Erlebnisse in der alten Heimat

Wir waren ja so dankbar, dass der Allmächtige uns wie seinen Augapfel durch Krankheit, Bruderkriege in Sibirien und vor allem auf der Rückreise von Sibirien nach Wolhynien bewahrt hat. Wir glaubten, nun aus allen Nöten heraus zu sein. Das Gegenteil traf aber ein. Zuerst zerrte sich der Krieg im Lande hin und her und belastete dadurch sehr spürbar mehrere Male unser Dorf. Als sich der Krieg dann legte, kamen bewaffnete Horden aus den Städten und beraubten die Bewohner. Auch wir blieben davon nicht verschont.

Kurz vor Weihnachten 1921 kamen eine Anzahl bewaffnete Soldaten geritten und hielten vor unserem Haus. Wir sahen sie als unsere Beschützer an. Einer von ihnen bat meine Schwester Emilie um ein Stückchen Speck, er hätte nur trockenes Brot. Lügen konnte sie nicht, und es verweigern auch nicht. Der Soldat aber hatte sich ins Haus geschlichen und ausgekundschaftet, wo der Vorrat an Lebensmitteln war. Darauf überfielen sie die Frau und raubten den aus Sibirien mitgebrachten Rest an Lebensmitteln. Mein Schwager wollte die Soldaten überzeugen, das wir Flüchtlinge und erst kürzlich aus Sibirien gekommen sind. Dazu zog er seine Brieftasche mit den Papieren aus der Tasche. Da riss man ihm diese mit dem letzten Geld und allen Papieren aus den Händen.

Nicht lange danach, kurz vor Abend, als meine Frau gerade die Haustür öffnete, stiegen 5 Soldaten von ihren Pferden. Einer davon lief auf die Straße um aufzupassen, ob jemand zu unserem Schutz daher käme, ein zweiter fasste die Zügel von allen 5 Pferden in seine Hände und drei kamen ins Haus, um uns zu berauben. Sie schrieen meine Frau gleich an, dass sie in das hinterste Zimmer gehen sollte. Als sie hereinkam, sagte sie nur: „Es sind wieder Räuber da!“ Aber auch in dieser Situation wussten wir, das die allmächtige Hand Gottes über uns ausgebreitet war. Und wir sahen mit Staunen, dass die Männer immer dort suchten, wo nichts Wertvolles war. Und was sie dabei fanden, lohnte sich nicht, um es mitzunehmen. Ich war in der Zeit noch sehr krank – Rückfall von Flecktyphus. Weil wir noch keine Möbel hatten, hatte mich meine Frau auf den Fußboden gebettet.

Zwei Koffer aufeinander gestellt dienten mir als Tisch. Ohne dass wir es vorsorglich gemacht hatten, waren darin gerade unsere wertvollsten Sachen. In einem anderen größeren Koffer stand eine hohe Blechschachtel. Als die Räuber anfingen, diese auszuräumen, seufzen wir in unserem Innern zu Gott um Hilfe. Und Gott sei ewig Dank! Wenn sie noch einen Griff hinein getan hätten, wären sie auf einen silbernen Becher gestoßen. Darin waren zwei goldene Ringe, eine Uhr und eine Kette, alles seinerzeit für uns große Werte. Diese Gegenstände hatten wir in Omsk auf dem Basar als Wertsachen gekauft. Wenn wir ins Ausland kamen oder unser Geld entwertet wurde, konnten wir damit immer noch etwas Lebensnotwendiges einhandeln. Wir flehten zu Gott, dass er, der alles in seiner Hand hat, auch die Sinne der Räuber und ihre Augen lenken möchte. Und sie ließen ihre Hände davon ab.

Einer der Räuber erblickte oben am Balken eine lederne Reisetasche, die wir uns von dem Gegenwert einer Kuh, die wir vor der Abreise aus Sibirien verkauften, eingehandelt hatten. Wir hielten sie sehr in Ehren, denn so gutes Leder war schwer zu bekommen. Im Fall einer Lederknappheit hätten wir sie auch zu Schuhen verarbeiten können. Als der Räuber die Tasche in den Händen hatte, sprang unser ältestes, achtjähriges Söhnchen heran und versuchte, die Tasche festzuhalten. Er fing laut an zu bitten und zu weinen. Auch die Mutter fing an zu bitten. Und siehe da, der Räuber ließ sich erbitten und gab uns die Tasche zurück. Gott bewahrte uns doch, so dass sie außer Stiefelsohlen und etlichen Stücken Seife weiter nichts mitnahmen.

Wir hatten dann fast jede Nacht solch einen Besuch, meist kamen sie nach Mitternacht. Oft mussten wir die Türen selbst öffnen, sie drohten uns sonst zu erschießen. Sie hätten ja auch leicht die Türen einbrechen können. In dieser Zeit erlebten wir auch sehr oft wunderbare Bewahrungen von Gott.

Eines Abends hatten wir versäumt, die Haustür zu verriegeln. Es kam ein großer Sturm auf, der die Haustür noch ein wenig öffnete. Als nun wieder eine Anzahl dieser Männer kam, riefen und klopften sie an den Türen und Fenstern. Wie ich es schon gewöhnt war, stand ich dann auf und kleidete mich schnell notdürftig an. Mich ganz still verhaltend, wartete ich an der inneren Tür, bis sie Ernst gebrauchen würden. Dieses Mal aber waren sie stiller und kamen bis in die Küche. Und nur hie und da riefen sie „Chasjain!“ (Wirt). Auf einmal hörte ich, wie einer zum anderen sagte: „Es wundert mich, dass die Tür offen ist! Wer weiß, ob hier noch Leute leben“. „Ich fürchte mich,“ sagte der andere. Die der Haustür noch am nächsten waren, liefen wieder aus dem Haus und die anderen ihnen nach.

Einmal kamen gerade um die Mittagszeit zwei bewaffnete Männer als Soldaten angekleidet. Sie legten ihr Brot auf den Tisch und verlangten Zubrot. Wir erklärten diesen Räubern, dass wir für heute nur noch gerade eine Mahlzeit Kartoffeln hätten. Das musste für uns als Mahlzeit für heute reichen. Was wir morgen essen sollten, dass weiß der liebe Gott. Aber o weh! Kaum waren die Kartoffeln fertiggebraten, so rissen die Männer die Pfanne vom Feuer, stellten sie auf den Tisch und aßen sie zu ihrem Brot.

Ich lag eines Tages wie zum Sterben elend danieder. Und weil bei dieser Krankheit selten einer durchkam, glaubte ich auch, sterben zu müssen. Ich hatte mich schon dazu fertig gemacht und mich Gott übergeben. Wieder riefen meine Frau und Kinder ernstlich zu dem, der uns schon so oft geholfen hat. Gott kann auch vom Tode erretten. Sie flehten ihn an: „O Herr, erbarme dich über uns. Wir sind in solcher Not und in der Fremde. Erbarme dich, Gott!“ Durch dieses inständige Gebet bekam ich noch einmal Lebensmut, rief auch zum Herrn und bat ihn: „Herr, zeige mir doch, was du mit mir vorhast und was du von mir willst! Vielleicht redest du eine Sprache, die ich noch nicht verstehe“. Ich empfand schon in Sibirien und auch unterwegs, dass Gottes Hand schwer auf mir lag. Hier auf meinem Krankenbett übergab ich mich völlig Gottes weiterer Führung.

Bald war es mir dann klar, dass unsere Auswanderabsichten nicht die Absichten und Führungen Gottes mit uns waren. Unsere Vorhaben vereinbarten sich nicht mit den Wegen seines Willens. Deutlich vernahm ich in meinem Innern Gottes Antwort: „Ihr sollt hier bleiben!“ Ja, es war nicht so leicht hier bleiben, trotz schlechter Aussichten im Irdischen wie im Geistlichen. Was aber durch unser Bleiben noch Gutes geschehen sollte, war mir verborgen. Und das war gut so! Wie passte doch das Wort des Psalmisten so treffend auf meine damaligen Erfahrungen: „Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und seine Zeugnisse halten. Das Geheimnis des Herrn ist unter denen, die Ihn fürchten, und seinen Bund lässt er sie wissen“ (Ps. 25:10-14).

Er hatte mich nun seinen Weg wissen lassen. Aber wie würde es meine liebe Frau aufnehmen? Ich bat den Herrn, dass er auch zu ihr dasselbe reden möchte, was er mir so deutlich klar gemacht hatte. Denn wenn ich ihr das sage, wird sie es nicht so recht fassen können. Der Schwierigkeiten wegen, durch die wir in unserer Missionsarbeit hier in Russland zuletzt gegangen waren, hatte sie Furcht. Wir waren uns einig geworden, dass wir irgendwo anders für den Herrn arbeiten wollten. Auch in meinem Innern hatte sich anfänglich etwas dagegen gesträubt. Ich musste dabei an die Propheten des Alten Bundes denken, von denen sich auch manche, obwohl Gott sie zu gewissen Wegen berufen hatte, anfänglich sehr dagegen sträubten. Gott aber führte es, dass sie seine Wege gehen mussten, wie z. B. Jona.

In Sibirien war es uns mit der Landwirtschaft gut gegangen. Darum meinte meine Frau, wir könnten am besten wieder eine Landwirtschaft betreiben und dabei für den Herrn arbeiten. Auf diese Weise könnten wir auch die Sache des Herrn unterstützen. Ich wusste, dass sie am leichtesten überzeugt würde, wenn Gott selbst zu ihr redete und ihr den Weg zeigte, den wir gehen sollten. Auch meine Frau hatte sich wegen einiger Krankheitserscheinungen (Rückfall von Typhus) niederlegen müssen. Als ich eines Tages zu ihrer körperlichen Betreuung und Versorgung an ihr Bett trat, wollte sie mir etwas offenbaren. Ich setzte mich zu ihr ans Bett. Und nun sagte sie mir, wie sie den bestimmten Eindruck bekommen habe, wir sollten nicht auswandern, sondern hier bleiben. Das war mir eine große Freude. Ich berichtete ihr ebenfalls meine Eindrücke und meine innere Überzeugung. Danach half der Herr ihr auch sofort, dass sie wieder gesund wurde. Wir übergaben uns beide dem Herrn für die Arbeit in Russland. Deutlich waren mir in jener Zeit die Worte des Apostel Paulus: „Wehe mir, wenn ich es nicht täte!“