Entstehung der Gemeinde in der Heimat

Meine Verwandten und die Gläubigen in der Heimat (Andrejewka, Wolhynien) hatten durch mein Schreiben und durch die Literatur, die ich ihnen sandte, schon erfahren, dass ich in der Meinung, die ich schon früher immer vertrat und andeutete, Fuß gefasst hatte. Für sie gab es nun eine Entscheidung. Entweder mussten sie mit mir oder gegen mich gehen. Aus dem Grund prüften sie alles genau. Meine Schwester Emilie, die auch gläubig war, erkannte bald die Lehre der Gemeinde Gottes und sagte, nachdem ich manches mit ihr gesprochen hatte: „Das ist die Wahrheit! Du hast uns biblisch bewiesen, dass man ein heiliges Leben führen muss.“ Auch mein Bruder Eduard sagte: „Du überzeugst mich, ich kann nichts dagegen sagen. Es scheint alles mit der Heiligen Schrift übereinzustimmen. Aber um sicherer zu sein, möchte ich gern, dass du in meiner Gegenwart mit erfahrenen und gelehrten Männern darüber sprichst. Wenn diese dir nichts widerlegen können, dann könnte ich dir noch besser glauben.“

Kurz darauf ging ich eines Sonntagabends mit meinem Bruder und meiner Schwägerin die Dorfstraße entlang. Nahe an der Straße stand ein Haus. Die Tür war offen und wir sahen drinnen eine Anzahl Männer versammelt. Beim Vorübergehen sagte ich zu meinem Bruder: „Hier möchte ich dabei sein!“ „Ist das dein Ernst? Würdest du es wagen hier hereinzugehen?“, fragte er mich. „Ja“, gab ich zur Antwort, „mit meinem Gott und dieser kleinen Bibel habe ich keine Furcht!“ Gesagt, getan. Wir begleiteten meine Schwägerin nach Hause und eilten wieder zurück. Einerseits ging ich nicht so gern hin. Es widerstrebte meinem Empfinden, sie bei ihrer Bibelbetrachtung zu stören. Vor allem wollte ich vermeiden, dass sie über uns unwillig würden. Aber meines Bruders wegen wagte ich es und wir gingen hinein. Als die Versammelten uns sahen, schlossen sie sofort ihre Bücher und wurden still. Auch sie hatten bereits von mir gehört. Und zum Teil kannten sie mich, weil meine Eltern, die Verwandten und auch ich schon mehrere Jahre in diesem Ort gelebt hatten. Mich entschuldigend, sagte ich ihnen, dass sie sich doch nicht stören lassen möchten, sondern mit ihrer Unterhaltung fortfahren. Aber daraufhin wurden sie noch stiller.

Ich wusste schon, dass ich in ihren Augen zu jung war, um an ihrer Unterhaltung teilnehmen zu können. Da sie noch immer still waren, fragte ich nach einer Weile, was für einen Gedanken sie besprochen haben. Es war mir ja nicht entgangen, dass sie vorher ihre Bücher offen hatten. Einer von den Jüngeren, der recht aufrichtig zu sein schien, sagte schließlich: „Wir behandelten Daniel Kapitel 12, wo von dem Versiegeln bis auf die letzte Zeit die Rede ist“.

Im Stillen dachte ich, dass dieses einen guten Anknüpfungspunkt geben könnte. So nahm ich mir die Freiheit, sie in bescheidenem Ton zu fragen, was sie aus dieser Stelle schlossen. Aber keiner meldete sich. So antwortete schließlich wieder derselbe Bruder und sagte: „Wir verstehen darunter, dass das Versiegelte erst zur letzten Zeit geöffnet werden wird“. Daraufhin fragte ich ihn, wann wohl die letzte Zeit sei, und er antwortete: „Wir waren noch nicht ganz mit der Sache fertig; aber wir glauben, am Ende der Welt“.

Damit schienen für sie alle Fragen beantwortet zu sein. Mir aber war es, als hätte der Herr mir plötzlich etwas in die Hände gegeben. Ich wurde ganz frei und fing an davon zu zeugen, wie ich es verstand. Und zwar dass das Siegel durch den Löwen, unseren Heiland Jesus Christus, gebrochen wurde und das Buch geöffnet ist. Ich las ihnen einen Abschnitt aus Offenbarung 5 vor und bezeugte mit der Hilfe Gottes, dass schon seit dem ersten Pfingsttage das Siegel oder das Geheimnis der Erlösung, das Geheimnis des heiligen Lebens und das Geheimnis der Einheit aller, die in Christus Jesus sind – den Gläubigen aus allen Völkern – geöffnet sei. Nun können wir auch das neue Lied singen, von dem in Offenbarung 5 geschrieben steht. Weiter bezeugte ich, dass das schon eine alte Wahrheit sei, die die ersten Christen wohl verstanden hätten. Aber sie sei im Laufe der Jahrhunderte verdunkelt worden. Doch Gott sei nun an der Arbeit, über all die herrlichen Dinge Licht und Klarheit zu schenken, um die Einheit seines Volkes wieder herbeizuführen.

Da unterbrach mich einer dieser Männer und sie ließen mich nicht mehr weitersprechen, bis mehrere Zuhörer forderten, dass man mich doch zu Ende reden lassen sollte. Trotzdem schrien einige dazwischen: „Das ist falsch! Wo bleibt denn die letzte Zeit, von der in Daniel die Rede ist?“

Als mir wieder ein wenig Gelegenheit zum Reden eingeräumt wurde, zeigte ich ihnen mit der Hilfe Gottes mit ganzem Ernst, dass wir uns schon seit Christi Kommen in der letzten Zeit befinden. Wie es auch in 1.Petr. 1:20 heißt von Jesus, dass er wurde „offenbart zu den letzten Zeiten“; das heißt also, dass der Herr Jesus in der letzten Zeitperiode gekommen ist. In Hebräer 9:26 und 1.Kor. 10:11 wird ja auch die ganze Zeit des Evangeliums wörtlich das „Ende der Welt“ genannt.

Daraufhin trat etwas Ähnliches in Erscheinung wie zur Zeit, als Luther nach Worms kam: Einige waren für Luther, einige für den Papst. So teilten sich auch hier die Meinungen in zwei Parteien. Wir nahmen Abschied, baten um Entschuldigung und gingen nach Hause. Mein Bruder sagte sogleich: „Ich bin überzeugt!“ Und er hat sich auch bemüht, andere zu überzeugen. In der Tat schien es, dass der Herr diese schlichten Worte benutzt hatte, um in manches Herz Lichtstrahlen der lebendigen Wahrheit fallen zu lassen.

Kurz nach dieser Begebenheit sprach mein Bruder mit einem seiner Kunden – einem deutschen Kolonisten namens Abraham – über die Gemeinde Gottes. Diesem ging das zu Herzen und er wünschte eine Aussprache mit mir. So gingen wir dann noch an demselben Abend zu ihm hin und hatten eine gute Unterhaltung. Er sagte, dass er beten würde und den Herrn bitten, ihm das rechte Licht hierüber zu schenken.

Und wunderbar hat der Herr es ihm in dieser Nacht in einem Traum gezeigt. Er sah sich darin in tiefem Schmutz und Morast. Er lag in seinem Zimmer und konnte nicht aufkommen. Er quälte sich deshalb lange, aber vergebens. Bei einem Blick zum Fenster sah er mich dort stehen. Ich hatte ein großes weißes Papier in der Hand, darauf stand in großen Buchstaben: „Glaube nur!“ Von dieser überzeugenden Antwort in seinem Innern ergriffen, bat er mich, in seinem Haus eine Versammlung zu halten. Er gab sich unbeschreibliche Mühe, ging in der großen Kolonie, in der die Häuser weit voneinander standen, zu jedem Haus und lud die Leute zu einem Gottesdienst bei ihm ein.

Meine Verwandten begleiteten mich zu dieser Versammlung. Wir waren freudig überrascht, als wir bei unserer Ankunft die Räumlichkeiten mit Menschen überfüllt sahen. Wir hatten höchstens mit 10 Besuchern gerechnet. Nachdem wir einige Lieder aus der „Evangeliumsklänge“ gesungen und gebetet hatten, erzählte Abraham von seiner wunderbaren Begegnung mit der wahren Gemeinde Gottes. Dann sprach ich kurz und noch ehe ich mit der Rede fertig war, fingen schon Menschen an, den Herrn zu suchen. Darunter auch Abrahams Vater und etliche seiner Geschwister.

Die Neubekehrten sowie auch andere waren von den Wirkungen und den Wundertaten Gottes überzeugt und baten, dass wir noch einmal zusammenkommen möchten. Und so hielten wir dann an mehreren Abenden in Abrahams Hause Gottesdienste, die besser als Gebetsstunden zu bezeichnen wären. Denn an jedem Abend suchten Seelen den Herrn.

Die Versammlungen hörten nicht auf. Wir hatten immer wieder Zusammenkünfte und der Herr bewies sich bei manchen Suchenden ganz wunderbar. – Nicht allein darin, dass sich Menschen versöhnten, die schon jahrelang in Unfrieden gelebt hatten. Der Herr bewies sich mächtig auch in wunderbaren Heilungen. Die Geschwister waren voll Lobes und Dankes.

Nach einem Gottesdienst erzählte uns Bruder Schulz, der durch einen Bruch viel zu leiden hatte, er hätte eines Abends in einer Versammlung Glauben bekommen, dass der liebe Gott ihn heilen kann. Auf seinem Heimweg stieg er dann in einen Graben und rang dort im Glauben mit Gott. Und Gott heilte ihn plötzlich von seinem Leiden! Solche und ähnliche Erfahrungen wirkten mit und trugen zum Aufbau des Werkes bei. Auch andere erzählten, dass der Herr sich bei ihnen so mächtig erwiesen hätte. Kranke, die von den Menschen schon aufgegeben waren, riss Gott aus der Hand des Todes und schenkte sie den Angehörigen wieder, zum Teil auch vollkommen gesund.

Das Werk Gottes nahm jetzt von Tag zu Tag zu und zu den Versammlungen kamen immer mehr Besucher. Ich aber gehörte zu dieser Zeit noch immer der Gemeinschaft an, in der ich mich bekehrt hatte.

Kurz nachdem ich vom Kaukasus zurückgekehrt war, hatten sich einige geäußert, dass sie mit mir und meinen Heiligungspredigten nicht einverstanden seien. Eines Tages wurde ich beauftragt, eine Frau zu beerdigen. Aber gleich am nächsten Tag wurde das wieder abgesagt. Der Grund war, dass sich einige ausgesprochen hatten, dass ich für sie überhaupt nicht mehr predigen soll. Bruder Lach, einer der ältesten Brüder, und andere, die nun gebeten wurden, das Begräbnis durchzuführen, sagten: „Wenn euch Bruder Malzon nicht gut genug ist, dann sind wir euch auch nicht gut genug“. Es gab dann erst einige Schwierigkeiten, ehe diese Frau beerdigt wurde.

Dann kam die Gemeindestunde. Ich bat einige, sie möchten doch bewirken, dass ich auch in die Gemeindestunde geladen würde. Es wurde mir auch versprochen. Aber als der älteste Prediger kam, erlaubte er es nicht. Es sollte nämlich über meinen Ausschluss verhandelt werden. Wie mir nachher erzählt wurde, sollten nach längeren stattgefundenen Erörterungen alle diejenigen ihre Hände aufheben, die für meinen Ausschluss seien. Aber es fand sich niemand. Der Prediger sprach nun noch einmal, brachte die verschiedenen Gründe vor und sagte den Versammelten, wenn sie es heute nicht durch Handaufheben bekunden wollen, würden sie alle nach dem Gemeindeort geladen, der 70 km entfernt war. Und darüber waren manche etwas erschrocken, die Reise schien ihnen doch zu beschwerlich. Der Prediger ließ noch einmal abstimmen. Und so waren es sechs Personen aus beinahe hundert anwesenden Mitgliedern.

Schwester Schmidt bat, noch etwas sagen zu dürfen. Es wurde ihr erlaubt. Sie sagte etwa Folgendes: „Dieser junge Bruder hat sich, nachdem er sich bekehrte, sehr um unsere Kinder und Jugend bemüht und sie unterrichtet. Auch hat er andere Arbeiten in der Gemeinde getreulich getan. Bis jetzt konnten wir nichts gegen ihn sagen. Und nun, da er uns ein tieferes, geistlicheres Leben bringt, jetzt wollen wir ihn ausschließen?“ Man unterbrach sie und sie geriet in lautes Weinen.

Auch meine leibliche Schwester sagte beim Herausgehen zu anderen: „So weit ist unsere Gemeinde gekommen, dass sie die Kinder Gottes ausschließt“. Und viele andere meinten: „Wenn sie diesen Bruder ausschließen, dann gehen wir auch“. Und so war es. Bald hatten wir noch eine so große Versammlung, dass die Räumlichkeiten in den Privathäusern nicht mehr ausreichten.