Weitere Siege in der Arbeit für den Herrn

Eine Anzahl Gläubiger in der Kolonie Natalien (nach der Großfürstin Natalie genannt), verlangten und suchten mehr Erkenntnis. Auch sie standen wie Schafe ohne Hirten. Sie hatten ihre regelmäßigen Versammlungen und wurden von verschiedenen Rednern besucht. Doch hatten sie beim Besuch der Prediger vereinbart, von der Taufe, vom Sabbat, von der Aufnahme in ihre Gemeinschaft und anderem nicht zu reden.

Sie sahen und merkten, dass es mit ihren Versammlungen auf die Dauer so nicht weitergehen konnte, und sehnten sich nach einer Lösung. Sie wussten nur nicht, wie sie es anfangen sollten. Auch in anderen Orten gab es alleinstehende Gotteskinder. Mit diesen hatten sie manchmal Beratungen. Mittlerweile war auch die Kunde zu ihnen gedrungen, dass es nicht allzu weit von ihnen Leute gäbe, die auch ein entschiedenes und heiliges Christentum lehren und leben. Sie schickten dann einen jungen Bruder als Kundschafter aus. Er sollte bei uns sehr vorsichtig ausfinden, ob das Leben der Gemeinde auch mit der Lehre der Bibel übereinstimmte. Nachdem dieser junge Bruder alles in Ordnung gefunden hatte, kam er mit großer Freude wieder zu den Seinen zurück. Dieses war am 23. September 1922. Nun wurde ich gleich für mehrere Tage zu ihnen eingeladen. Als ich dort hinkam, hatte ich von vornherein das Recht, von allem zu reden, was mir nur auf dem Herzen lag.

Für diese Gegend wurde auch gleich allmonatlich ein Hauptsonntag bestimmt, an dem wir die Versammlung leiteten. An den anderen Sonntagen im Monat versammelten sich die Geschwister in ihrem Kreis. Den Winter hindurch hatten wir in der Kolonie Natalien an den Hauptsonntagen sehr große Versammlungen. Von weit und breit strömten die Leute zusammen. Eines Tages setzte die Bahn aus, große Störungen hinderten den Verkehr. Wieder kam der Hauptsonntag heran, aber die Bahn ging nicht. Wie sollte ich nach Natalien kommen? Ich hatte doch für den Hauptsonntag mein Kommen zugesagt.

„Jetzt werden wir wohl ohne Besuch bleiben“, meinten manche. Andere hatten wieder großes Vertrauen und erwiderten: „Der Bruder kann nicht ausbleiben, er wird doch kommen!“ Der Herr legte mir die Notwendigkeit schwer aufs Herz. Es war mir, als spürte ich die Gebete der Kinder Gottes in Natalien. Ich bekam einfach keine Ruhe und sagte zu meiner Frau: „Ich muss zu Fuß gehen. Der Herr wird mir helfen, dass ich Natalien erreiche“. Einige Geschwister dort in Horschtschik versuchten mich zurückzuhalten. Aber vergebens, ich hätte nicht zu bleiben vermocht. Wusste ich doch, dass auch dieses alles zum Aufbau des Werkes in jener Gegend beitragen würde. So brach ich am Sonnabend ganz früh auf. Ich wanderte die 50 Kilometer offensichtlich in der Kraft des Herrn, ohne sonderlich zu ermüden.

Ich war spät am Abend müde aber gut angekommen. Sonntag früh begann die Versammlung. Es hatten sich Scharen von Menschen eingefunden. Gottes Gegenwart war unter uns spürbar. Bald erlebte ich, dass mein Kommen nicht vergeblich war. Manches Hindernis schien durch die bestandene Probe beseitigt worden zu sein. Mehrere kamen zur Erkenntnis des Heils und taten Buße. Bisher noch Fernstehende wurden von den tieferen Wahrheiten Gottes überzeugt. Sie fanden den Weg vom geistlichen Babylon zum geistlichen Zion. Es herrschte allgemein große Freude.

Zur Vormittagsversammlung war ein Mann namens Albrecht gekommen, der sich in Bezug auf die Lehre einen starken „Turm“ gebaut hatte. Dieser „Turm“ stand in seinen Augen sehr fest und sicher. Aber wie er nachher erzählte, war es ihm, als ob jemand an seinem „Turm“ unten sägte. Es war ein ganz unbehagliches Gefühl über ihn gekommen. Gleich nach Schluss der Vormittagsstunde wollte er nach Hause flüchten – aus Furcht, sein „Turm“ könnte noch ganz einstürzen. Als er eben zur Tür hinaus wollte, trat ihm jedoch Bruder Reske, der Hauswirt, entgegen und lud ihn dringend zum Mittagessen ein. Doch er wollte nicht. Bruder Reske aber, in seiner großen Freude über das Erlebte, bestand darauf und versuchte, ihn zu überreden: „Ja, Sie bleiben heute hier. Sie haben ja noch einen weiten Weg vor sich. Und so wichtig wird das mit Ihrer Rückkehr heute Mittag auch nicht sein!“ Schließlich ließ er sich, wenn auch widerstrebend, doch überreden und blieb.

In der Nachmittagsversammlung aber fiel sein Turm. „Kann es denn möglich sein – mein ganzes Lehrgebäude, das ich mir zurechtgezimmert habe, hält nicht stand?“ – so fragte er sich. Ja, der „Turm“ war wirklich gefallen! Mit innerem Schrecken und Staunen merkte er, dass dieser „Turm“ vor dem lebendigen Wort Gottes nicht standhielt. Als die Nachmittagsversammlung vorüber war, sagte er sich: „Nun bleibe ich noch bis zum Abend. Mein „Turm“ ist gestürzt, jetzt will ich einmal weiter sehen“. Erst am Abend sah er den sicheren Felsengrund der lebendigen Gemeinde. Später erzählte er mir von seinem „Turm“ und sagte: „Vormittags fing er an zu wackeln, nachmittags fiel er, und am Abend sah ich den Felsengrund, auf den allein ich bauen konnte!“ Bruder Albrecht war viele Jahre ein gesegneter Mitarbeiter im Werke des Herrn.

Am nächsten Hauptsonntag sollte wieder eine besonders große Versammlung stattfinden. Der Küster aus unserer Nachbarschaft, der damals auch unseren Gesang leitete, erließ durch ein Rundschreiben eine große Bekanntmachung. Hunderte Leute, die noch nie gekommen waren, strömten unter all den anderen zum Gottesdienst. Dem Herrn sei Dank für die Wirkung seines Geistes, mit der er die schlichten Worte begleitete und segnete! Sie drangen ganz besonders und sehr tief in das Herz der Bevölkerung ein. So baute der Herr sichtlich sein Werk in dieser Gegend. Es wurde uns nun immer klarer, warum wir seinerzeit nicht ins Ausland auswandern durften.

Ein alter Bruder, namens Hinz, der Schwiegervater von Bruder Michael Krause, der etwa 18 Kilometer von Natalien entfernt wohnte, hatte zu dieser Zeit einen Traum. Ihm träumte, dass er gestorben und in den Himmel gekommen sei. Dort saß eine Anzahl Sänger beieinander, und er hörte sie geistliche Lieder singen. Freudig ging er auf sie zu und fragte: „Seid ihr Mitglieder unserer Gemeinde?“ Sie antworteten: „Nein!“ „Wer seid ihr denn?“ – fragte er weiter. „Wir sind Kinder Gottes“, gaben sie zur Antwort. Er stutzte, sah eine andere Gruppe Sänger, eilte auf die zu und wandte sich mit der gleichen Frage an sie. Aber auch sie gaben zur Antwort, dass sie Kinder Gottes seien. Er ging weiter. Und nachdem er alle Gruppen gefragt und die gleiche Antwort bekommen hatte, war er sehr traurig, dass seine Gemeinde nicht dabei war. Darüber erwachte er.

Kurz danach hörte er, dass seine Kinder in Natalien zum Glauben gekommen wären. Obwohl er schon über siebzig Jahre alt war, machte er sich aber gleich auf den Weg, sie zu besuchen. Als er bei ihnen ankam, empfing er sie mit den Worten: „Ich habe gehört, dass ihr gläubig geworden seid. Zu welcher Gemeinschaft gehört ihr denn nun?“ „O“, sagten sie, „wir gehören zu den Kindern Gottes!“ Dann sagte er sehr bewegt: „Da werdet ihr nicht fehlgehen, denn nur solche werden im Himmel sein!“ Und er erzählte ihnen seinen Traum. Auch diese Begebenheit wirkte zum Wachstum der Gemeinde.

Im Herbst 1923 fühlten wir es als die Leitung des Herrn, von Horschtschik nach Natalien überzusiedeln. Hier versuchten wir mit der Hilfe des Herrn, das Evangelium auszubreiten. Der Erfolg in dieser Gegend, ja bis nach Dubowa hin (55 Kilometer von Natalien entfernt), reicht in seinen Anfängen und Segensspuren auf die Vorkriegszeit zurück, zum Teil auf die Schriftenverbreitung.

Als ich nämlich 1911 von Rowno zur Tschernachower Konferenz-Versammlung fuhr, verteilte ich in der Bahn Traktate. Mit einem Mann, der sich in das Lesen des Traktates vertiefte, versuchte ich ein Gespräch anzuknüpfen. Ich erfuhr dabei, dass er in die Nähe von Moskau fahre, um dort Land zu kaufen. Ich lud ihn ein, mit mir zu dieser Konferenz zu kommen. Nach mancherlei Bedenken und Einwendung willigte er ein und kam mit. In dieser Versammlung gab der Herr etwas in sein Herz, das er nicht mehr los wurde. Durch ihn war nun ein Samenkorn in diese Gegend gestreut worden. Außerdem hatte einer unserer Kolporteure auf der Durchreise dort Bücher verbreitet. Das Fünkchen war zwar vor dem Krieg noch nicht zur Flamme entfacht, glomm aber fort und fort.

Als nun die Flüchtlinge zum Teil wieder zusammenkamen, suchten mehrere, die schon Gott gefunden hatten, auch andere Gläubige auf. So machte sich auch jener Mann auf, der seinerzeit der Konferenz beigewohnt hatte, und inzwischen gläubig geworden war (sein Name ist Derks). Dieser Bruder reiste mit Bruder Rösler zusammen tagelang umher, um Gläubige zu finden. Nach längerem Suchen trafen sie schließlich in Horschtschik mit uns zusammen. Mit großer Freude brachten sie diese Nachricht in ihre Familien und in ihr Dorf. Da Natalien für sie näher war als Horschtschik, besuchten sie und mehrere Geschwister möglichst regelmäßig den Hauptsonntag in Natalien. Wir reisten dann auch nach Dubowa.

Als wir an jenem Sonntagmorgen zur Versammlung fuhren, sahen wir einen Mann eiligst übers Feld auf uns zukommen. Die Brüder flüsterten mir zu: „Das ist ein großer Feind der Wahrheit. Durch ihn sind schon mehrere Brüder verhaftet worden und ins Gefängnis gekommen!“ Mir kam es plötzlich in den Sinn, ihnen zu antworten: „So einen Mann ladet nur zur Versammlung ein. Gerade solche will der Herr haben!“ Sie ließen sich das auch nicht zweimal sagen und blieben mit ihrem Fuhrwerk stehen. Als der Mann uns erreicht hatte, fragten sie ihn, ob er nicht zum Gottesdienst mitkommen möchte. Sofort willigte er ein. Er sagte, er habe sich schon vorgenommen, einmal zum Gottesdienst zu kommen. Er wollte ausfinden, was bei uns eigentlich los sei. So kam er mit und wurde derart von Gottes Geist und Wort ergriffen, dass er sich bekehrte. Bald darauf bekehrte sich auch seine Frau und ihre Kinder. Er fing gleich an, im Werke des Herrn mitzuhelfen und blieb auch treu. Sehr bald wurde ihm auch das Amt des Kassierers in der Gemeinde in Dubowa anvertraut. Er hat das auch treu verwaltet, solange sie die Zusammenkünfte haben durften.

Den Erfolg in der Arbeit für Gott in dieser Gegend schrieben wir besonders dem zu, dass mehrere Gläubige viele Jahre in dieser Gegend ein gottseliges Leben führten. Der gute Ruf, den diese Geschwister hatten, erweckte in manchen ein tiefes Verlangen, mit ihnen zu gehen und ihrem Beispiel zu folgen. Sie waren einig und traten entschlossen für das Wort der Wahrheit ein. Das beeindruckte und überzeugte die Leute. Dadurch wurde auch die Familie des Ortsvorstehers Schmidtke erweckt. Als der Vorsteher Schmidtke im Lichte Gottes erkannte, dass er sich in Ortsgemeindesachen manches hatte zuschulden kommen lassen, rief er die Gemeinde zusammen. Er bekannte alles öffentlich und machte es gut. Hierdurch wurde auch sein Nachfolger namens Kempe, der nach ihm das Vorsteheramt zu übernehmen hatte, erweckt und bekehrte sich. Es gab dann in mehreren Dörfern ein großes Erwachen und eine Erweckung. Alle diese Ortschaften besuchte ich einige Jahre fast jeden Monat. Inzwischen hatte der Herr schon anderen die Arbeit aufs Herz gelegt. Im besonderen diente Bruder Adolf Rösler, der Älteste, am Wort. Dadurch wurde ich sehr entlastet und konnte mich mehr anderen Aufgaben widmen.

In der Nähe von Dubowa waren auch noch mehrere Plätze, an denen sich Gemeinden befanden. Dort wurden auch regelmäßig Gottesdienste gehalten, z. B. in Lipufka, Heinrichufka, Luzie, Schöndorf. In den Nachbardörfern gab es auch schon mehrere Versammlungen der russischen Gläubigen. Auch in der Gegend um Natalien hatten wir Gemeinden, so in Wischufka, Neugrüntal, Nikolaiufka, Süselufka, Pinkie, Werufka, Neu-Shadkufka, Njeposnanitz, Michelsdorf und Sergeufka. Ferner wirkte Gott auch noch auf anderen Plätzen, an denen nur ab und zu, nach Bekanntgabe, Versammlungen gehalten wurden.

Besonders lag mir persönlich der Schriftenvertrieb und die Korrespondenz ob. Außerdem hatte ich viele Reisen zu machen. In unserem Briefkasten (auf der Post in Nowograd-Wolhynsk) befanden sich oft 15-20 Briefe. Meist waren es Einladungen nach verschiedenen Plätzen, an denen ich das Evangelium verkünden sollte. Ich konnte aber unmöglich allen Einladungen Folge leisten. Auch fehlte es an Bibeln und guten geistlichen Büchern. Wir waren ja postalisch vom Ausland abgeschnitten.

In den Sommermonaten hielten wir Gottesdienste in Natalien in Gärten und Scheunen. Aber im Winter war es ein großes Problem, die Räume in den Häusern waren zu klein. So begannen wir im Jahre 1926 ein Bethaus zu bauen, das 500 Personen fasste. Als der Bau begonnen werden sollte, waren alle Geschwister überwillig mitzuhelfen. Jeder wollte sich beteiligen, damit der Bau ausgeführt werden konnte. Viele gaben Bauholz, andere – Geld oder Naturalien. Auch Getreide wurde gespendet, damit es verkauft und von dem Geld notwendige Sachen für den Bau gekauft werden konnten. Zur Ehre Gottes können wir bezeugen, dass wir das Haus nach Fertigstellung schuldenfrei stehen hatten. Ein Russe, der der griechisch-orthodoxen Kirche angehörte, brachte uns Holz und Geld zum Bau. Er tat dies, weil er gehört hatte, dass dieses Haus zum Abhalten von Gottesdiensten bestimmt sei.

Im Sommer des Jahres 1927 konnten wir das Haus einweihen. Es war ein wunderschönes Fest. Die Einweihungsfeier dauerte drei Tage. Es war eine enorme Besucherzahl. Das Haus war restlos überfüllt, sehr viele mussten noch draußen stehen. Der Herr gab sein Wort, und viele bekehrten sich zu ihm. Eine sehr große Freude erfüllte die Herzen. Und als die von nah und fern Zusammengeeilten und die neugeborenen Gläubigen das Mahl zusammen feierten, war es noch herrlicher.