Nachwort

„Unter der Führung des Allerhöchsten“ entstand in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg. Mein Vater, der Prediger und Missionar Rudolf Malzon, geb. am 20.10.1883 in Russland, diktierte mir das Grundsätzliche dazu. Er war oft auf Reisen für die Russland-Mission (Hilfswerk für die Hungernden in Russland), um den in allerlei Verfolgungs- und Hungersnöten gequälten Gläubigen helfen zu können. In der Zeit seiner Abwesenheit bearbeitete ich dann das mir Diktierte. Außerdem besuchte und betreute Vater auch mehrere kleinere Gemeinden. Er brachte dort Gottes Wort in den Zusammenkünften und betreute auch die Geschwister und Freunde.

Wie schon beschrieben wurde, fuhr mein Vater mit meinem ältesten Bruder Ruben, geb. am 7. März 1913, am 1. Oktober 1928 nach Deutschland. Ruben sollte in Deutschland bleiben, da er als „Nichtpionier“ und als Sohn des in ganz Russland bekannten Predigers die Oberschule weiter nicht besuchen durfte. Außerdem hatte er auch keine Berufsaussichten.

Kaum waren die beiden in Deutschland, begann in Russland die Verfolgung der Gläubigen und Besitzenden. Inhaftierungen und Liquidierungen waren an der Tages- bzw. Nacht-Ordnung. Es begann eine schreckliche Zeit, die ich nie vergessen werde! Morgens erfuhr man dann, wen sie in der Nacht weggeholt hatten. Die Inhaftierungen waren immer nachts. Andererseits hörte oder erlebte man im Laufe des Tages, dass wieder eine Familie „liquidiert“ worden war. Diesen Leuten wurde alles, aber auch alles, weggenommen! Es ist mir dieses noch sehr gut von unseren Nachbarn, einer Familie mit 5 Kindern, in Erinnerung. Die Wöchnerin schmiss man aus dem Bett auf die Erde, und man nahm auch noch ihr Bett mit. Außerdem mussten die Liquidierten Haus und Hof verlassen, und niemand durfte sie aufnehmen. Tat es doch jemand, so wurde auch dieser sofort liquidiert. Die viele große Not und der Hunger waren nicht so schlimm, wie diese Schikanen.

Meist geschah es auch noch, dass man bei der Liquidation den Mann und Vater oft auf Nie-Wiedersehen verhaftete und in ein überfülltes Gefängnis steckte. Die Gefangenen bekamen kein Essen, mussten unter schrecklichen Umständen zusammengepfercht hausen, in dem gleichen Raum auch ihre Notdurft (ohne besondere Einrichtung dazu) verrichten. Dazu wurden sie noch mit nervenzermürbenden Verhören gequält. Meist wussten die Angehörigen nicht, wo sie die Verhafteten suchen oder finden konnten.

Bei dem Wirken um unsere Ausreisepapiere nach Deutschland bekam meine Mutter immer wieder zu hören, dass man sehr bedauerte, meines Vaters Ausreise nach Deutschland nicht verhindert zu haben. Meine Mutter wurde oft und sehr stark bedrängt, dafür zu sorgen, dass mein Vater zurückkam. Man wartete sehr auf seine Rückkehr, um auch ihn langsam tot zu quälen. Meine Mutter wusste, dass wir Vater doch nicht wieder sehen würden und schrieb ihm, dass er ja in Deutschland bleiben sollte. Nach viereinhalb Jahren Hunger, Angst und vielerlei Nöte und Schwierigkeiten führte Gott uns doch mit mächtiger Hand heraus aus Russland.

Durch unseren Ort ging die „Stalinlinie“ (vergleichbar mit Westwall in Deutschland). Patrouillierende Soldaten kehrten in der „Schummerstunde“, in der wir vier immer sangen und spielten, gern bei uns ein. Sie sagten oft, dass sie uns vor Dieben und Räubern schützten. So sorgt Gott oft auf wunderbare Weise für seine Kinder. Aber wenige Wochen nach unserer Abreise wurden alle (die Gegend war nur von Deutschen bewohnt) nach Murmansk verschickt. Wir empfanden es sehr schmerzlich, dass wir von keinem mehr eine Nachricht bekamen. Vermutlich sind dort alle in den tiefen Bergwerken zu Tode gequält worden. Sie mussten dort in Nässe, Kälte und fast ohne Nahrung arbeiten.

Am 26.03.1933 fuhren wir, das waren meine Mutter, Bruder Otto, Bruder Artur und ich, über Schepetowka, durch Polen, über Schneidemühl nach Berlin. Dort nahm uns unser Vater in Empfang. Gott hatte uns aus dem kommunistischen Russland wie einen Brand aus dem Feuer herausgerettet!

 

Jetzt geht das Jahr 1998 zu Ende. Ich bin von meinen Eltern und Geschwistern noch als Einzige am Leben. Ich selbst bin fast 80 Jahre alt.

Meine 2 Jahre jüngere Schwester starb 1923, nach der Rückkehr aus der Verbannung von Sibirien in der Hungersnot. Bruder Artur, geb. 19.02.1924 in Natalien, Ukraine, wurde nach Notabitur Anfang 1943 eingezogen. Er fiel mit knapp 19 Jahren im Juli 1943 in Belgorod-Kursk (Russland). Meine Brüder Ruben, geb. 07.03.1913 in der Ukraine, und Otto, geb. 15.06.1916 in Sibirien, waren vom ersten bis letzten Kriegstag auch als Soldaten im Ostfeldzug. Otto hatte in Berlin den Beruf als Handelskaufmann erlernt. Er kam aus dem Krieg gegen Russland elend, krank und ausgemergelt wieder. Wer es nicht erlebt hat, kann sich kaum die Behandlung der „Kämpfer für Deutschland“ nach Kriegsende vorstellen. Sie mussten doch unter schwersten Bedingungen jahrelang, auch in Schnee und Frost von 30-40 Grad, in Russland kämpfen. Und nun wurden sie wie „Aussätzige“ behandelt. Sie waren durch und durch krank und ohne Arbeit. Otto schleppte so manchen Sack Kohlen bis in den 4. und 5. Stock, nur um etwas zu verdienen. Da er in seinem Beruf keine Arbeit bekam, wanderte er 1952 nach Amerika aus. Dort bekam er Beschäftigung als Bauarbeiter. Sobald es nur ging, bildete er sich als Versicherungsagent aus. Er war am 15.06.1916 in Sibirien geboren und starb in Anderson (USA) im Alter von 80 Jahren.

Bruder Ruben hatte im Krieg als Soldat mit vielen anderen Kameraden Trichinen in den Körper bekommen. Diese vermehrten sich laufend sehr. Das war für ihn auch bis zum Tode am 15.08.1997 eine schwere gesundheitliche Behinderung. Er liegt in Bergen (Celle) begraben.

Ich bin seit 1950 verheiratet mit Karl Neuhaus. Wir haben zwei Töchter (Ute, geb. 1954, Angelika geb. 1957). Ein Mädchen und ein Junge sind uns in die Ewigkeit vorangegangen. Wir leben in Kassel in meinem Elternhaus.

Bis zum Beginn des Krieges (Sept. 1939) arbeitete ich ehrenamtlich in dem von meinem Vater schon vor unserer Ankunft gegründeten „Hilfswerk für die Hungernden in Russland“. Da ich die Nöte und den Hunger in Russland jahrelang erlebt hatte, arbeitete ich an diesem Werk gern von früh bis spät, um möglichst vielen Hilfe zukommen zu lassen. Zwischendurch arbeitete ich auch an diesem Buch. Leider bekamen wir bei der Nazi-Regierung seinerzeit nicht die Erlaubnis zur Herausgabe.

1940, nach Ableistung des Arbeitsdienstes, zu dem ich verpflichtet war, zog ich zusammen mit Bruder Artur in das in Kassel inzwischen fertig gewordene Haus. Mutter blieb bei Vater, dem das Predigen verboten worden war. Er war als Briefträger abkommandiert und musste, wie es seinerzeit üblich war, trotz seines schweren Herzfehlers, sehr oft hochsteigen bis ins 5-6. Stockwerk in der Großstadt Leipzig. Etwa nach einem Jahr gelang es mir, meinem Vater hier in Kassel in einem „kriegswichtigen Betrieb“ eine Arbeitsstelle im Büro zu besorgen. Und somit konnten meine Eltern auch nach Kassel kommen. Das war Gottes große Führung und Vorsehung. Zwar erlebten wir außer mehreren kleineren Angriffen im Oktober 1943 den schrecklichen und schwersten Flieger-Angriff auf Kassel. Durch die Bombardierung war die ganze Innenstadt nur ein Feuermeer und viele tausende Menschen kamen dabei um. Ich erlebte den Angriff auf dem Heimweg von meinem Dienst bei der Bundesbahn – von einem an Kassel grenzenden Ort bis zu unserem Haus am Stadtrand. Es war schrecklich!

Und doch waren wir nachher für Gottes Führung sehr dankbar. Wären wir in Leipzig geblieben, hätten uns die Russen nach Kriegsende sofort verhaftet und in die schrecklichen russischen Gefängnisse oder direkt nach Sibirien transportiert. Erstens war mein Vater als Prediger und Missionar in ganz Russland bekannt, und man hätte ihn gern noch dafür „bestraft“. Zweitens hatte mein Vater das Blättchen „Der Wächter“ herausgegeben. In diesem wurden laufend die Zustände in dem roten Russland beschrieben. Es wurde in viele Länder, auch in Deutschland monatlich verschickt. Durch dieses Hilfswerk konnten wir von den eingehenden Spenden Lebensmittel u.a. den Notleidenden in Russland schicken. Sicher ist manch einer dadurch vom Hungertod bewahrt geblieben. Ja, „Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade“. Das erfuhren wir hierbei, schon vorher und auch hinterher noch oft.

Mein Vater war bis zu seinem frühen Tod im Dezember 1943 (60 Jahre alt) die ganze letzte Zeit als Dolmetscher bei „Henschel“ tätig. Er betreute dort die russischen und polnischen Zwangsarbeiter. Er sorgte dort väterlich für diese armen Menschen, schenkte ihnen seine Liebe und zeigte ihnen den Weg zu Gott. Bei seiner Beerdigung, die durch die zerstörte Friedhofskapelle nur am Grabe stattfand und noch durch Alarm unterbrochen wurde, waren mehr ausländische Arbeiter von „Henschel“ als Deutsche anwesend.

Nach Kriegsende mussten auch wir, mit vielen anderen, unser Haus und Inventar diesen Fremdarbeitern überlassen. Viele davon kannten meinen Vater gut, und bei gelegentlichen Gesprächen hörten wir viel Lob und Dank für das, was mein Vater an ihnen getan hatte.

Ich bin so von Herzen dankbar, dass ich meinen Heiland in frühester Jugend finden durfte, auch dankbar für das Vorbild meiner Eltern! Vor allem für das Vorleben von meiner Mutter, mit der wir die schrecklichen Jahre in Russland verbrachten. Auch meine Töchter hingen mit unbeschreiblicher Liebe an ihrer Oma. Ich verlor mit ihrem Abscheiden am 20.12.1960 sehr, sehr viel! So lange ich zurückdenken kann, war sie auch „Mutter“ in der Gemeinde. Sie machte in Russland, oft in Sturm und Schneetreiben, Besuche bei Alten, Einsamen, Kranken (oft 25 Werst weit). Sie kümmerte sich um die zerstreute Herde, um Brüder, die gefangen genommen worden waren, um deren Familien. Mutig suchte sie auch die zuständigen Behörden auf und tat alles, um die Gefangenen und in den Gefängnissen Gequälten wieder frei zu bekommen.

Ihr letzter Besuch in Kassel, am Tage vor ihrem Heimgang, war bei einer älteren, behinderten Schwester. Der weite Fußweg dorthin ging über Felder und war durch Sturm und Regen sehr beschwerlich; aber sie kam fröhlich heim.

Das Vorbild meiner Mutter habe ich schon als Kind gern angenommen. Auch bis heute noch mache ich gern fast täglich bei Alten, Kranken, Alleinstehenden Besuche. Mit meinem Vater war ich ja nicht so lange zusammen. Ihn hatte Bruder Ruben hauptsächlich als Vorbild und Ansporn. Er war ja auch gut 4,5 Jahre mit Vater allein hier in Deutschland.

Bruder Otto war 1981, auch wohl als Kriegsfolge, total zusammengebrochen und wochenlang besinnungslos. Die gemeinsam erlebten Nöte, – es war eine schreckliche Zeit – in Russland als Kinder von 9 und 12 Jahren, hat uns besonders innig miteinander verbunden. Wir waren „die Großen“ und ließen nichts unversucht, Mutter zu unterstützen. Als ich die Nachricht von Ottos schwerer, ja aussichtsloser Krankheit bekam, lag ich mit einem schweren Herzanfall danieder. In meiner großen Not dachte ich an Hiskia. Ich nahm meine Bibel und suchte mir 2. Könige 20. Betend las ich Hiskias Krankheitsgeschichte. Unter Tränen betend redete ich mit Gott: „Du hast damals deinen Diener auf sein Bitten 15 Jahre zu seinem Leben zugesetzt, du kannst es auch heute für meinen Bruder Otto tun!“ Ich betete unter Tränen sehr ernst und glaubte auch an die Erhörung. Und Gott erhörte das Flehen, er schenkte meinem Bruder Otto auch noch 15 Jahre! Wohl war er durch die Krankheit behindert, lernte aber wieder das Gehen, hörte auch wieder auf einem Ohr, konnte Auto fahren. Seit der Zeit besuchten wir uns einmal im Jahr.

Es hat sich bei mir die Notwendigkeit ergeben, dass sich fast jeden Sonntag Nachmittag Alleinstehende, Alte und Behinderte bei uns versammeln. Wir erleben zusammen immer gesegnete Nachmittage beim Singen, Musizieren, Erzählen, Vorlesen, Zeugen. Zwischendurch gibt es auch körperliche Stärkungen.

Ich habe wohl keinen Prediger geheiratet, wie es von mir erwartet wurde. Aber mein Mann steht mir bei meiner Liebestätigkeit zur Seite. So können wir zusammen auch manchen Kranken, Angefochtenen und Müden erquicken.

Vor 2 Jahren war ich durch eine verstopfte Schlagader mit Schlaganfall schwer erkrankt, todkrank. Selbst die operierenden Ärzte rechneten mit meinem Ableben. Aber es wurde sehr ernst für mich gebetet, besonders meine „Altchen“ bestürmten in Gebeten Gott. Und Gott half wunderbar! Ich bekam mein Gedächtnis, meine Sprache und auch meine nötige Gesundheit wieder. Schon im Krankenhaus, in meinem schönen Einzelzimmer, für das mein Mann gesorgt hatte, konnte ich von Gott und seiner Hilfe zeugen. Ich konnte in den 2 Wochen dort als „Gideonfrau“ siebzig neue Testamente an die Ärzte und die anderen Bediensteten verteilen. Dabei gab es auch manch gutes Gespräch. Da es auf der Station und bei den Ärzten bekannt war, wie es um mich gestanden hatte, konnte ich auch immer wieder von Gottes Hilfe und Eingreifen zeugen. Ich bete auch heute noch, dass durch meine schwere Krankheit und Genesung doch manch einer noch in dem Testament lesen und dadurch auch Gott finden möchte.

Gott ist doch so groß und wunderbar! Das habe ich, trotz und bei vielen schweren Erleben in meinem Leben, immer wieder erfahren dürfen. Mag Gott mir Gnade schenken, dass ich manch einem im Laufe der Jahre, auch in der Zukunft, durch mein Zeugen und Leben den Weg zu Gott zeigen könnte.

Agnes Malzon-Neuhaus