Erlebnisse im sibirischen Bürgerkrieg

Im Herbst 1919 brach auch bei uns der Bürgerkrieg aus, und wir mussten durch schwere Dinge gehen. In unserem Dorf stand ein „Karatelnij Otrjad“ (Straftrupp), etwa 30 Mann, von denen auch bei uns einer einquartiert war. Bei diesem „Trupp“ waren nur einige, die wussten, worum es eigentlich ging. Die meisten waren Soldaten aus dem Volk, die man gezwungen hatte, mitzumachen. Ihre Aufgabe war, die Fahnenflüchtigen und die, die der Sowjetregierung untreu geworden waren, aufzugreifen. In jener Zeit waren viele Männer durch den langjährigen Krieg und den Bruderkrieg müde geworden, noch weiter zu kriegen. Andere wussten auch gar nicht, für wen sie sich einsetzen sollten. Die meisten Menschen liefen von der Stadt auf das Land und von einem Ort zum anderen, um nicht gegen ihre Brüder kämpfen zu müssen.

Weil in unserem Ort die drei Trakten zusammenliefen, konnten sie die flüchtigen, geängstigten Männer, die meist des Nachts reisten, leicht greifen. Die Männer, die sie den Tag über schnappten, und die ihnen verdächtigen Männer, die sie überall aus den Häusern holten, ließen sie des Nachts alle verschwinden. Sie waren von der Erde weg, es war auch kein Grab oder sonst eine Spur von ihnen zu finden. Wir haben dadurch so manchen Schrecken miterlebt. Der Soldat, der bei uns in Quartier war, war einer von den „gezwungenen Freiwilligen“. Bei ihm arbeitete das Gewissen noch gut. Wie mag auch ihn der Anblick der armen, in Todesangst Stehenden quälen, auch hinterher! Wie viele lagen bittend vor diesen „Machthabern“, ihnen doch ihr Leben zu lassen! Und dann jene, die sie aus den Häusern geholt, aus den Armen ihrer lieben Angehörigen entrissen haben! Auch mit denen machte man kein Federlesen, man brachte sie alle um. Die Frauen und Kinder, die Mütter und Väter warteten dann vergeblich schmerzlich auf die Rückkehr der Ihrigen. Vergeblich schauten sie nach ihnen aus. Unser Quartiergast musste die Leichen unter Sträuchern, Stroh und Dunghaufen vergraben. Von ihrem Verbleib erfuhren die Wartenden nie etwas. Und dieses geschah nicht nur mit Einzelnen. Eines Vormittags konnte er durch die Belastung des Erlebnisses nicht mehr schweigen. Er war an Leib und Seele erschüttert und fertig. Und aus ihm schrie es fast heraus: „Gestern Nacht waren es 13, heute Nacht 18 Männer, die wir wegschaffen mussten!“

 

Weil der Bürgerkrieg immer näher kam, wurden wir in unserem Haus übervölkert. Wir wohnten ja an einem sehr belebten Platz. Bei uns drangen so viele Flüchtlinge und Soldaten ein, dass wir nicht mehr Herr im Hause waren. Die Tür musste Tag und Nacht geöffnet bleiben, die Leute gingen bei uns ein und aus. Und drinnen standen und lagen oft Mann an Mann. Um das Bett für die Nacht haben zu können, mussten wir es auch am Tag besetzt halten. Ansonsten war es von Kranken oder Müden belegt.

Um meinen Apfelschimmel und vor allem auch mich zu retten, hielt ich mich etwa 60 Werst von unserem Haus entfernt auf. Hätte ich das nicht getan, wäre das Pferd und vor allem auch ich gleich mitgenommen worden. Nach und nach holte ich meine Familie und auch die nötigsten Sachen auch dorthin. Es war am 1. Oktober, als ich es nochmals wagte, zu unserem Haus zu fahren, um die letzte Kuh und das Schwein zu holen. An jenem Tag fing gerade der Winter mit Schnee und Sturm an. Ich war etwa 15 Werst von unserem Haus weggefahren, da begann die „weiße“ Armee unsere Straße zu kreuzen. Ehe wir es merkten, befanden wir uns zwischen der „roten“ und „weißen“ Front. Nun mussten wir fahren, wo wir nur durchkamen, nicht wohin wir wollten. Um etwas Abstand von den Kriegern zu bekommen, schlugen wir die Richtung durch den Wald und übers Feld ein. Dreimal verfuhren sie mit uns so, als wären wir den Räubern in die Hände gefallen. Zweimal war der Apfelschimmel schon halb ausgespannt. Ich sollte dafür ein lahmes, dürres Pferd nehmen.

Auch hier konnte ich die Wunder Gottes erleben. Ich konnte verspüren, wie Gott Gedanken lenkt, wie er Gebete und Stoßseufzer erhört. Zum Abend kamen wir endlich in eine deutsche Kolonie Priwalno, zu unserem zur Zeit dort wohnenden Schwager. Sie waren über unsere Ankunft nicht wenig erschrocken, weil auch ihr Hof und alle Zimmer mit Soldaten überfüllt waren. Sie befürchteten, dass wir da die Kuh, das Schwein, das Pferd und den Wagen los würden. Doch versuchten wir alles unterzubringen. Wir beeilten uns sehr, weil wir noch in das von der Frau und den Kindern belegte Bett mit hinein wollten. Weil das Bett ganz hinten stand, mussten wir dann über die schlafenden Soldaten auf der Erde steigen. Sie lagen dicht aneinander. Wir brachten dann die Nacht, 6 Personen in einem Bett, sitzend zu. Herzinnig flehte ich zum Herrn, er möge über uns und unser Vieh seine schützende Hand halten, so wie er es bisher getan hatte. Ich erwartete auch im Glauben hierin die Hilfe des Herrn.

Mein Schwager flüsterte mir ins Ohr: „Wir wollen sorgen, dass ihr um 5 Uhr weg seid. Vielleicht bekommt ihr auch das Pferd noch weg“. Aber Gott, der über alles Macht hat, hilft zur richtigen Zeit. Nachts, etwa um 3 Uhr verließen die Soldaten plötzlich Haus und Hof und rückten ab. Anstatt unsere Sachen und Vieh mitzunehmen, ließen sie noch manches von ihren Sachen liegen. 15 Werst hatte ich noch bis zu dem Ort, wo sich meine Familie befand. Wir begaben uns auch ganz früh auf die Reise. Kaum waren wir 7 Werst hinter dem Dorf, fiel unsere Kuh auf dem glatten Eis. Trotz all unserem Bemühen, bekamen wir sie nicht mehr auf die Beine.

Ich fuhr aber schnell bis in den nächsten Wald zu meinen Bekannten, dem Förster Ziedling. Dort ließ ich den Wagen stehen, spannte das Pferd vor einen niedrigen Holzschlitten und galoppierte die etwa drei Kilometer zurück. Als wir neben der Kuh hielten und sie auf den Schlitten wälzen wollten, hörten wir ganz nahe ein Maschinengewehr knattern. Bei mir war nur der 15-jährige Willi Ziedling. Willi erfasste das Pferd, und in seiner Angst rief er aus: „Onkel, ich laufe, wenn du nicht alles sofort liegen lässt und losfährst!“ Wie ich damals die Kuh alleine so schnell auf den Schlitten bekam, ist mir noch heute ein Rätsel. Denn in demselben Moment setzte sich der Schlitten in Bewegung. Die Leine und Peitsche hatte der Willi in der Hand. Ich musste die Kuh halten. Die Kuh war ja nicht angebunden, und der Schlitten war ohne Rungen und Seitenbretter. Der kleine „Fuhrmann“ stand auf dem vorderen Teil des Schlittens und ließ das Pferd traben. Er hätte sich wohl auch nicht erbitten lassen anzuhalten, auch wenn alles vom Schlitten gefallen wäre! Er sagte dies auch später selbst zu Hause, er dünkte sich in Lebensgefahr.

Als ihn sein Vater fragte, ob er beim Aufladen der Kuh tüchtig mitgeholfen hatte, sagte er: „Nein, Vater, die Kuh hat sich selbst geholfen, denn es ging alles blitzschnell!“ Als ich ihnen dann aber unser Ergehen schilderte, sagten Willis Eltern: „Dem Herrn sei alle Ehre, er hat euch beigestanden!“ Die Kuh wurde in Ziedlings Stall gebracht, und ich langte nach etwa 3 Stunden an meinem Ziel an. Schon am Dorfanfang kamen meine Frau und Kinder mir entgegen. Sie waren sehr besorgt, denn sie hatten mich schon am Abend vorher erwartet. Wir begrüßten uns mit frohem, dankbaren Herzen und zogen frohen Mutes das Dorf entlang. Als wir eben unsere Wohnung erreichten, kamen auch schon die Roten und nahmen das Dorf ein. Nach ein paar Tagen konnten wir wieder in unser Haus zurückkehren.

Wir hatten in einem Schuppen an unserem Haus einen über 2 Meter tiefen Keller ausgegraben. Diesen füllten wir mit Schnee, obenauf kam eine dicke Schicht Stroh. So hatten wir den ganzen Sommer über einen Eiskeller. In diesen Keller hatten wir, ehe wir flüchteten, unsere Lebensmittel untergebracht. Obenauf packten wir Holz, dann Heu und Stroh, ganz zum Schluss altes Stroh. Als wir zurückkamen, fanden wir unseren Vorratskeller so gnädiglich beschützt, wie wir ihn verlassen hatten. Auch unsere so leicht brennbare Gebäude waren erhalten. Nur in den Wohnräumen sah es sehr wüst aus.

 

Schon eine geraume Zeit, ehe wir unser Haus verließen, flüchteten tausende wohlhabende Leute, aus Furcht vor den Bolschewiken, auf diesem Trakt bei uns vorbei. Es mutete uns merkwürdig an, dass diese Leute schon damals wussten, wie es ihnen ergehen würde, wenn sie dort blieben. Sie flüchteten nach Osten, in Richtung China und Japan.

In diesen Tagen war der große Fluss Irtysch im Eisgang, die Fähre ging nicht mehr. Und so blieben viele Flüchtlinge am Wasser liegen. Das Elend lässt sich nicht beschreiben, dass sich in den Tagen am Irtysch abspielte. Die Roten drangen vor, die Eisenbahnbrücke wurde auch gesperrt, die Leute hatten keine Möglichkeit weiterzukommen. Wenn man sie fragte, warum sie fliehen, gaben sie zur Antwort, dass sie, weil sie sich durch ihren Fleiß einiges erworben haben, nun umkommen mussten durch die Roten! Nun wäre es schon egal, ob sie sich jetzt zu Tode ängstigen, auf dem Wege sterben oder durch die Roten umgebracht würden...

Als der Irtysch ein wenig zugefroren war, ließen sich die Leute nicht mehr halten. Sie legten Bretter auf das Eis, und auf verschiedene Art und Weise versuchten sie, über das Wasser zu kommen. Nachher erfuhren wir, dass sich auf einmal zu viele auf das Eis begeben hätten. Eine Menge Menschen und vollgepackte Fuhren versanken in dem reißenden Irtysch. Es konnte niemand mehr gerettet werden.