Der Herr tritt uns in den Weg

Im Jahre 1920 erfuhren wir, dass sich Flüchtlinge (Deutsche) dem Rücktransport der deutschen Kriegsgefangenen anschließen durften. Sie mussten aber Beziehungen zu Deutschland haben, das war Bedingung. Ich war einige Male in Deutschland gewesen, hatte auch noch Arbeitspapiere und meinen Pass. So meldeten wir uns zur Auswanderung nach Deutschland an. Mit vielen anderen begaben wir uns in die Baracken der Kriegsgefangenen nach Omsk. Dort galt es, mehrere Monate zu warten.

In dem Barackenlager erkrankten viele Kinder, sie starben dort auch sehr schnell. Es gab keinen Arzt, und die zugige Baracke war auch kein Aufenthalt für Kranke. Außerdem war die Ansteckungsgefahr sehr groß, da wir auf engem Raum leben mussten. Mit der Hilfe Gottes aber blieben uns unsere Kinder erhalten. Fast täglich hatte ich Beerdigungsreden zu halten. Oft kam es vor, dass in einem Leichenzug zwei bis drei Särge auf einmal zum Friedhof gebracht wurden. Aus den im Lager befindlichen Sangesfreudigen stellten wir einen Chor zusammen. Durch seine Lieder wurde so manch ein schwer bedrücktes Herz getröstet. Wir hatten auch eine gute Gelegenheit, in der Zeit der Not das teure Evangelium den Herzen der Leute nahe zu bringen.

Sehr gern wollten wir nach Deutschland, aber immer wieder hinderte uns etwas. Jedes Mal, wenn wir an die Reihe kamen und den Zug besteigen wollten, gab es eine Hinderungskrankheit oder andere Gründe, die uns zum Bleiben zwangen. So hatten wir den Eindruck, Gott wollte es noch nicht haben. Am Anfang des Winters kehrten wir dann wieder in unser Haus zurück, welches wir unseren Verwandten überlassen hatten. Alles andere Notwendige schafften wir uns nach und nach wieder an.

 

Die Wirtschaften der Gutsbesitzer hatte der Sowjet in Sibirien zu Sowchosen (Kronwirtschaften) gemacht. So auch das Gut, in dem sich auch das von uns bewohnte Haus und Garten als uraltes Eigentum befand.

Gleich am Anfang des Jahres 1921 kam der Vorsteher des Sowchoses zu uns und sagte, dass nach dem neuen Gesetz nur die auf dem Gut wohnen dürfen, die Gutsarbeiter sind. Auch das Privateigentum gehöre zum Sowchos. Er stellte uns vor die Entscheidung, entweder als Arbeiter in den Sowchos zu gehen oder das Haus zu verlassen. Zu diesem Bescheid an uns war er beauftragt worden. Er hatte eigentlich nur die Verantwortung über die Ausführung der Arbeiten. Das verstand er meisterhaft. Er war der Sohn von einer Wirtschaft mit mehreren tausend Morgen Land. Auch er stand schon an der Wand zum Erschießen, wie sein Vater und seine Brüder. Er war der Einzige, dessen Bitten man erhörte und ihn am Leben ließ. So war er seines Lebens auch immer noch nicht sicher, und er tat, was er seinen Vorgesetzten von den Augen ablesen konnte. Obwohl er mit uns nach höherem Befehl handelte, wusste er doch, wie wir empfanden, da man uns das Haus und Gartenland enteignete. Er kam deshalb am nächsten Tag noch einmal und redete mir zu, dass ich als Gutsarbeiter gehen sollte. Er meinte, sie hätten ja Arbeiter genug. Es sollte nur so den Namen haben, denn es täte ihm leid, wenn wir im Winter ausziehen müssten.

So willigte ich ein, mich als Arbeiter zu betätigen. Darauf bekam ich schon am nächsten Montag Befehl, zur Arbeit zu kommen. Der Einstieg dazu war nicht erfreulich. Schadenfroh grinsten die Arbeiter, als sie mich sahen. An solche Arbeit, wie wir sie am ersten Tag hatten, konnten sich auch die langjährigen Arbeiter nicht erinnern. Und solche unangenehme und schwere Arbeit gab es auch nachher nicht mehr. Es ging mehrere Kilometer weit in den Wald, um dort die Bäume über dem zusammengewehten Schnee zu fällen. Mir kam bei dieser Arbeit sehr zu Nutz, dass ich bis zu meinem 20. Lebensjahr auf einer größeren Landwirtschaft aufgewachsen war. Dabei sammelte ich auch Erfahrungen in der Arbeit mit Holz und in der Waldarbeit.

Ihre Rechnung, mich innerhalb einiger Stunden schlapp zu machen, ging nicht auf. Sie dachten, ich wäre diese Arbeit nicht gewöhnt und hätte darin keine Erfahrung, würde mich deshalb dabei dumm anstellen und sehr schnell ermüden. Das alles schlug fehl. Bald sahen sie, als ich mit der Axt und Säge zu arbeiten anfing, dass mir diese Arbeit besser von der Hand ging, als den Stepp- und Landarbeitern, ja, als den Aufsehern selbst. Es nahm sie wunder, dass ich mich nicht allein beim Bäumefällen- und aufladen auskannte, sondern auch in alle anderen Arbeiten sofort hineinfand. Sehr bald konnte ich auch den anderen in Rat und Tat eine Hilfe sein.

Kaum war ich eine Woche dort, da wählten sie mich als Aufseher, und gleich darauf auch als Arbeitseinteiler. Nach etwa einem Monat beriefen die Arbeiter eine Versammlung ein, in der sie mich als Vorsitzender im Arbeitskomitee wählten. So war ich dann die verantwortliche Person von dieser ehemaligen Gutswirtschaft. Sehr bald fand ich mich in die neue, große Aufgabe so hinein, dass ich auch mit den aus allen Richtungen, Völkern und Sprachen zusammengewürfelten etwa 50 Arbeitern gut auskam und zurechtkam.

Eines Tages kam ein Mann auf den Hof, der einem Vagabunden sehr ähnlich sah. Er fragte mich nach dem Vorsteher. Ich dachte, es wäre einer, der Arbeit suchte. Als er erfuhr, dass ich der Vorsteher wäre, ging er schon vor mir ins Büro und sagte, dass ich die Tür schließen solle. Er zeigte mir sein Mandat. Nun wusste ich, dass ich es mit einem „Tschekisten“ (Staatssicherheitsdienst-Mitarbeiter) zu tun hatte. Da ich aber über keinen Sowchosarbeiter klagte, wunderte er sich und fragte mich, wie lange ich schon Parteimitglied sei. Als er vernahm, dass ich parteilos bin, sann er eine ganze Weile stillschweigend nach. Dann sagte er: „Wenn die Parteimitglieder und die Arbeiter Sie zum Vorsteher des Arbeitskomitees gewählt haben, müssen Sie gewiss ein aufrichtiger und zuverlässiger Mensch sein. Ich kann dann auch weiter Ihnen mein Geheimnis offenbaren...“ Während in den anderen Sowchosen, nachdem dieser Mann dort gewesen war, viele Arbeiter verhaftet, mehrere in der Nacht weggeholt und für immer spurlos verschwanden, blieb in unserem Sowchos alles unverändert.

Ich gab mir Mühe, dass alles ordnungsgemäß zuginge und dass die Arbeiter und auch die Behörden zufrieden waren. Ich habe anstatt 8, 16-20 Stunden gearbeitet. Ich bekam dafür aber auch nicht mehr Lohn als die anderen. Man konnte es aber mit offenen Augen sehen, dass auf diesem den fleißigen Menschen geraubten Gut kein Segen ruhte. Verdrießlich und ohne Freude gingen die Arbeiter an die Arbeit. Weil ich sah, dass alle Anstrengungen nicht fruchteten, verlor auch ich den Mut. Und wir entschlossen uns, weil auch gerade die Sperre der Ausfahrt aus Sibirien aufgehoben war, wieder zurück nach Wolhynien zu fahren. Wir planten bis ins Ausland, entweder nach Polen oder Deutschland, durchzufahren, oder gar nach Amerika auszuwandern.