Anfang der unsicheren Zeit

Uns, die wir in Russland geboren und uns eingelebt hatten, fiel es sehr schwer, das Land wieder zu verlassen. In der Hoffnung, dass es wieder besser wird, haben wir auch in der schweren Zeit alles erduldet und ertragen. Viele Leute, die interniert und verbannt waren, hatten sich mit der Zeit wieder zusammengefunden. Sie suchten, sich gegenseitig zu ermutigen und zu helfen.

In dieser Zeit wurden die friedlichen Bewohner in den Kolonien durch zugezogene Fremdlinge unsicher gemacht. Deren richtige Herkunft und Tätigkeit konnte von den Kolonisten nicht festgestellt werden. Diese Leute, ob sie aus Gefängnissen oder sonst wo herkamen, machten sich sesshaft. Sie bauten auf die den Bauern abgenommenen Landteile ihre Häuser und Nebengebäude. Dadurch befanden sie sich mitten zwischen den Einheimischen. Auf alle Art und Weise wurden die bis dahin ruhigen Bewohner geschädigt. Die Fremdlinge begannen auch, des Nachts die Leute zu berauben. Sie brachen Wände durch, schnitten Löcher in die Dächer, schlugen Fenster ein und brachen Schlösser auf. Und auf anderen unglaublichen Wegen entkamen sie nicht nur allein mit dem gestohlenen Vieh, sondern sie stahlen auch Lebensmittel, die die Bewohner für sich und ihre Kinder noch irgendwo versteckt hatten.

Das Unerträglichste war, dass diese Leute zu Dorfvorstehern, Dorfpolizei und anderen aufsichtführenden Posten angestellt wurden. Sie bekamen somit die Gewalt ganz in ihre Hände. Außerdem sorgten sie auch dafür, dass diejenigen, die ihnen in ihrem schlechten Treiben im Wege waren, plötzlich verschwanden. Wohin?

Eines Tages erzählte man uns, dass man den Dorfvorsteher Ittermann erschossen habe. Grund: Er hatte durch das Fenster geschrien, dass man ihm seine Kuh lassen sollte.

An einem Dienstag Abend, als wir aus dem Gottesdienst nach Hause gingen, quälten mich solch ängstliche Gefühle, als ob ich ganz in der Nähe von Räubern beobachtet würde. Auch beim Abfüttern im Stall hatte ich dasselbe Empfinden. Ohne ein Licht anzuzünden, gingen wir zu Bett. Im Traum sah ich unseren neuen Nachbar Sachar vor unserer Tür in einem langen, grauen Soldatenmantel stehen. Als ich die Tür öffnete, ließ er mich nicht mehr zurückgehen. Er zog von hinten, aus seinem Ledergürtel, einen Revolver hervor, hielt ihn mir an die Brust und verbot mir, weder nach links noch nach rechts zu schauen. Ich war in großer Angst, sah aber doch noch zwei, die in unseren Stall eingebrochen waren und uns beraubten. Dabei erwachte ich.

Diesen Traum hielt ich für eine Warnung und ging nicht hinaus. In der Nacht war stürmisches Regenwetter und sehr dunkel. Sehnsüchtig wartete ich auf den Tag und dass es licht würde. Schon zu jener Zeit legte sich immer mit Anbruch der Abenddämmerung ein schweres Angstgefühl auf uns. Die Nacht ging bei uns immer mit großer Furcht einher. Herzlich freuten wir uns immer, wenn wir bei Tagesanbruch noch alle zusammen waren. Wir waren auch dankbar, wenn in unserem Stall noch alles Vieh da war.

Als wir dann am jenen Morgen in den Stall kamen, war unser mit großer Mühe fett gefüttertes Schlachtschwein weg. Trotzdem waren wir noch froh, dass nicht noch etwas Schlimmeres geschehen war. Alle, die davon erfuhren, sagten: „Das hat der große Sachar gemacht!“ Obwohl wir genügend Zeugen und Beweise gehabt hätten, waren wir darüber ganz stille. Obwohl man durch die Spuren hätte beweisen können, wohin das Schwein gebracht wurde, hätten wir doch nichts erreicht. Wir hätten dafür nur eine böse Rache zu spüren bekommen.

Eine uns gut bekannte Familie Kempe, die im Begriff war, nach Taurin auf das Fürstenland zu ziehen, hatte in Wolhynien ihr Vieh sowie ihre Vieh- und Ackergeräte verkauft. In Taurin konnte man von Mennoniten, die teils ins Ausland, teils wieder zusammen in die Molosh oder in die Krim gezogen waren, solche Höfe mit allen Geräten und großen Baumgärten (Obstbäume) für ein paar Rubel kaufen. Das Land durften die Mennoniten nicht verkaufen, weil es staatlich war.

Frau Kempe erzählte mir, dass sie an einem Abend, etwa 3 Tage vor ihrer Abreise, ganz plötzlich eine große Angst überfiel. Sie gingen dann aber zu Bett. Sie waren noch nicht eingeschlafen, als jemand von draußen mit einem schweren Gegenstand so heftig ans Fenster schlug, dass der Fensterrahmen samt Glas bis in die Mitte des Zimmers flog. Im selben Moment standen 3 Männer vor ihnen, die durchs Fenster gesprungen waren. Sie gaben einen Schreckschuss ab und forderten das Geld. „Aha“, sagte der im Bett aufgesprungene Hauswirt. Die Räuber schossen sofort auf ihn, weil sie merkten, dass er sie erkannt hatte. Die Frau, obwohl sie die Räuber auch gut kannte, schwieg in dem Moment und auch nachher stille. Nach dem Schuss ergriff Kempe durch das offene Fenster die Flucht. Er wurde aber von dem vierten Räuber, der draußen stand, erschossen. Vergebens würgten und schlugen sie dann die Frau, die das Versteck des Geldes nicht verriet. Ihr ältester Sohn, etwa 14 Jahre alt, erwachte im Nebenzimmer von dem Schießen und Geschrei. Er schlich sich durch ein Hinterfenster aus dem Haus, lief dann von Haus zu Haus und schrie um Hilfe. Die Räuber, als sie den Lärm, den der Sohn machte, und die zur Hilfe eilenden, aufgeregt rufenden Nachbarn hörten, entflohen, ohne dass sie das Geld gefunden hatten.

Bei all dem Durcheinander und dem Suchen nach dem Geld, hatten die Räuber unter anderen Sachen auch die Bibel auf die Erde geworfen. Sie hatte sich beim Fallen geöffnet, und das Geld, das sie in die Bibel gelegt hatten, lag gut sichtbar in der geöffneten Bibel. Die Räuber aber, in ihrer blinden Wut, sahen das Geld nicht.

Ein Wagen, der mich zur Hochzeit ihrer ältesten Tochter holen sollte, war schon bestellt. Er sollte mich am Morgen nach der Unglücksnacht abholen. Wir wohnten 50 km entfernt. Aber am zweiten Tag war ich schon bei der von den Räubern krank gemarterten Frau und deren Kindern. Alles wirkte so zerstört, die Leiche war auch noch im Haus. Die herausgeschlagenen Fenster waren mit Decken verhängt, in den Wänden und Balken waren noch Löcher von den Kugeln. Der Platz im Blumengarten, wo der Mann verblutend gestorben war, war mit einer Tür und Brettern zugedeckt. Ich hielt mich dann bei dieser schwer geprüften Familie auf.

Die Nachbarn kamen nicht, da sie in jeder Minute auf das Erscheinen der Polizei warteten. Aber wir alle warteten vergebens. Von dem Dorfsrat erhielten wir dann die Erlaubnis, und wir konnten den Ermordeten am 4. Tag beerdigen. Wie es dort so üblich war, fand die Trauerfeier im Trauerhaus statt. Ich wählte den Text: „... und weiß nicht, was mir dort begegnen wird“. Nach drei Tagen fand dann auch die Hochzeit der Tochter statt, die von Trauer überschattet war. Die tief geängstete Familie wollte an der Schreckensstätte nicht mehr bleiben, und so konnte auch die Hochzeit nicht mehr verschoben werden. Wie sie es sich vorgenommen hatten, zogen sie sehr bald weiter südlich.

 

Mit jedem Tag wurde es für die Bewohner schwieriger. Jedes neu herausgegebene Gesetz legte den Bürgern neue Lasten auf. Es wurden von ihnen ungeheuer hohe Steuern verlangt, von denen die Leute in der Zarenzeit nichts wussten. Anstelle der Läden und Geschäfte wurde ein Staatskonsum eingerichtet. In dem konnte jeder, der Stimmrecht hatte, einkaufen. Stimmlos waren gewesene Gutsbesitzer, Fabrikbesitzer, Kaufleute, die Geistlichen, Leute, die Dienstboten beschäftigt hatten, und politisch Andersgesinnte.

Als dann auch die Landwirte angegriffen wurden, empfanden wir es am stärksten. Denn dadurch wurden unsere Geschwister und fast alle Deutschen getroffen. Die zähe Landbevölkerung in eine Kollektivwirtschaft hinein zu bekommen, war nicht so leicht, wie man es sich vorgestellt hatte. Damit quälten sich die Roten schon jahrelang, konnten aber ihr gestecktes Ziel nicht erreichen.

Die Leute zogen von einem Ort zum anderen, verließen ihre Häuser und ihr Land klammheimlich. Sie fingen dann auf einer Stelle, an der sie unbekannt waren, wieder von Anfang an. Die Züge und Bahnhöfe waren im ganzen russischen Reich überfüllt. Viele Leute fuhren nach Asien, manche kehrten auch wieder zurück. Das waren alles Siedler, die noch nicht zu den Verbannten zählten. Sie wollten ihre Landwirtschaft wieder irgendwo einrichten. Sie suchten das, was ihnen in den vergangenen Jahren verloren gegangen war. Das von Gott in den Menschen hineingepflanzte Verlangen, Eigentum zu besitzen, lässt sich nicht so leicht ausrotten. Die Menschen vom Lande wollen Land und Vieh ihr eigen nennen, wenn sie rechte Lust zum Arbeiten haben sollen. Die Leute waren schon voller Furcht, wenn sie nur das Wort „Kollektivwirtschaft“ hörten. Der „Kollektiv“ war die unterste Einheit der Wirtschaftsform in der Sowjetunion.

Als man mit den Musterkollektiven begann, sprach ich mit einem sehr gut bekannten Führer einer solchen Einrichtung. Unter anderem äußerte ich, dass ich von ihren Schwierigkeiten hörte. Ich sagte ihm weiter: „Ich glaube, dass ihr in eurer „freiwilligen“ Wirtschaft bald auseinander laufen werdet. Solch eine Sache können meines Erachtens nur ganz gottergebene Leute durchführen. Sie müssten sonst höchstens durch Zwang zusammengehalten werden“. Sofort fragte er mich bekümmert nach solchen Leuten und gestand, dass sie am Auflösen dieser Wirtschaft seien.

Je länger, desto mehr setzte dann der „freiwillige Zwang“ ein. Den Mut, den die Bauern bei den niedrigen Steuern während der Zarenregierung zum Wirtschaften hatten, verloren sie jetzt nach und nach, und immer mehr. Hauptsächlich verloren sie den Mut und die Lust durch den Verlust der Eigentumsrechte.