Vorbereitungen für die Reise

Wir hatten schon den Entschluss für die Auslandsfahrt gefasst. Aber wir glaubten, dass sich dann erst recht der Wille Gottes dafür bestätigt, wenn Gott hilft, dass ich einen Reisepass bekomme. Durch unser jahrhundertelanges Leben in Russland waren wir Deutsche russische Staatsangehörige geworden. Und für einen russischen Staatsangehörigen war es sehr schwer, einen Reisepass zu bekommen. Die Behörde verlangte dafür verschiedene Unterlagen, die auch schwer zu beschaffen waren.

Uns waren diese in den schweren Zeiten durch das viele Hin- und Herschicken und Umziehen abhanden gekommen. Denn jede neue Regierung, die ans Ruder kam, verlangte Papiere. Und selten bekam man sie wieder zurück. Wir hatten unseren Trauschein und andere wichtige Papiere aus Angst vor dem verloren Gehen in eine Blechbüchse getan und in einem Lehmherd, der nicht geheizt wurde, als auf dem sichersten Platz in der Asche verscharrt. In den Kriegszeiten und während dem Umsturz gingen die roten und weißen Soldaten bei uns aus und ein. Sie glaubten alle, dieselben Rechte wie wir zu haben. So hatte auch jemand von ihnen sich das Recht genommen, ohne unser Wissen in dem Herd Feuer zu machen. Dadurch waren alle unsere Papiere vernichtet.

Anfänglich verwarf die rote Regierung alles, was vom alten Regime herrührte, auch die Papiere. Oft schafften die Leute auch selbst ihre Papiere weg. Es sollte keine Spur gefunden werden, dass sie Gutsbesitzer, Geistliche oder andere den momentanen Herrschern unbeliebte Leute waren. Die ganze Not und Unsicherheit brachte die Leute dahin, dass sie ihre Papiere oft nicht aufzubewahren wagten, sie wollten nicht in irgend einen Verdacht kommen. Eigentlich freute sich die neue Regierung, wenn die Leute zum Erhalten verschiedener Papiere zu ihnen kamen. Sie stellten diese auch so aus, wie es ein jeder angab. Sie brüsteten sich damit: „Wenn ihr die rote Regierung habt, dann habt ihr Dokumente, Freiheit, Arbeit, Kleidung, Brot und alles, was ihr benötigt!“

Ein jeder konnte sich mit Dokumenten reichlich versorgen lassen. Die Regierung fand sich schließlich in der Menge der Urkunden selbst nicht mehr zurecht. Und so ließen sie im Jahre 1923 einen Befehl ergehen, dass sich ein jeder schätzen lassen sollte. Besonders vonnöten war es in der Westukraine. Hier hatten sich in den Jahren 1918-1919 schreckliche Bruderkriege abgespielt. Die größten Verluste an Urkunden-Büchern waren in Nowograd-Wolhynsk, weil hier besonders harte Kämpfe der Pitljurzi stattfanden. Das geschah besonders bei der Säuberung der Ukraine von den Juden, die sich dort als überwiegende Einwohnerzahl befanden. Auch während dem darauf folgenden monatelangen Kampf zwischen den Roten und den Polen wurde viel zerstört. Sie beschossen sich über den Fluss Slutsch, der zum Teil durch die Stadt fließt, solange, bis von den Häusern nur noch Steinhaufen und Ruinen übrig blieben.

Die Schätzungs-Kommission hatte es auch nicht so leicht. Viele Männer gaben ihr Alter 5-15 Jahre älter an, aus Furcht, wieder in den Krieg genommen zu werden. Dass die Angaben bei vielen nicht stimmten, und die Männer lieber als älter gelten wollten, wurde die Behörde bald inne. So setzten sie das Geburtsdatum bei jedem nach Gutdünken. Sie machten automatisch jeden einige Jahren jünger, als er angab. Ich gab alles genau an, das Datum und das Jahr meiner Geburt, auch das Hochzeitsdatum. Diese Männer schienen aber durch die falschen Angaben so verwirrt zu sein, dass sie auch die Wahrheit nicht gelten ließen. Sie schrieben mich zwei Jahre jünger als ich war. Nun bekam ich einen Pass und andere nötige Dokumente. Aber nicht lange danach kam mir meine Brieftasche mit sämtlichen Dokumenten auf dem Bahnhof Emiljanowka abhanden. Ich ärgerte mich darüber gerade nicht, weil meine Papiere ja nicht den Tatsachen entsprachen.

Aber jetzt bei der Passbeschaffung hatte ich, unter anderen Dokumenten, auch meine Geburtsurkunde sehr nötig. Doch endlich gelang es mir doch, die unglaublich vielen Papiere, die ich von verschiedenen Orten und Behörden besorgen musste, zu bekommen. Und innerhalb von drei Monaten hatte ich den Ausreisepass in der Hand. Dann holte ich mir zuerst aus Kiew von dem polnischen Konsulat das Durchreise- und von dem deutschen Konsulat das Einreisevisum.

Bisher hatte ich auch über das Reisegeld kaum nachgedacht. Ich rang mich aber zu dem Glauben durch: Wenn der Allmächtige mir bei der Besorgung der Reisepapiere hilft, dass ihm auch das Finanzielle möglich sein wird. Die Unkosten durch die vielen Reisen bei der Besorgung der Papiere waren nicht gering. Auch musste ich für meinen Ausreisepass den höchsten Preis bezahlen. Die Passpreise waren in vier Klassen eingeteilt: für die Parteigenossen, für die Allgemeinheit, für den früheren Mittelstand und der höchste für die gewesenen Kaufleute, Gutsbesitzer, Fabrikbesitzer und die Geistlichen oder deren Angehörige. Es spielte auch keine Rolle, wenn sie jetzt ganz arm waren. Der niedrigste Preis war 5 Rubel, der höchste 330 Rubel. Weil aber meine Reise der Wille Gottes war, offenbarte sich die Hilfe in solchem Maß, dass sie die Notwendigkeit überstieg. Wie wir vor und in jeder Schwierigkeit immer auf die helfenden Hände Gottes blickten, so taten wir es auch jetzt. Mir wurde von Leuten, die auch schon sahen, dass all ihre Habe für sie zu Grunde geht, mehr Geld anvertraut, als ich nötig hatte. Und somit war auch dieses Hindernis sehr schnell beseitigt.

Mit der Beschaffung der Ausreisepapiere war alles sehr ungewiss. Auch aus diesem Grund hielten wir den Plan mit meiner Reise sehr stille. Und von denen, die davon erfuhren, glaubten wohl die Wenigsten, dass sie zustande kommt. Auch als ich den Pass schon hatte, offenbarten wir es nur Wenigen. Dieses war alles ratsam, damit die Feinde keine Zeit und Gelegenheit hatten, das Vorhaben zu vereiteln. Wir dachten an das Schriftwort: „Seid klug wie die Schlangen, und ohne Falsch wie die Tauben“.

Aber ohne dass wir es ahnten und verlauten ließen, versammelten sich hunderte Gläubige, darunter auch einige aus anderen Völkern, zu einer Abschiedsfeier. Es war herzergreifend als wir, und zwar jeder in seiner Muttersprache, alle zusammen des Lied sangen: „Gott ist die Liebe“.