Unsere Neutralisierung

Im Sommer 1929 sah ich, dass ich wohl doch hier bleiben müsste. Meine Familie konnte auch nicht eher aus Russland herauskommen, bis ich hier eingebürgert war. So fragte ich in Leipzig in der Einbürgerungsabteilung deswegen an. Ich bekam den Bescheid, dass es zwecklos wäre, mich darum zu bemühen, wenn ich nicht schon 30 Jahre, mindestens 20 Jahre, im Lande lebte. Meinen Mut konnte mir aber auch dieser Bescheid nicht ganz rauben. Auf einen Rat hin wandte ich mich an einen Rechtsanwalt. Der ermutigte mich sehr, und wir unternahmen die nötigen Schritte. Aber nach einem Jahr wurde alles abgelehnt.

Der russische Konsul in Berlin sagte mir am 31. März 1931, dass ich zweckmäßigerweise meinen Pass auf ein ganzes Jahr verlängern sollte. Mein Pass in Russland hatte mir umgerechnet 717 RM gekostet. Mich bestürmten peinigende Gefühle, denn ich hatte ja keine Einnahmen. In diesen ratlosen Entscheidungstunden befand ich mich im Norden Berlins. Dort vertraute ich einem Bekannten meine schwierige Lage an. Dieser gab mir eine Adresse von einem Verkehrsbüro, durch das ich neue Hoffnungsstrahlen für meine Einbürgerung bekam. Ich meldete mich in Berlin polizeilich an und unternahm auch gleich Schritte wegen meiner Einbürgerung.

Von dem Auswanderungsbüro Berlin NW erhielt ich am 4. April 1931 auf meinen Antrag und den vorgelegten Urkunden eine Bescheinigung, dass wir deutschstämmige Rückwanderer sind. Weil wir die Zahlungen an das russische Konsulat, obwohl sie mir die Hälfte erlassen hatten, für die Verlängerung des Passes unmöglich waren, beantragte und erhielt ich den staatenlosen Passus. So war ich hier und meine Frau in Russland staatenlos, und wir suchten uns beim Warten gegenseitig zu ermutigen. Es standen aber viele Gläubige im In- und Ausland im Gebet hinter uns. Ja, der Herr selbst stand uns stets spürbar zur Seite! Das machte auch möglich, all die nötigen Papiere und Unterlagen für die Einbürgerung als Deutsche herbeizuschaffen. Der Herr half uns auch, die nötigen Ausgaben zu bestreiten. Wir hatten ja keine Einnahmen, ich hier und meine Frau in Russland.

Während der ganzen Zeit hat meine Frau dort in Russland auf die undenkbarste Art und Weise wegen ihrer Ausreise gewirkt. Sie war stündlich in Gefahr, wie viele andere, auch verbannt und verschickt oder ins Gefängnis gestopft zu werden. Auch war große Gefahr wegen Räubern, die schon öfter an der Tür ihres Hauses waren. Wie oft sah und erfuhr meine Frau am Morgen, dass man Dächer und Türen in Ställen und Wohnungen aufgebrochen hatte. Man raubte dann die noch spärlich vorhandenen Lebensmittel, stahl das Vieh aus dem Stall, und oft fand man auch die Leute ermordet. Aber der Herr sorgte für Schutz für meine Familie.

Eines Tages erfuhr meine Frau, als Soldaten klopfen und zu dem allabendlichen Musizieren und Singen mit ins Haus kommen wollten, dass sie ständig patrouillierten und somit auch sie bewachten. Unser Haus war in die „Stalinlinie“ mit unterirdischen Bunkern mit einbezogen. Die Herrichtung der unterirdischen Anlagen musste bewacht werden, und somit auch meine Familie. Der Herr war auch da Schutz und Schirm!

Meine Frau schrieb mir in der Zeit sehr oft. Aber nie hat sie mir die Schwere ihrer Lage geklagt oder offenbart. Wenn sie am Anfang ihrer Briefe mir auch ihr Herz auszuschütten begann, war das Weitere und der Schluss Dankbarkeit für das Wohlergehen und des Herrn Hilfe, im Gegensatz zu anderen Notleidenden und Gequälten.

Ein kurzer Auszug aus einem Brief vom 10. März 1932: „Man machte hier Haussuchungen und nahm manchen Leuten das letzte Pfund Getreide weg. Wir hatten nicht, womit wir unser Land einsäen konnten, es gab auch nichts zu kaufen. Wenn jemand etwas zum Markt bringt, wird es ihm von Behörden-Bediensteten abgenommen. Aber gelobet sei der Herr für seine Kinder! Die Brüder aus anderen Dörfern besorgten mit viel Mühe für uns die Aussaat. So glauben wir fest, dass der Herr auch dafür sorgt, dass wir wieder zusammen kommen!“

Auch in meinen Briefen, die sonst sehr eintönig waren, weil ich Jahre hindurch nichts Positives berichten konnte, war kein Klagen. Ich versuchte, immer Hoffnung durchklingen zu lassen, dass wir noch über kurz oder lang eingebürgert werden und dann am Leben zusammen kommen. Wir warteten auf Gottes Stunde, und das nicht vergebens.

Gerade zu Weihnachten erhielt ich von der deutschen Behörde die Einbürgerungsurkunde. Gleichzeitig wurde auch das deutsche Konsulat in Kiew davon in Kenntnis gesetzt. Daraufhin erhielten dann meine Frau und Kinder im Januar 1933 einen endgültigen deutschen Reisepass. Die russischen Behörden machten noch manche Schwierigkeiten, aber sie bekamen doch am 10. März das Ausreisevisum. Und weil sie nun nicht mehr russische Staatsangehörige waren, konnten sie sich auch gleich auf die Reise begeben. Sie erfreuten sich der wunderbaren Führung der Herrn.

Ihr Weg führte zuerst nach Kiew, von wo meine Frau mir am 23. März telegraphisch ihre Ankunft mitteile. Sie mussten noch mal über Nowograd-Wolhynsk und in Shepetowka über die Grenze. Dann ging es über Warschau, Schneidemühl nach Berlin. Also holte ich meine Frau und 3 Kinder, Otto, Agnes und Artur, am 24. März 1933, um 7 Uhr abends in Berlin am Schlesischen Bahnhof ab. In den nächsten Tagen begaben wir uns, mit einem Halt in Seegrehna, bei Lutherstadt Wittenberg, nach Leipzig, wo ich mich im Moment aufhielt.

Von allen Seiten wurde uns viel Herzlichkeit und Freude bezeugt. Uns aber schien von Anfang an alles wie ein Traum. Es waren viereinhalb Jahre Trennung dazwischen! So war es erforderlich, dass wir uns wieder in das innige, traute Familienleben hineinfanden. Die beiden jüngeren Kinder mussten mich erst wieder kennen lernen. Artur, erst 9 Jahre alt, sagte öfter „Onkel“ zu mir. Und als unser ältester Sohn Ruben, der mit mir nach Deutschland gefahren war, von der Bibelschule in Kassel zu Besuch kam, war er seinen Geschwistern auch fast fremd. Otto war gleich in Berlin geblieben und hatte dort eine kaufmännische Lehre angetreten. Im Reformhaus in Berlin-Halensee beendete er 1936 seine Lehre und wurde als Handelskaufmann geprüft. Vom Frühjahr bis Herbst 1936 absolvierte er den Reichsarbeitsdienst. Am 2. November 1937 wurde er zum Heeresdienst eingezogen.

Unser Sohn Ruben, der sich zur Arbeit für den Herrn berufen fühlte, begann nach der Bibelschule seine Tätigkeit als Hilfsprediger in Essen und Gelsenkirchen.

Agnes besuchte gleich die Haustöchterklasse in der Berufsschule. Sie erwarb sich durch praktischen Unterricht Näh- und Zuschneidekenntnisse. Sehr emsig war sie dabei, sich an diversen Kursen in der Volkshochschule für alle vorkommenden Büroarbeiten auszubilden. Sie war auch sofort sehr aktiv in dem schon bestehenden „Hilfswerk für die Hungernden in Russland“. Von früh bis abends zu ihren Lehrgängen war sie emsig tätig in dem Hilfswerk, bei der Beantwortung der vielen Post, dem Versand der Liebesgaben an die notleidenden Geschwister in Russland und den anfallenden Büroarbeiten. Außerdem arbeitete sie emsig an diesem Buch: „Unter der Führung des Allerhöchsten“.

Artur war 9 Jahre, als er nach Deutschland kam. Durch die widrigen Umstände hatte er in Russland nur erst fünf Monate die Schule besucht. Mit der Hilfe Gottes gelang es, dass er in zwei Jahren zwei Klassen überspringen konnte. In seinem 11 Lebensjahr konnte er noch in die „Sprachklasse“ (Oberschule) aufgenommen werden und anschließend die „Höhere Handelsschule“ absolvieren.

Für meine Frau, Agnes und Artur war alles eine riesengroße Umstellung. In Russland lebten sie im eigenen Häuschen auf freiem Lande. Hier waren sie in der Großstadt Leipzig als Untermieter in einem gewerblichen Raum, in den kein Sonnenstrahl kam. Wir hatten kein geregeltes Einkommen. Agnes arbeitete von früh bis spät ohne jegliche Vergütung in dem Hilfswerk. Es war für meine Frau sehr schwer, fast ohne Einkommen die Familie zu ernähren und zu versorgen. Aber die Dankbarkeit, dass Gott sie, wie einen Brand aus dem Feuer, aus Russland herausgerettet hatte, ließ auch das Schwere ertragen. Und doch ist die Not leichter zu tragen, wenn allgemein alle sie erleiden. Aber hier standen sie in der Not allein und wurden oft missverstanden. Es wurde auch so ausgelegt, als ob Agnes nichts verdienen wollte und sich auf die faule Haut legte. Und dabei arbeitete sie hart, um den Lieben in Russland in ihrer Not beizustehen und zu helfen – ohne jegliche Vergütung.

Das Osterfest 1933 war für uns trotz allem eine große Freude. Von Herzen dankten wir Gott, dass er uns wieder zusammengeführt hatte. In den Tagen bekehrten sich auch unsere Kinder zu Gott, dafür waren wir auch sehr dankbar!

Zu unserer großen Freude war es uns auch vergönnt, am 12. September 1936 das Fest der silbernen Hochzeit zu feiern. Im Kreise unserer Kinder und vieler Gläubigen, insgesamt 70 Personen, lobten und priesen wir Gott für seine Wunder, die er an uns getan hat. Wie oft hatten wir in den Jahren der Trennung fast nicht mehr glauben können, dass wir am Leben zusammen kommen würden! Das Fest wurde durch viele Gedichte und Lieder verschönt und war wirklich ein Segen für alle Anwesenden. Aus den kleinen Gemeinden, die ich monatlich einmal besuchte, kamen zum Fest „nahrhafte“ Spenden und so „wurden alle satt“, wie bei der Speisung der 5000.

 

Als ich 1929 um unsere Einbürgerung wirkte, hat der Rechtsanwalt, der dabei helfen sollte, in seinem Schriftwechsel angegeben, dass ich „Semit“ sei. Er hatte mich darüber nicht befragt, und ich wusste auch nichts davon. Nach der Meinung des Rechtsanwaltes war es unbedeutend. Es hatte aber für uns sehr große negative Auswirkungen.

Erst im Jahre 1936, als sich unser ältester Sohn nach der Beendigung der Bibelschule zu den vorgeschriebenen 6 Wochen Heeresdienst meldete, erfuhren wir, dass wir Juden sein sollten. Nun konnten wir uns auch die mancherlei Unfreundlichkeiten und Schikanen seitens der Behörden erklären. Durch die Reichsstelle für Sippenforschung klärte sich die Sache aber auf. Wir bekamen dann eine Bescheinigung, dass wir Arier sind. Diese Sache hat uns viele Schwierigkeiten und Nachteile gebracht, vor allem für die Kinder. Wir danken aber Gott, dass er auch da alles richtig hinausgeführt hat.