Weißrussland

Die Weißrussen leben östlich vom Litauischen bis zum Pinsker Sprachgebiet. Seitdem wir mit gläubigen Weißrussen in Verbindung kamen, lernten wir dieses Volk und den Unterschied zwischen ihnen und den anderen Völkern erst recht kennen. Eine Reihe von Jahren hatten wir schon vorher in der Nähe ihrer Grenzen gewohnt, es war aber kein kennen Lernen.

Unsere erste Zusammenkunft, die wir 1922 in Wolhynien veranstalteten, nannten wir „Brüderversammlung“. Zu einer Konferenz hätten wir von der Behörde keine Erlaubnis bekommen. Unverhofft kamen hierzu auch zwei gläubig gewordene Weißrussen. Sie hatten die großen Strapazen nicht gescheut: Außer 70 Kilometer Bahnfahrt sind sie auch noch 150 Kilometer zu Fuß gegangen. Seit diesem kennen Lernen mit den zwei Brüdern besuchten uns von Jahr zu Jahr von dort immer mehrere Weißrussen. Der gottesfürchtige Ernst in diesen Leuten bewog mich, sie wunschgemäß ein- bis zweimal jährlich zu besuchen.

Das Reisen in Weißrussland ist für einen Fremden nicht leicht. Obwohl mir das Reisen durch die Wälder und auf den Sandwegen schon sehr bekannt war, erfuhr ich im Jahre 1925 auf meiner Reise zu einer Konferenz in einem Dorf, in der Nähe von Pinsk an der Pripjet, mancherlei. Vom Bahnhof Jesk, einem Städtchen, holte man mich ab. Wir gingen etwa 15 Kilometer zu Fuß auf Wegen und Stegen, die mir sehr fremd aussahen, bis zu einem Ort, in dem auch Gläubige wohnten. Am nächsten Tag sollte es weitergehen. Am frühen Morgen wurden dann auf einen vierrädrigen Holzwagen Lebensmittel, Pelze, Bastschuhe und manches andere geladen. Zwischen die zwei Deichseln führte man ein kleines Pferd. Dann kam der Sattel und Holzbügel oben drüber. Ich sah mich vergebens nach einem zweiten Wagen um, denn wir waren doch 6 Passagiere.

„Komm, setze dich hier herauf!“ – rief mir der Fuhrmann zu. „Wo herauf?“ – fragte ich. „Oben auf das Futter und die Pelze!“ – kam die Antwort. Und gleich waren sie mir behilflich, mich auf einen sicheren Fleck hinzusetzen. „Wjoo“, sagte er zum Pferde, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Der Fuhrmann ging neben der Fuhre, alle anderen blieben auf dem Hof stehen. „Und jene?“ – fragte ich den Fuhrmann. „Die überholen uns bald“, sagte er lächelnd. „Aha“, dachte ich bei mir, „da kommt eine leere und bessere Fuhre nach“. Nach etwa zweieinhalb Stunden kamen uns die Leute, mit Stöcken in der Hand, nach.

Ohne Beil, Feuer und Messer begibt sich der Weißrusse, ob zu Fuß oder mit der Fuhre, nicht auf den Weg. Denn das ist sein Schmiede-, Stellmacher- und Sattlerhandwerkzeug, welches ihm aus jeder Verlegenheit hilft. Bricht ihm etwas, so repariert er es aus und mit Holz. Und wenn ihm etwas reißt, so bindet er es mit im Feuer geschmeidig gemachten jungen Bäumen oder mit Bast (Rinde der jungen Bäume) zusammen. Kreuzt seinen Weg ein tieferes Wasser, so fällt er einen Baum so, dass er beide Ufer erreicht und setzt seine Reise auf dem Baum fort. Der Fußweg führt immer nicht weit vom Fahrweg.

Nach einer Weile kamen wir an einen langen Minsker „Balotto“ (Sumpf), durch den wir fahren mussten. Mein Fuhrmann mutete es mir wohl nicht zu, dass ich auf den dünnen Baumstämmen herüberklettern konnte. Es war im Herbst und gerade in einer sehr regenreichen Zeit. Als der Wagen begann, im Wasser zu verschwinden, packten wir all unsere Sachen hoch auf das Heu. Aber es ging immer weiter in tieferes Wasser. Wir klammerten uns an die festgebundenen, aufgestapelten Sachen, damit uns das Wasser nicht wegspülte. Aber wir kamen glücklich durch das Wasser an das andere Ufer. Wir gelangten dann an ein mitten im Walde gelegenes Dörfchen. Hier kehrten wir bei einer gläubigen Familie zum Mittagessen ein. Wir wurden von der Schwiegertochter, namens Gerinna, die sich über unsere Ankunft recht herzlich freute, sehr gastfreundlich bewirtet.

Bald setzten wir dann unsere Reise fort. Und etwa um 6 Uhr abends hatten wir unser Ziel erreicht und etwa 70 Kilometer zurückgelegt. Wir trafen dort Leute an, die zu Fuß einen noch viel weiteren Weg zurückgelegt hatten. Noch an demselben Abend begann unsere Konferenz mit vier Versammlungen an jedem Tag.

Als ich am nächsten Morgen aufgestanden war, kam eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm auf mich zu. Sie strahlte große Freude bei der Begrüßung aus. „Wie heißt du?“ – fragte ich sie, weil sie mir so bekannt vorkam. „Ich bin die Schwester Gerinna, die euch gestern bedient hat. Ich komme eben von zu Hause. Die 35 Kilometer gehe ich jeden Sonntag, mit meinem Kind auf dem Arm. Es macht mir Freude, wenn ich zum Gottesdienst gehen kann!“ Mehr denn je zuvor dachte ich selbstprüfend nach, was die Liebe Gottes alles vermag! Sie kann tragen, sie geht weite Wege, und das Gutestun fällt ihr nicht schwer!

Die Leute freuten sich, dass ich mich in all ihre Weisen und Gepflogenheiten so gut hineinfand. Anfangs stellten sie mir einen Teller hin, legten auch ihre einzige Küchengabel und den Blechlöffel daneben. Weil sie aber alle mit Holzlöffeln aus einer Schüssel aßen und die Kartoffeln sowie das Fleisch mit den Fingern nahmen, machte ich es auch so. Damit machte ich ihnen eine große Freude, und sie sagten: „Er ist wie unser einer!“

Alle diese Leute hier waren sehr gottesfürchtig. In Krankheitszeiten und anderen Nöten vertrauten sie kindlich ihrem Gott. In ihren Gottesdiensten erzählten sie oft die wunderbarsten Dinge. Sie berichteten, wie ihnen die Hand das Höchsten in jener „Polish“  (Krankheit) geholfen hat, dort, wo sie keinen Arzt noch menschliche Hilfe hatten. In den Stunden unseres Beisammenseins erzählten sie im Beisein ihrer Nachbarn, die dieses auch bestätigen, dass der Allmächtige ihnen auf ihre Gebete hin bei Schlangen- und Otterbissen, bei Beinbrüchen, Blutvergiftungen und bei manchen lebensgefährlichen Krankheiten oft plötzlich geholfen hat.

Ich glaubte, dort in deutsch predigen zu können. Nun war aber niemand, der es übersetzen konnte. Der Herr half aber wunderbar, dass ich diese große Versammlungen, wo ich ca. 18 Predigten hielt, in ihrer Sprache durchführen konnte!