Von Ludwig Metzler, Süddeutschland

Es war ungefähr in den Jahren 1910-1912, als der Herr mir ganz besonders nahe kam. Damals wussten wir noch nichts von der Gemeinde Gottes. Meine Mutter starb, als ich fünf Jahre war. Von meinem Vater wurde ich streng erzogen und zum Gebet angewiesen.

Ich war ein lebensfroher junger Mensch, liebte auch das Wort Gottes und ging fleißig zur evangelisch-lutherischen Kirche. Sonntagabends besuchte ich noch die schwedische Missionsversammlung. Diese Versammlung wurde von schwedischen Missionaren unterhalten und sollte hauptsächlich unter den Mohammedanern und Armeniern das Christentum verbreiten. Der schwedische Missionar Sarvey forderte mich eines Abends auf, von meiner inneren Erfahrung zu zeugen. Dieses gab mir Anlass, fleißiger und andächtiger meine Bibel zu lesen und darüber nachzudenken. Die Versammlung bei den Schweden wollte ich nicht lassen, ich liebte sie und sie brachte mir Segen.

In jener Zeit besuchte ich auch noch andere Versammlungen, so wie der Baptisten, Molokaner, Adventisten und auch der Pfingstleute. Die Adventisten gaben sich besonders Mühe, mir die Hölle heiß zu machen. Sie prägten mir ein: Wenn ich den Sabbat nicht halte, dann wäre ich verloren. Zuletzt würde Feuer vom Himmel fallen und die Widerspenstigen verzehren. Ich wollte aber selig werden und sie wandten alles an, mich zu sich herüberzuziehen. Es kam dann für mich eine Zeit, wo ich „entweder – oder“ sagen musste, denn die innere Unruhe war bis aufs Höchste gestiegen. Gerade in jener Zeit schickte der Herr den Bruder Rudolf Zacharias von Baku nach Tiflis. Er musste dort eine Beschäftigung annehmen, um mir mit des Herrn wunderbaren Hilfe aus der Not zu helfen. Dieser Bruder war älter und erfahrener als ich, war früher Mitglied der Baptistengemeinde gewesen und diente auch oft am Wort.

Als Bruder Zacharias noch in Baku wohnte, waren ihm von einem Bruder aus der Gemeinde Gottes, welcher in Romanowka (Nordkaukasien) wohnte, „Evangeliums-Posaunen“ zugeschickt worden, die zu jener Zeit in Anderson (USA) herausgegeben wurden. In einer dieser Posaunen stand ein Abschnitt über das Zusammentreffen eines Bruders der Gemeinde Gottes mit einem Baptistenprediger. Zu welchen Auseinandersetzungen und wie weit es kam, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich weiß nur, dass Bruder Zacharias durch das Lesen dieses Aufsatzes empört war und sofort einen langen Brief nach Anderson schrieb. In diesem widersetzte er sich manchen Äußerungen und verlangte Erklärung hierüber. Die Brüder in Anderson ließen sich dies nicht zweimal sagen und schrieben an Bruder Zacharias einen aufklärenden Brief, der alle seine Fragen zufriedenstellend beantwortete. Sie schickten ihm auch noch Pakete mit Büchern, „Evangeliums-Posaunen“, Traktaten und Gesangbüchern. In dem Brief stand auch unter anderem: „Wir haben für dich gebetet“. Der Inhalt des Briefes und der Pakete gaben dem Bruder Zacharias viel zu denken.

Bruder Zacharias ist ein sehr lieber Mensch, einer, der viel liest, denkt und schreibt. Er wurde von den ihm zugesandten Schriften und der Wahrheit völlig überzeugt. Nun war seines Herzens Wunsch, in dieser Stadt einen gleichgesinnten Bruder zu finden. Als er so, bekümmert darüber, durch die Straßen von Tiflis wanderte, kehrte er bei einer ihm gut bekannten, gläubigen Familie ein. Die Familie gehörte auch zu der schwedischen Versammlung. Diese erzählten ihm bedauernd von einem Mann, den die Adventisten in ihr Werk genommen haben, und der unbedingt gerettet werden sollte. Tiefbesorgt, diesen Mann zu finden, ging Bruder Zacharias auf der Michaelisstraße gerade an meinem Blumengeschäft vorüber und las auf dem Schild meinen Namen. Er dachte bei sich: „Mit einem Metzler bin ich doch in der Schule zusammen gewesen. Ist es der, dann wird er mich wohl hören wollen. Wie er mir später erzählte, hatte ich auf ihn keinen ermunternden Eindruck gemacht. Ich hätte auch keine Zeit gehabt, da ich eilige Bestellungen hatte. Doch die erste Bekanntschaft war gemacht. Bruder Zacharias hinterließ mir eine „Evangeliums-Posaune“. Das war wieder etwas Neues für mich. Allerdings enthielt sie nichts von Gesetz und Sabbat, aber von den Folgen der Sünde und von einem heiligen Leben las ich viel. Nun hatte ich wieder zu grübeln und zu denken, doch ich fand mich nicht zurecht. Bruder Zacharias nutzte jede freie Zeit dazu aus, um mit mir zu reden. Er besuchte mich und brachte mir Traktate und Bücher zu lesen. An den Sonntagen ging er überall mit mir hin, wo ich hinwollte: zu den Baptisten, in die lutherische Kirche, zu den Schweden, Adventisten, Molokanern und auch zu den Pfingstbewegungen. Jedes Mal gab es dann viel zu reden, zu beten, die Knie zu beugen. Nach einer jeden Versammlung, die wir besuchten, gab es immer wieder neue Gedanken auszutauschen. Er suchte mich von der Wahrheit, die uns nicht zu knechten, sondern freizumachen sucht, zu überzeugen. Und wir gewannen uns gegenseitig lieb. Oft besuchte mich Bruder Zacharias im Garten, wo wir miteinander unsere Knie beugten und anbeteten – ob es im Gewächshaus, unter einem Baum, beim Verpflanztisch oder sonst irgendwo war. Ich denke oft an jene herrlichen Stunden. Wir wollten aber nicht alleine bleiben. Meine Frau gesellte sich auch zu uns. Und auf wunderbare Weise schenkte der Herr uns auch meinen Freund, der zu den Baptisten- und Adventistenversammlungen ging, Hermann Grötzinger.

Für uns galt auch in jener Zeit das Wort aus Matth. 18:19-20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ In jeder freien Stunde waren wir zusammen, wurden echte Freunde und sind es bis zum heutigen Tag geblieben. Leider hat uns das Schicksal so hart auseinandergerissen. Wir sangen gern und lernten auch langsam die Lieder aus der „Evangeliums-Klänge“. Meine Frau und ich hatten schon im lutherischen Kirchenchor mitgesungen, desgleichen auch Grötzinger und seine Frau.

Durch das Lesen der „Evangeliums-Posaune“, der Traktate und Bücher, die Bruder R. Zacharias aus USA bekam, erlangte ich immer mehr Erkenntnis und fing an, für die Sache zu eifern. Es gelang mir auch, meinen Vater zu gewinnen. Das leidenschaftliche Rauchen sah er bald als Sünde an, gewöhnte sich aber an einen übermäßigen Bonbongebrauch. Auch hierüber schenkte der Herr ihm ein klares Verständnis. Er wurde von den versklavenden Dingen frei und wir lebten miteinander in süßem Frieden.

Im ereignisvollen Jahr 1914 las Bruder Zacharias in einer Frühjahrsausgabe der „Evangeliums-Posaune“, dass die Brüder im Nordkaukasus einen Bruder aus Amerika erwarten. Und sie luden zugleich für eine bestimmte Zeit alle Geschwister und Freunde der Wahrheit zu diesen Versammlungen ein. Gern wäre unser liebe Bruder Zacharias der Einladung gefolgt. Und am liebsten hätte er uns alle mitgenommen. Aber seine Maschinen konnte er niemandem überlassen und die Eisenbahn brauchte Licht. Auf unseren schriftlichen Wunsch kam dann der Ausländer – Bruder Ebel – über den Bergesrücken und über Baku zu uns. Am 1. Juli 1914 holte Bruder Zacharias Bruder Wilhelm Ebel und seine liebe Frau, Schwester Anna Ebel, in Tiflis vom Bahnhof ab. Ebenso auch den Bruder Heinrich Schock – eine junge, hohe Gestalt und einen lieben, ernsten, tiefgründigen Bruder. An dem konnte ich wirklich feststellen, dass er ein geheiligter, gottgeweihter Mensch war. Er war eine liebe Seele aus dem Odessagebiet.

An jedem Abend hatten wir dann Versammlungen, einmal bei Bruder Zacharias, einmal bei uns. Die Predigten von Bruder Ebel waren durchdringend. Seine Freudigkeit und sein Elfer durchdrangen bei mir Seele und Leib. Besonders, als er mit seiner Bass-Stimme und seine Frau mit erhobener Hand das Lied Nr. 9 sangen: „Wie herrlich ist’s hienieden!“ Da überkam mich ein heiliger Ernst. Ich fühlte mich so elend und so arm. Und der Bruder stand in meinen Augen so groß, trotz seines kleinen Wuchses. Ich fand ihn als einen überaus glücklichen Menschen und hegte den Wunsch, auch so zu sein, wie er es war. Heute noch strafe ich mich, dass ich ihm damals nicht mehr Geld mitgab. Wie töricht handelt der Mensch doch so oft in seinem Leben. Bruder Ebel war nicht weniger als 20 Tage unter uns. Er predigte in der Zeit mit Wort und Wandel, denn er war demütig und anspruchslos. Ich kann sagen, Bruder Ebel war ein Mann von altem Schlag, ernst und entschieden. Wir haben auch heute noch solche Männer nötig.

Die Zeit unseres Zusammenseins mit Bruder Ebel ist für uns und das Werk eine gute Hilfe und Gelegenheit gewesen. Ein Anfang war gemacht. Am 20. Juli wurden die ersten vier Brüder getauft: die Brüder Zacharias und Grötzinger, mein Vater und ich. Ich denke noch heute an mein damaliges seliges und glückliches Empfinden. Wir feierten mit Geschwister Ebel am vorletzten Tag das Mahl und zum ersten Mal Fußwaschung. Und am Tage der Kriegserklärung begaben sie sich auf den Weg. Bruder Ebels letzte Worte waren: „Ihr werdet euch unter euch selbst vermehren!“ Und so war es auch, es kamen nach und nach immer mehr hinzu. Etliche von unseren Lieben wagten noch nicht so bald den Schritt ins Wassergrab. Auch bei meiner Frau dauerte es noch 7 Jahre, bis sie sich durchgekämpft und zu diesem Schritt entschlossen hatte.

Nun waren Geschwister Ebel von uns fort, aber die Ermahnungen und Ermutigungen sind uns geblieben. Wir hatten durch die Hilfe Gottes jeden Sonntag regelmäßig Versammlung. Und der Herr gab den Mut, die Entschlossenheit und seinen Segen dazu.

Weil wir im Zentrum der Stadt wohnten, wurde die Versammlung zu uns verlegt. Schwester Julia Grötzinger war Musiklehrerin und da hatten wir jede Woche einmal bei ihnen Singstunde. Wir übten an manchen Abenden 2 bis 3 Lieder ein, worüber wir uns riesig freuten. Der Herr wusste, warum er uns auch dieses schenkte. Denn gerade durch den Gesang wurden so allmählich unsere Familien miteingezogen. Und es währte nicht lange, da bekehrte sich eins nach dem anderen. Genau weiß ich nicht mehr, wer der Erste war, aber doch waren es die Glieder unserer Familien. Bruder Grötzingers Frau, meine älteste Tochter Adele, dann mein zukünftiger Schwiegersohn Fritz Ohngemach. Auch bald darauf Bruder Grötzingers Kinder, meine Tochter Olga und meine Frau. Nach zwei Jahren hatten wir schon eine ganz hübsche Versammlung, voller Geist und Leben.

Der Krieg aber wütete und die Lage verschärfte sich immer mehr und mehr. Der Deutschenhass wuchs. Eines Tages kam ein Gesetz heraus, dass niemand auf der Straße deutsch sprechen durfte. Doch unsere Gottesdienste wurden immer ernster und segensreicher. Ach, was für eine Liebe herrschte unter den Geschwistern, sie waren ein Herz und eine Seele!

Die deutschsprechenden Soldaten wurden plötzlich von der Westfront an die Südfront versetzt. Nach Tiflis (Transkaukasus) war das Zentrum des Kriegshospitals verlegt worden. Die Gläubigen aus Wolhynien, der Krim und aus dem Wolgagebiet, die an der Westfront in den Schützengräben lagen, kamen von da herüber an die türkische Front. Wie ein Lauffeuer hatte es sich unter den Brüdern verbreitet, dass wir zweimal in der Woche Gebetsgottesdienste haben. Unter dem Kriegsvolk erwachte ein Hunger und Durst nach dem Wort Gottes. Herrlich erschallten die Lieder und Zeugnisse von manchen Soldatenbrüdern. Sie lobten den Namen des Herrn unter Freudentränen. Wir können es als ein Wunder Gottes bezeichnen. Denn gerade in dieser Zeit, als der Hass gegen die Deutschen groß war, versammelten wir uns und sangen aus voller Brust Lieder in deutscher Sprache. Unser Saal war gefüllt mit Soldatenbrüdern. Zum Glück hatte sich unser Hauswirt – ein Syrier – dessen Mutter eine Deutsche war, auch bekehrt. Er bekannte auch, dass Gott ihn geheilt habe. Mit unseren Nachbarn lebten wir in Frieden. Und so hat uns niemand gestört oder angezeigt. Manch ein lieber Soldat bekam Trost und zog fröhlich und mit neuem Gottvertrauen seine Straße.

In dieser herrlichen Zeit lernten wir auch einen lieben Bruder Samuel Ulmer kennen. Er war im Kriege verschont geblieben, aber hernach von einer feindlichen Kugel der aufständischen Tschetschener im Nordkaukasus getötet worden. Im Übrigen hat uns der allmächtige Gott in jeder gefahrvollen Zeit bewahrt und beschützt. Das Wort bewahrheitete sich bei uns: „Euch geschehe nach eurem Glauben!“ Wir vertrauten dem, der uns beschützte. Um kein Aufsehen zu erregen, ließen wir die Versammelten immer nur zu zweit heraus.

Unsere Versammlung wurde groß und wir mieteten einen größeren Saal. Der Herr fing an, auch unter den Russen zu arbeiten. Dazu eignete sich Bruder Zacharias besonders und er setzte seine Kräfte dafür ein. Während der Nachtwache, wenn er seine Maschinen in Ordnung hatte, und in jedem freien Augenblick übersetzte er Traktate und Bücher aus dem Deutschen ins Russische. Der Herr gab ihm die Gabe dazu und schenkte ihm viel Geduld dabei. Oft staunte ich über seine Langmut. Wenn die Zeit der Gottlosen nicht hereingebrochen wäre, hätten wir manche von diesen Büchlein dem Druck übergeben. Es wurde damit schon begonnen. Und nun liegt all diese Arbeit tot. Es bekehrten sich auch einige aus den Russen und wurden recht liebe und gottergebene Menschen. Ach, wie tun mir die Ärmsten leid, über die solche Macht gekommen ist. Bruder Zacharias hatte auch das Buch über die Offenbarung des Johannes ins Russische übersetzt. Die übersetzten Traktate und Bücher wurden mit der Schreibmaschine abgeschrieben und den tief nach Wahrheit verlangenden und schmachtenden Menschen zu lesen gegeben.

Der Krieg kam dann endlich zum Ende, brachte aber auch manche Not ins Land: die Inflation, die Revolution, die Brotnot und vieles andere. Die Kriegsgefangenen zogen wieder in ihre Heimat zurück. Auch von unseren transkaukasischen Kolonien kamen mehrere, die an der Westfront gewesen waren und am Anfang des Krieges gefangen worden waren. Die kamen nun aus der deutschen Gefangenschaft zurück.

Drei von unseren Deutschen, einer aus Katharinenfeld, einer aus Annenfeld und einer aus Grünfeld kamen in den russischen Schützengräben an der deutsch-russischen Front mit Brüdern zusammen. Und jene Brüder hatten Gelegenheit, Zeugen der Wahrheit zu sein. Jede freie Stunde in den Schützengräben und auch später in dem Gefangenenlager wurde zur Betrachtung des Wortes Gottes ausgenutzt. Wohl manche Seele hat sich dort bekehrt. Dazu gehören auch diese drei aus Transkaukasien. Heinrich Huber und Hermann Beck kamen bis nach Essen und wurden dort auch getauft. Dem Bruder Hoss gelang es aber nicht, dort hinzukommen.

Als diese drei nach Ende des Krieges zurück in ihre Heimat befördert wurden, fuhren sie über Rumänien. Da sie schon in Deutschland erfuhren, dass Bruder Ebel und seine Frau als Kriegsgefangene in Rumänien waren, besorgten sie sich ihre Adresse und suchten sie dort auf. Bruder Hoss sagte zu Bruder Ebel, dass er von ihm eine Predigt hören möchte. Und Bruder Ebel predigte dann zu diesen drei Brüdern. Bruder Hoss entschloss sich und ließ sich dort von Bruder Ebel taufen. Von Bruder Ebel erfuhren sie dann auch, dass sie nicht die Ersten und Einzigen sein werden, wenn sie zurück nach dem Kaukasus kommen. Dass in Tiflis bereits eine Gemeinde war, gab ihnen Mut und Trost. Aber nicht gleich erfuhren wir von den Brüdern.

Bruder Hoss kam aus der Gefangenschaft krank nach Hause und musste lange Zeit im Bett liegen. Er hatte aus Deutschland eine Anzahl Lehrbücher und Traktate mitgebracht. Er verschwieg auch keinem, mit dem er in seiner Töpferei oder sonst in Berührung kam, seine Erfahrung, die er mit Gott gemacht hatte. Er überzeugte die Leute davon, dass sie sich von ihren Sünden bekehren müssten, wenn sie glücklich werden wollten. Es dauerte nicht lange, so wusste es das ganze Grünfeld, dass der Hoss „fromm“ geworden war. Auch der Herr Pfarrer, der aus Annenfeld monatlich ein bis zwei mal herüberkam und in Grünfeld Kirche hielt, erfuhr es. Man unterbreitete ihm, dass da ein Mann aus der Gefangenschaft in Deutschland zurückgekommen wäre, der weiter nichts tut, als die Bibel lesen, beten und predigen. Dann soll der Pfarrer gesagt haben, dass er den besuchen will. – „Er wird im Dorf wohl der Einzige sein, der noch betet!“

Und der Pfarrer besuchte ihn. Weil dem Bruder Hoss das Sprechen schwer fiel, bat er ihn, dass er sich aus dem Wandschränkchen eines der Bücher nehmen und lesen sollte. Pfarrer Wucherer fühlte sich danach in die Wohnung des Bruders Hoss hingezogen, las auch die Bücher gern. Und als er zum dritten Mal zu Bruder Hoss hinkam, sagte er: „Gelobet sei Gott, Bruder, jetzt bin ich auch ein Kind Gottes!“

Leider kam er kurz nach dieser Begebenheit ums Leben. Er war nach Eisenfeld gerufen worden, um dort einen Mann, den die Tataren erschossen hatten, zu beerdigen. Dieser Mord war aus Rache geschehen. Und die Mörder verkündigten, dass derjenige, der diesen Mann beerdigt, auch erschossen würde. Man fand dann alle Insassen des Wagens, die sich nach der Beerdigung auf den Heimweg begeben hatten, tot; und kniend am Wagen auch Pfarrer Wucherer. Dieses „Märtyrerleiden“ bewegte in der Umgebung viele Menschenherzen, besonders unter den religiös Gesinnten. Soweit der Herr uns hierüber Klarheit schenkte, sahen wir, dass dieses auch zum Aufbau des Werkes dienen musste. Auf die wunderbarste Weise öffnete der Herr den Leuten das rechte Verständnis.

Als wir von diesen drei aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Brüdern hörten, besuchten meine Frau und ich den Bruder Hoss. Ich erinnere mich noch sehr gut an jenen Augenblick unseres Treffens. Grünfeld liegt etwa 3 bis 4 Kilometer von der Bahnstation Akstafa entfernt. Und so gingen wir zu Fuß an der Bahnlinie entlang. Schließlich geleitete uns jemand über die Bahngleise in die Ziegelei. Bruder Hoss war gerade unten und schürte den Ofen. Ich rief von oben mit lauter Stimme: „Preis dem Herrn, Bruder Hoss!“ Dem Bruder schien die Stimme wie vom Himmel gekommen zu sein. Plötzlich stand er auf und reckte den rechten Arm nach oben. „Gelobt sei Gott, Preis dem Herrn!“, gab er zur Antwort. Nach wenigen Minuten lagen wir uns in den Armen und die Freude war sehr groß. Bruder Hoss sagte, dass ihm eine größere Freude nicht hätte widerfahren können. Obwohl wir uns bis dahin nach nicht gekannt und nicht gesehen hatten, fanden wir uns im Innern sehr verbunden. Wir blieben einige Tage dort und unterhielten uns in großem Segen, sangen auch viele Lieder.

 Ein besonderer Trieb bewog uns, unter den Verlorenen zu arbeiten. Bruder Hoss ließ bekanntmachen, dass am Samstagabend in seinem Hause Bibelstunde sei. Er ließ dazu alle herzlich einladen. Es kamen aber nur 2 oder 3 alte Frauen. Wir sangen einige Lieder, beteten und betrachteten das Wort. Dabei vernahmen wir, dass draußen an den Fenstern sich Neugierige bewegten. Aber herein kamen sie nicht. Das ist aber so die dörfische Art. Später waren uns die draußen Herumstehenden, ihr Lachen und größere Spässe nicht mehr neu. Je mehr und größer der Besuch dieser Versammlungen war, desto mehr Störungen suchte der Feind zu machen. In jenen Tagen haben wir viel gebetet und auch den Entschluss gefasst, die Sache des Herrn unter den Deutschen in Transkaukasien zu verbreiten. Von Bruder Hoss wurden wir eingeladen öfter zu kommen. Mit dem Entschluss, die Sache des Herrn eifriger zu betreiben, gingen wir wieder heim.

Bald darauf erkrankte die älteste Tochter von Bruder Hoss und starb. Nun war ganz Grünfeld auf der Lauer, wie der Hoss nun seine Tochter beerdigen wird. Auf Einladung von Bruder Hoss fuhren dann die meisten Geschwister von Tiflis wie auch der ganze Singchor hin. Weil der Raum in der Wohnung zu klein wurde, trugen wir die Leiche auf den Hof. Mehrere Brüder hielten kurze Ansprachen. Dazwischen wurden aus der Evangeliums-Klänge ernste Lieder gesungen. Auf dem Friedhof sprachen wieder andere Brüder. Auf allem ruhte ein großer Segen. Den Grünfeldern kam alles über Erwarten. Auch die Abendversammlung war sehr segensreich und gut besucht. Somit war nun in Grünfeld der Anfang gemacht.

In der Zeit begann auch Bruder Heinrich Huber in Katharinenfeld Bibelstunden zu halten. Schwester Karoline Krämer ist wohl die Erste gewesen, die mit ganzem Ernst an diesen Bibelstunden teilgenommen hat. Bald war sie davon überzeugt und lud auch andere, die am Wort Interesse hatten, dazu ein. So wurde auch dort der Anfang gemacht. Bruder Huber und Geschwister Krämer wurden einig, eine große Versammlung zu veranstalten und luden uns dazu zu Weihnachten 1921 ein. Schwester Krämers Mann war Küster und Dorflehrer und hatte für den Konfirmandenunterricht in ihrer Wohnung ein großes Zimmer eingerichtet. In diesem Raum durften wir nun unsere achttägige Versammlung abhalten. Mit uns fuhr auch unser eingeübter Chor vollzählig mit. Zu diesem Chor gehörten auch Brüder, die am Wort dienten. Wir hatten dann an den Feiertagen und die ganze Woche hindurch an jedem Abend Zusammenkünfte. Zuerst wurden Aufklärungen über den inneren Zustand gegeben und dann erklärt, was Buße bedeutet. Nach den Abendgottesdiensten wurde denen eine Gelegenheit gegeben, die sich bekehren wollten. Und es folgten eine Anzahl diesem Ruf.

Die Versammlungen waren gut besucht. Der Raum war so voll, dass fast niemand mehr hereinkonnte. Fenster und Türen waren geöffnet und draußen standen auch noch viele. Das war etwas Neues für Katharinenfeld. Eine Anzahl dieser Neubekehrten mussten durch große Schwierigkeiten und Verfolgungen gehen. Etliche mussten in ihren Häusern und wo sie sich sonst bewegten viel leiden. Bei jener ersten öffentlichen Versammlung kam es auch zu einer öffentlichen Entscheidung. Und wieder war es Schwester Krämer, die den ersten entscheidenden Schritt tat und sich zur Taufe meldete. Es war um Neujahr herum, da gingen wir an einen kleinen Fluss und suchten eine tiefe Stelle aus. Schwester Krämer und ihr Sohn Paul wurden dort getauft. Ein ganzer Zug Leute ging mit und Schwester Krämer bekannte vor der Welt, was der Herr an ihr getan hatte. Nun war es auch den Katharinenfeldern klar, wer wir sind. Doch je mehr Widerstand sie erhoben, desto mehr bekehrten sich. Die Männer, die anfangs so harte Gegner waren, bekehrten sich später auch. Sie beklagten dann jene Zelt, in welcher sie ihren Angehörigen so hart begegnet waren. Auch junge Leute bekehrten sich. Es brach eine Zeit der Erweckung an.

Die Kunde von dieser evangelischen Bewegung verbreitete sich durch die Dörfer Transkaukasiens und wir wurden überall bekannt. Man drohte uns zu schlagen, zu erschießen und mancherlei zuzufügen, aber der Herr ließ es nicht zu – abgesehen von etlichen Störungen, die sie während der Versammlungen machten. So schlugen sie Fensterscheiben ein, schnitten den elektrischen Draht durch und trieben anderen Unfug. All das half ihnen aber nichts. Vor allem die jungen Geschwister hatten eine große Herzensfreudigkeit, einen unzerstörbaren Zeugenmut und zierten die Lehre mit einem keuschen und heiligen Wandel. Ein Bruder sagte in einem Zeugnis in der Versammlung, ihm scheine es, seit er bekehrt ist, dass sich auch sein Vieh bekehrt hätte. Seine Pferde laufen viel besser, sind gehorsam. Und seit er nicht mehr fluchen muss, gehen die Tiere sicherer und zutraulicher.

Als die Gemeinden sich vergrößert hatten, veranstalteten wir jedes Jahr verlängerte Konferenzversammlungen: zu Weihnachten in Katharinenfeld (jetzt Luxemburg) und zu Ostern in Grünfeld. Das war allemal eine gesegnete und freudige Zeit. Aus allen Dörfern kamen die Geschwister zusammen. Die Geschwister luden auch die Gläubigen aus anderen Dörfern ein und es kamen oft Hunderte zusammen. Die Katharinenfelder fanden es notwendig, eine Stätte zur Anbetung zu bauen.

Zum Bauplatz schenkte ein Bruder ein Stück von seinem Hof. Ein anderer Bruder brachte auch ein Opfer und stellte seinen Hofplatz zur Verfügung. Die Geschwister waren so opferbereit, dass wir darüber losen mussten. Nun ging es gemeinsam an die Arbeit. Männer, Frauen, Kinder – alle wollten mithelfen, damit das Haus noch vor Hereinbrechen der Regentage unter Dach käme. Groß war die Freude, als wir uns zum ersten Mal in einem eigenen, dazu bestimmten Hause versammeln konnten. In den Abendstunden war der Saal ganz besonders gefüllt. Der Raum wurde uns noch oft zu klein. Die Geschwister sagten, dass manchmal nicht weniger als 500 Personen anwesend waren. Auch ein Harmonium wurde angeschafft, Singstunden eingeführt und Lieder eingeübt. Der Herr segnete die Sache und das Werk ging voran. Drohte den Geschwistern von irgend einer Seite Gefahr, so brauchten sie es nur im Dorfrat zu melden. Sofort wurde Miliz als Wache am Eingang aufgestellt und niemand wagte uns zu stören.

In Annenfeld hatte der Herr den Bruder Hermann Beck, der auch in der deutschen Gefangenschaft zum Glauben gekommen war, zur Pionierarbeit ausgerüstet und bestätigt. Bald wurden Geschwister Grötzinger in ihrem Innern dazu bewogen und zogen mit Familie nach Annenfeld. Wie schon erwähnt, war Schwester Grötzinger Musiklehrerin und hatte auch eine gute Stimme. Beides war für den Anfang dort eine große Hilfe. Die Versammlungen waren, wie überall, anfangs recht klein. Der Gesang zog die Leute an, das Wort und der Geist überzeugte sie. Sie kamen zur Entscheidung und bekehrten sich zu Gott.

Die Brüder und Schwestern aus den anderen Dörfern und Städten besuchten sich gegenseitig und es wurden mehrtägige Versammlungen veranstaltet. Am Tage – für die Geschwister, um sie zu festigen und zu gründen. Am Abend waren dann allgemeine Evangelisationen. Auf diese Art und Weise arbeiteten wir in allen Dörfern. Auch in Helenendorf, damals der reichsten Kolonie Transkaukasiens, fanden sich teure Seelen, die sich dem Herrn auslieferten und ihm dienten.

In jedem Jahr wurden etliche Missionsreisen gemacht. Besonders dazu geeignet waren die langen Winterabende. Die Geschwister, die es wirklich ernst meinten, halfen alle in der Missionsarbeit mit. Ein jeder diente mit den Gaben, die Gott ihm verliehen hatte. Wenn sie nicht anders konnten, besuchten sie ihre Verwandten und trieben Hausmission. Und das Wort erfüllte sich: „Machet Bahn, machet Bahn!“ Die Geschwister am Ort waren immer die Vorarbeiter. Sie hatten dann schon das Gröbste abgeschliffen. Und wenn dann einer von den älteren Brüdern kam, benötigte es nur noch ein wenig an Aufklärung und es kamen dann wieder eine Anzahl zum Herrn. Wir haben getan, was wir konnten, und der liebe Gott ließ uns auch die Garben sehen.

Der Bedarf an Arbeitern wurde zuletzt so groß, dass wir uns genötigt sahen, einen Bruder ganz von irdischer Arbeit freizumachen und ihn so zu unterstützen, dass es ihm an nichts fehle. Den Bruder Hermann Grötzinger fanden wir dazu am besten geeignet. Auf unsere Gebete hin machte der Herr ihn willig, seine Anstellung aufzugeben. So wurde er Reiseprediger. Er besuchte regelmäßig einzelstehende Geschwister und Versammlungen an allen Orten. Als wir merkten, dass die Brüder die von Tag zu Tag zunehmende Arbeit nicht mehr bewältigen konnten, hätten wir gern noch einen Bruder für das Werk ganz freigemacht. Die Umstände ließen es aber nicht zu.

Zu der Zeit hatte Bruder Heinrich Huber aus Katharinenfeld die Wolhynier Geschwister besucht. Er erzählte uns von der dortigen Einrichtung und der Arbeit in den Gemeinden. Auf den Rat von Bruder Huber luden wir Bruder Rudolf Malzon, der zu jener Zeit in den anderen Teilen Russlands als Evangelist arbeitete, zu unserer großen Konferenzversammlung in Katharinenfeld im Herbst 1925 ein. Für uns und unsere Gegend, sowie für die Arbeit des Werkes des Herrn in Transkaukasien, war der Besuch von Bruder Malzon eine gesegnete Zeit. Denn in seiner langjährigen Tätigkeit hatte er so manche Erfahrungen gemacht und war vom Herrn mit Erkenntnis gesegnet worden. Dadurch konnte er auch uns so manchen guten Rat und Aufschluss geben. Wir verkürzten unsere für zwei Wochen geplante Konferenzversammlung und teilten es so ein, dass Bruder Malzon in Begleitung einiger älterer Brüder an jedem Versammlungsort etwa 2 Tage weilte.

Wegen des Baues der Versammlungshäuser und dem Besuchen verschiedener Ortschaften, an denen noch keine Brüder waren, die am Wort und in der Weide der Lämmer erfahren waren, gab uns Bruder Malzon verschiedene Ratschläge. Er ermahnte und machte es jedem älteren Bruder zur Pflicht, seine ihm anbefohlenen Ortschaften treu zu pflegen. Den kleinen Gemeinden wurde die Aufgabe gegeben, an dem dazu bestimmten Tag den Bruder oder die Geschwister von dem meist weit abgelegenen Bahnhof abzuholen. Einmütig gingen die Brüder ans Werk und die Sache des Herrn nahm einen Aufschwung.

Wie schon erwähnt, fehlte es auch nirgends an Gegnern. Auf einer Missionsreise trug sich Folgendes zu. In Grüntal wurde ich an einem Sonntag früh, noch vor der Versammlung, ins Gemeindehaus gerufen. Der Bruder, bei dem ich schlief, ging mit mir. Der Vorsitzende des Gemeinderates, sein Gehilfe und der Dorfvorsteher waren dort. Der Schulze stellte mir die Frage, nach welchem Recht ich in den Dörfern herumfahre und predige. Ich brächte den Leuten eine neue Religion und stifte Unfrieden. Es wäre ihm ganz recht, wenn ich dieses aufgäbe.

Auf solche und ähnliche Fragen waren wir mit Antworten schon gewappnet, weil sie des öfteren an uns gestellt wurden. Bei der Obrigkeit waren wir registriert, sonst hätten wir ja auch gar keine Versammlungen haben können. Jeder Prediger hatte, wenn er auf Reisen ging, bei sich eine Kopie seiner Registrierung. Dazu hatte er ein zweites Dokument, von der Gemeinde selbst ausgestellt, das den betreffenden Prediger beauftragte, bestimmte Ortschaften zu besuchen und zu betreuen. Dem Schulzen sagte ich ganz unerschrocken, dass ich ein registrierter Prediger sei und dass außerdem die Gemeinde mich gesandt habe. Gott selbst gebe mir nach der Bibel den Befehl, Hilfsbedürftige und Gläubige, die mich einladen, zu besuchen, sie zu erfreuen und betreuen. Keiner von ihnen konnte mir dagegen etwas sagen. Ich gab ihnen die Zeit an, wann wir Gottesdienste haben, und bat sie zu kommen und zu prüfen. Mir ging es aber wie der Frau, von der in Johannes 8:9 berichtet wird, dass schließlich sie und ihr Meister alleine blieben. Wir gingen dann auch heraus und niemand störte uns weiter.

Als wir auf einem anderen Ort bei Geschwistern zu einer Versammlung zusammengekommen waren, kam jemand mit einem Milizionär herein. Er verlangte von dem Beamten, dass er uns verhaften sollte. Er beschuldigte uns, dass wir in der Stadt Aufruhr verursachten, Familienstörungen herbeiführten und Unfrieden anstiften würden. Aber die Geschwister vom Ort standen alle wie ein Mann und bezeugten das Gegenteil. Einige Brüder gingen zur Miliz und brachten die Sache ins Reine. Sie sagten zu den Beamten, dass nicht ihre Brüder den Unfrieden machten, sondern dass dieser Mann der Ruhestörer wäre. Er verur­sachte im Dorf und auch in seinem eigenen Haus fortwährend Unfrieden. Seit sich die Frau dieses Mannes bekehrt hat, war es, als ob der Satan in ihn gefahren wäre. Er tobte zu Hause wie ein Rasender, sperrte seine Frau des Abends öfter heraus, so dass sie die Nächte irgendwo in der Scheune zubringen musste. Dabei verbreitete er die allerschändlichsten Gerüchte über seine Frau und die Brüder. Jede schmutzige Redensart nahm man von seiten der gegen uns Empörten auf.

Auch mit Gewehren hat man an den Ecken auf uns gelauert. Aber allemal ließ der Herr uns dieses auf irgendeine Art und Weise beizeiten wissen. Wir hatten dadurch immer wieder neue Ursache, den Herrn zu preisen und seinen Namen zu verherrlichen. So konnten wir einander Mut zusprechen, denn der Herr war unser Schutz. Wie herrlich ist es doch, wenn wahre Gottesfurcht alle Menschenfurcht vertreibt. Wie mutig und unerschrocken waren die Kinder Gottes, weil sie die Nähe des Herrn verspürten. Nicht umsonst sagt unser Meister: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die Seele nicht können töten“ (Mt. 10:28).

In Helenendorf hatte die Gemeindeversammlung den Ortspfarrer Engelhardt gegen Bruder Hermann zur Hilfe herangezogen und dachte, ihn dadurch an die Luft zu setzen. Bruder Hermann, der auch zur Gemeindeversammlung eingeladen worden war, griff aber zu seiner Bibel und versuchte, die verschiedenen Fragen, die man ihm stellte, anhand des Wortes Gottes zu beantworten und zu beweisen. Als erstes war es, dass es im Plan des Allmächtigen ist, dass wir der Sünde abgestorben und dem Herrn leben sollen. Es gilt, ein sündenfreies, heiliges Leben zu führen. Wir sollen Täter des Wortes und nicht Hörer allein sein.

Das große Lutherbuch half uns viel mit, denn es enthält viel Wahrheit. Die Lutheraner staunten oft und wunderten sich, dass Luther dieses gesagt und geschrieben haben soll. Zum Glück hatten mehrere dieses Buch. Wir bewiesen ihnen oft, wenn Luther heute auftreten würde, dass er nicht zu den Lutheranern sondern zur Gemeinde Gottes gehen würde. In dem Buch spricht er sich auch ganz klar und deutlich gegen die Sünde aus, auch gegen das Gepränge der Kirchen und so viel menschlich Hinzugebrachtes, das die Bibel gar nicht lehrt.

Auch Bruder Hoss hatte davor in Helenendorf schon öfter solche Kämpfe mit den strengen Gegnern durchgemacht. Aber mit der Wahrheit in der Hand ist es ein Leichtes zu siegen. Es ist unmöglich, dass eine Kirche heilig ist und die Menschen darin Sünder sind. Wenn wir allzumal Sünder sind und es bei uns immer an Ruhm mangelt, den wir bei Gott haben sollen – was für eine heilige Gemeinde oder Glieder in ihr sind wir dann? Bruder Hoss las ihnen die Stelle aus Offenbarung 21:27 vor, dass in dem Himmel nichts Unreines ist. Auch niemand, der Greueltaten tut, nichts Unheiliges und nichts Sündiges wird in den Himmel eingehen. Dies erfasste so manch einen bis in sein Inneres und blieb darin auch fest.

Der Feind alles Guten suchte durch die gottlose Regierung alles zum Stillstand zu bringen und zu vernichten. Der erste Schrecken kam über uns, als Bruder Huber aus Katharinenfeld den Nordkaukasus und die Wolgakolonien besuchen wollte. Er musste die Reise abbrechen, weil die Macht der Gottlosen dort schon ernster um sich griff, als bei uns in Georgien und Aserbaidschan. Bei uns schauten sie immer noch ein bisschen durch die Finger. Sie sahen vorerst in uns noch einen Helfer, weil sie glaubten, wenn die Leute sich durch unsere Mission bekehrten, dass sie dann aus der Kirche austreten würden. Ihr Hauptziel war, die Kirche zu schwächen und unter den Kirchenleuten eine Trennung und Uneinigkeit herbeizuführen. Zu gern hätten sie es gesehen, wenn sich einer gegen den anderen aufgelehnt hätte. Sie hofften, dass womöglich zwischen der Gemeinde Gottes und den Lutheranern Prügeleien ausgebrochen wären. Sie suchten diesen Weg und hetzten ständig die untersten Schichten gegen uns auf. Wir gingen aber allen herausfordernden Gesprächen aus dem Weg. Die Leute sollten keineswegs verwirrt werden, sondern möglichst für des Herrn Sache vorbereitet und gewonnen werden. Die Aufgabe und Arbeit war nicht leicht. Der Gottlosenbund hatte alle Rechte und entfaltete sich immer mehr.

Mein Schwiegersohn, Bruder Fritz Ohngemach aus Georgenfeld, einem größeren und schönen Dorf in Transkaukasien, fing auch an, Hausversammlungen zu halten. Nach und nach fanden sich auch da liebe Seelen, die das Seelenheil suchten. Es entstand da eine liebe Gemeinde, die ich gern des öfteren besuchte. Manch schöne Stunde verlebten wir da zu Jesu Füßen. Bruder Reinhold Kehrer war eine besondere, liebe und opferwillige Seele. Und seine Schwester, Flora Reitenbach, hatte wegen ihrer Überzeugung nicht wenig zu erdulden gehabt. Und das von ihren nächsten Angehörigen. Zuletzt wurde sie nach Sibirien verbannt. Sie alle, die Lieben da drüben, liegen mir sehr am Herzen. Ich kann nicht anders, als täglich für sie beten. Der Herr möge seine schützende Hand über sie halten, denn er hat doch gesagt: „...und niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen“ (Joh. 10:28).

Wir wurden eine Zeit lang unterstützt und dann nur noch so lange geduldet, bis sie sahen, dass die Arbeit mit Riesenschritten voranging. Dann mussten sich einige Brüder bei der GPU („Staatliche politische Verwaltung“ (rus.)) jeden Monat melden und auf alle gestellten Fragen Antwort geben. Der betreffende Bruder durfte keinem anderen etwas davon sagen – weder davon, was er gefragt wurde, noch was er antwortete. Außer ihnen selbst sollte überhaupt niemand davon wissen. Dieses Verheimlichen machte das Gewissen der Brüder unruhig und wurde von der GPU ausgenutzt. Von der Zeit an trat in der geistlichen Arbeit Stillstand ein. Die Brüder durften nur noch das tun, was man ihnen erlaubte. Die Taufe durfte nur noch im Geheimen geschehen. Eine Freiheit nach der anderen verschwand. An Stelle der Freude trat die Furcht. Die Missionsreisen, die wir oft unternommen hatten, wurden allmählich eingestellt.

Bei der letzten Konferenzversammlung in Katharinenfeld (Luxemburg) spürte man den gedämpften Geist sehr gut. Die Freudigkeit war verschwunden. Der Segen konnte nur noch im stillen Inneren bemerkt werden. Im Jahr darauf kam es zum Sturz. Die örtliche Regierung verlangte jetzt von Bruder Hoss, die Kollektive einzurichten. „Du hast die Leute so schön in Glaubenssachen unterrichten können. Und jetzt gehe einmal und sage ihnen, die Bibel lehrt, dass man der Obrigkeit gehorsam sein soll usw.!“

Wie nachher alles verlaufen ist, könnte unser liebe Bruder Edmund Binder aus Grünfeld am besten berichten. Doch ihn haben sie noch vor mir verhaftet. Er war der Letzte geblieben, der noch Hausversammlungen hielt und die Geschwister anspornte. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Die GPU hat ihn aus der Versammlung herausgerissen und verhaftet. Was weiter von ihm zu sagen ist: Er war eine aufrichtige, liebe und entschiedene Seele.

An eines erinnere ich mich noch sehr gut. Es war 1933 in einer Mittwochversammlung in Tiflis. Da trat verspätet noch eine Schwester ein und setzte sich hintenan. Nach Schluss der Versammlung erzählte sie uns, dass sie eben aus Grünfeld käme. In ganz bedrückter Stimmung berichtete sie, dass am vorigen Abend in Grünfeld eine ganz traurige Versammlung stattgefunden hätte. Bruder Hoss hätte geweint wie ein kleines Kind und die ganze Versammlung mit ihm. Er sagte, dass es mit der Versammlung aus wäre und dass sie alle ins Kollektiv müssten. Wenn sie aber im Kollektiv sind, dürfen sie keine Versammlung mehr haben. Bruder Hoss musste im Moment sein Vorsteheramt niederlegen.

Die Kollektivwirtschaft in Grünfeld wurde dann ein Musterstück für die ganzen Kolonien in Transkaukasien. Wie man sagte, wurde Tag und Nacht gearbeitet. Aber es gab keine Seelenarbeit mehr. Die Versammlungen wurden eingestellt und ein jeder konnte selig werden, wie er wollte. Bruder Hoss trat nicht mehr für die Gemeinde auf. Und es ist bis heute ein Geheimnis, warum. Ich stelle es mir so vor, wie wir es später von anderen Predigern erfuhren, dass er der GPU, die in Gestalt des Gottlosenbundes auftrat, die Unterschrift geben musste, dass er nicht mehr predigen wird. Das Versammlungshaus, das sich die Grünfelder Geschwister erbaut hatten, wurde eines schönen Tages für die Kanzlei des Kollektivs bestimmt.

Die Frucht der Gerechten, die in das Innere der Gläubigen hineingesät ist, wird aber aufgehen und wachsen.

 

„Fasset eure Seelen mit Geduld!“ –

Dies ist ein Wort aus Jesu Munde;

Zur Warnung ward‘s gesagt, in ernster Stunde.

Das Gold und aller Reichtum Pracht, des alten Tempels Ehre

Soll bald vergehen und tiefe Nacht über Jerusalem ergehen.

Volk Gottes, steh auf Wacht!

 

„Fasset eure Seelen mit Geduld!“ –

So ward’s gesagt zu jener kleinen Schar,

Die treu gefolgt dem lieben Meister war.

Gar gut war’s, bei dem Herrn zu sein,

Da wollt’ man Hütten baun’.

Doch bald, gar allzubald, soll’n trübe Zeiten kommen.

Wie bald kommt oft die Nacht!

 

Fasset eure Seelen mit Geduld!

Das Werk, das er begonnen, soll wohl gelingen

Trotz aller falschen Lehr‘, die Satans Engel bringen.

Beharren sollen sie, die wen’gen Jünger klein,

Er selbst will ihnen Mund und Weisheit sein.

 

Vor Menschenhand soll keine Furcht sie schrecken.

Kind Gottes, habe acht!

 

Fasset eure Seelen mit Geduld!

Wenn Hass, Verfolgung, Spott und Hohn

Statt Liebe sie werden ernten.

Nicht sorgen brauchen sie, ohn’ ihn kein Haar soll krümmen.

Auch du, mein Bruder, lieb’ Schwester mein,

Leg dich in Jesu Arme, er wird dein Schutz dir sein.

Er ist dein’ große Macht!

 

Fasset eure Seelen mit Geduld!

Das gilt wie jenen dort, so dir und mir,

Wir sind nur Pilgrimme auf dieser Erde hier.

Ernst ist die Zeit, der Tag dem Ende naht,

Nacht bricht herein, bald kommt die Mitternacht.

Die Lieb’ nimmt ab, der Glaube wird ganz rar.

Doch Ungerechtigkeit und Ärgernis, Verräterei, der Bosheit

Große Schar sich mehren werden allzumal.

Wie dunkel wird die Nacht!

 

Fasset eure Seelen mit Geduld! –

Auch mir ward dieses Wort gesagt

In einer trüben Stund.

Und oft hab’ ich darüber nachgedacht,

Ob dieser Himmelskund.

Geduld, ein bittres Kraut, doch Balsam für die Seele;

Dies hab’ erfahren ich, drum jedem ich’s empfehle.

Ich sag es noch einmal – es ist ’ne große Huld:

Ach, fasst doch eure Seelen mit Geduld!