Neue Anfänge in der Evangeliumsarbeit

Große Veränderungen hatte der Krieg mit sich gebracht. Unsere lieben Bekannten und die Gläubigen waren in alle Richtungen zerstreut. Viele sind in diesen sehr schweren Jahren gestorben, andere sind in der Fremde geblieben. Die Bethäuser waren zerstört. Nur an jenem Ort, in dem wir uns niedergelassen hatten, war die Baptistenkapelle noch stehen geblieben. Freundlich öffneten die Geschwister uns ihre Kapelle. Wir konnten auch eine längere Zeit bei ihnen Gottesdienste halten. Der Herr segnete sein Wort, verschiedene Leute bekehrten sich zu Gott. Darunter waren auch Leute, die noch nie einen Gottesdienst besucht hatten. Zu unserer Verwunderung und Freude erfuhren wir, dass sogar unbekehrte Leute des Ortes zueinander gesagt hätten, dass sie uns so leicht nicht fortließen. Wenn sie uns auch unterstützen müssten, sie würden dabei mithelfen.

Eines Sonntags kam ein Mann zu uns und fragte an, ob wir wohl mit ihm seinen Schwager, der krank ist, besuchen würden. Er nannte uns auch den Namen des Betreffenden. Wir erinnerten uns sehr gut, dass dieser vor dem Krieg ein Feind der Wahrheit gewesen war. Da der Weg aber 7 Kilometer durch Wald und Wasser führte, verabredeten wir dafür den nächsten Morgen.

Als wir am nächsten Morgen das Zimmer des Kranken betraten, freute er sich sichtlich. Er sagte, er habe mich rufen lassen, dass noch das „Gebet eines Gerechten“ für ihn gebetet würde, bevor er stürbe. Er fügte hinzu: „So wie es in Jakobus steht“. Ich erkundigte mich etwas nach seinem inneren und äußeren Befinden, ob er etwa noch etwas gutzumachen habe oder ob sonst etwas in und bei ihm im Weg stünde. Er aber sagte, dass er innerhalb der drei Jahre seiner Krankheit alles gutgemacht habe, was der liebe Gott ihm gezeigt hat. Dazu habe er durch Briefe oder persönlich Leute zu sich gerufen. Es sei alles in Ordnung! Da er aber keinen um sich habe, der seines Sinnes sei und von uns und unseren Versammlungen erfahren habe, wollte er doch noch so gern, dass das „Gebet eines Gerechten“ für ihn im Glauben dargebracht würde. Dann wollte er gern sterben. Ich fragte ihn noch, ob wir auch die Bitte um seine Genesung ins Gebet miteinschließen sollen. Er aber antwortete: „Nein, es hat dem lieben Gott so viel Mühe gekostet, mich so weit zu bringen – drei Jahre, volle drei Jahre!“ Jetzt möchte er nur noch, dass eines von solchen Leuten mit ihm bete, die gerecht sind und mit Gott wandeln. Dann wolle er gern heimgehen.

Wir knieten nieder. Er richtete sich in seinem Bett auf. Und wir vereinigten uns in feierlicher Stunde im innigen, herzlichen Gebet. Ich werde nicht vergessen, wie seine Augen strahlten, als wir wieder aufgestanden waren. „Mit meiner Seele ist alles in Ordnung!“ – sagte er. Der Segen des Herrn war uns allen spürbar nahe. Er rief dann seine Familie ans Bett: seine Frau, seine Pflegetochter und seine zwei Schwestern. Er bat sie im liebevollen Ernst, doch ja nicht so lange zu warten wie er, um mit Gott und Menschen alles in Ordnung zu bringen. Der liebe Gott hat ihn drei lange Jahre auf das Krankenlager legen müssen, bis er zur rechten Erkenntnis gekommen sei. Es sei sein Herzenswunsch, dass der liebe Gott mit ihnen nicht so viel Arbeit hätte, wie er mit ihm gehabt hat. Als er seine Rede vollendet hatte, legte er sich hin und verschied im großen Frieden. Er hatte seine Seele und das Verhältnis zu Gott und allen seinen Mitmenschen in Ordnung gebracht.

Und droben werden wir ihn wieder sehen, wenn wir „das Vertrauen und den Ruhm der Hoffnung bis ans Ende fest behalten“ (Hebr. 3:6). Bald nach seiner Beerdigung bekehrte sich auch seine Frau und andere seine Angehörigen – eine herrliche Frucht des letzten Beispiels und Gebetes!

 

Trotzdem sich an jenem schon erwähnten Platz gute freundschaftliche Verbindungen angebahnt hatten, empfanden wir es als die Leistung des Herrn, nicht dort zu bleiben. Wir sehnten uns auch so sehr danach, die Geschwister aufzusuchen, mit denen wir vor dem Krieg zusammen waren. Ich begab mich an einen Platz, an dem früher eine große Gemeinde war. Dort fand ich nur einen Bruder. Er war nur allein übrig geblieben.

Ich ging 55 Kilometer weiter. Aber in den Häusern, wo früher Gläubige wohnten und auch Gottesdienste stattgefunden hatten, traf ich nur Fremde, und meist Russen. Auf meinen Kundschafterwegen weiterwandernd, kam ich nach Horschtschik. Welche Freude erlebte ich da! Hier traf ich eine kleine Anzahl von meinen guten Bekannten. Sie waren aus der Zerstreuung wiedergekommen und erbauten sich gemeinschaftlich. Wir hatten hier gleich eine gesegnete Versammlung miteinander.

Von meiner Reise wieder daheim angekommen, berichtete ich alles meiner Frau. Wir fassten sogleich den Entschluss, nach Horschtschik als vorläufigen Hauptstützpunkt überzusiedeln. Wohl drängten uns die Geschwister unseres bisherigen Platzes, besonders die Neubekehrten, sehr zum Bleiben. Aber am 22. April 1922 packten wir unsere Sachen, verwirklichten unsere Absicht und zogen nach Horschtschik. Ich empfand, dass für uns dort eine große Arbeit vorlag. Sehr schnell entwickelte sich dort ein gutes Werk. Oft hielten wir längere, d.h. mehrtägige, große Zusammenkünfte, auch Jugendversammlungen.

Bald erkannten wir die Notwendigkeit des Baues eines Bethauses. Der Plan wurde ausgearbeitet, und frisch begann das Schaffen. Der Herr gab das Gelingen und uns gesegnete Stunden. Auch besuchten wir in der Nachbarschaft russische Versammlungen. Jeder vierte Sonntag war als „Hauptsonntag“ bestimmt. An diesem Sonntag kamen die Geschwister aus den verschiedensten Richtungen zusammen. Sie versuchten auch mit regem Eifer Heil- und Wahrheitssuchende mitzubringen. Der Herr bekannte sich auch zu den Glaubensgebeten der Geschwister. Manch einer wurde von seinem körperlichen Leiden befreit und wurde gesund. Das ermutigte viele, den Verheißungen Gottes noch größere Aufmerksamkeit zu schenken. Und Gott bekannte sich zu seinem Wort.

Als ich schließlich die Anregung zu einer Konferenz-Versammlung gab, wurde es ernstlich erwägt. Manche der Geschwister stellten sich hinsichtlich der Verpflegung dieses zu schwierig vor, da sie doch alle arm waren. Andere dagegen begrüßten diesen Vorschlag mit freudigem Eifer. Ich sprach mit Bruder Barbulla, was hier zu machen sei. „O“, sagte er, „für Brot ist schon gesorgt. Und damit wir Fleisch haben, werde ich mein Rind schlachten!“ „Und wie wird es denn mit der Bezahlung?“ – fragte ich. „Wenn sich eine Seele bekehrt, dann ist es schon bezahlt“, erwiderte er. Ich war sehr ermutigt und erfreut und sagte: „Bruder, wenn du eine Seele so wert hältst, wird sich der Herr auch dazu bekennen!“

Und so war es auch. Es bekehrten sich mehrere zu Gott. Auch einige, die während ihrer Fluchtzeit an ihrer Seele Schaden genommen hatten, erlangten erneut Hilfe vom Herrn. Der Segen des Herrn breitete sich sichtbar aus. Von der Zeit nahm das Werk in besonderer Weise zu.