du hörst nicht gern über Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit predigen, wenn du irgendwo nicht recht gehandelt und dich in zweifelhafte Geschäfte verwickelt hast, an die du jetzt nicht gern erinnert werden möchtest. Du hörst nicht gern über Freundlichkeit predigen, wenn du unfreundlich gewesen bist oder lieblose Gedanken dein Herz bewegen. Solche Predigten gehen dir zu nahe, sie greifen dich an. Bringe dich mit ihnen in Übereinstimmung, dann wirst du solcher Predigt mit Freuden lauschen.
Manche Leute hören nicht gern gegen Hochmut predigen. O nein, sie sind doch gar nicht stolz, nicht hochmütig, natürlich nicht; dennoch nehmen sie es dem Prediger bitter übel, dass er es wagen konnte, über solch einen Punkt zu reden. Warum aber? Eben weil sie dieser Sache schuldig sind. Stolz und Hochmut bringen Millionen von Menschen ins Verderben; deswegen ist es so sehr wichtig, dass die Prediger diesen Punkt immer wieder einmal berühren. Jeder treue und wachsame Gottesdiener wird das tun. Natürlich sollte er weislich dabei sein. Predigt er unweise gegen Stolz und Hochmut, dann werden wir uns nicht des Mangels an Weisheit freuen, der sich offenbart, aber wir können und wollen uns der Wahrheit freuen, wenn wir ihr entsprechen.
Manchmal sagen Leute: „Ich brauche das nicht auf mich zu beziehen, ich bin ja in Ordnung in diesem Stück, aber Freund soundso ist dadurch sehr verletzt worden“, und so tadeln sie den Prediger, weil er jemand „verletzt“ hat. Liegt der Fehler aber an der Wahrheit? Wir sollten in unserem Herzen das Verlangen tragen, dass sich jedermann mit der Wahrheit in Übereinstimmung bringt, und sollen der Wahrheit getrost ihren Weg lassen und niemand verteidigen, der sich ihr nicht unterstellt. Ist uns das Predigen der Wahrheit aus irgendeinem Grunde unbequem, so sollen wir die Ursache suchen, bis wir sie finden und loswerden können. Denn irgendwo ist etwas, dem wir uns noch nicht in voller Aufrichtigkeit unterstellt haben.
Mancher sagt: „Der Prediger hatte es heute nur auf mich abgesehen. Er wird zu persönlich.“ In vielen Fällen aber hat der Prediger überhaupt nicht an den Betreffnden gedacht. Er wusste nicht, dass er eine wunde Stelle berührte. Anstatt den Prediger zu tadeln, sollten wir die wunde Stelle zur Heilung bringen. Viele Leute gleichen jenem Mann, den man drängte, zum Arzt zu gehen, sein Herz untersuchen zu lassen. Er antwortete: „Wenn ich ein Herzleiden habe, will ich’s nicht wissen.“ Wüsste er’s aber, so könnte er sich schonen und sein Leben einige Jahre länger erhalten. Kennen wir unsere geistlichen Schwierigkeiten, so können wir ernste Folgen vermeiden. Wir sollten froh sein, herausfinden zu dürfen, wenn mit uns etwas nicht in Ordnung ist.
Manche Leute klagen, wenn der Prediger einmal von Geldangelegenheiten spricht. Wer ist aber daran schuld, dass auch über diesen Punkt so oft etwas gesagt werden muss? In der Hauptsache die, die darüber klagen. Kämen sie ihren Pflichten treu nach, so würde es kaum nötig sein, diese Sache oft zu erwähnen. Aber darin liegt gerade die Schwierigkeit: Sie tun nicht ihre Pflicht. Deswegen stoßen sie sich an jedem Aufruf, wie sie sich an jeder anderen Wahrheit stoßen, nach der sie ihr Leben nicht ausrichten wollen. Diejenigen, die im Geben nachkommen, tadeln nicht so sehr den Prediger für die Aufrufe, sondern tadeln eher die, die zu den Aufrufen Anlass geben. Sie mögen der Aufrufe müde werden, aber sie wissen, wo der Fehler liegt.
Ganz gleich, welcher Art die Wahrheiten sind, die uns lästig und unbequem erscheinen – der Grund und die Ursache hierzu liegt nicht in der Wahrheit, sondern in uns. Lasst uns sie annehmen, so werden sie uns alle lieb und wert sein. Dann können wir den Trost der Schrift haben, den Trost des Dienstes der Diener Gottes, den Trost der Wahrheit, unbeachtet von wem und woher sie kommt. Dann werden wir auch die Liebe haben, die sich der Wahrheit freut.