Von Odessa nach Kaukasus

Nach jener Versammlung in Torosow (1926) begab ich mich in Begleitung einiger Brüder nach Chuter-Lubin zu einer Bibelversammlung. Wir waren mit Pferd und Wagen etwa 110 Werst gefahren. Die Gelegenheit nutzend, statteten wir unterwegs einer Anzahl Gläubiger einen Besuch ab. Diese Geschwister hatten sich durch Gottes wunderbare Führung neu hinzugetan.

Nach Beendigung dieser gesegneten Bibelversammlung war es meine Aufgabe, weiter nach dem Nordkaukasus zu reisen, um verschiedene zerstreut liegende Plätze zu besuchen und dort zu dienen. Zuerst führte mein Weg durch den Stawropoler Kreis bis zur Endstation Winodjelnaja am Manach (Sumpf).

Von dort ging es auf einem Stangen-Feder-Wagen etwa 30 Werst bis nach Friedrichsfeld. Hier fand ich eine Anzahl Leute, die großen Hunger nach dem Wort Gottes hatten. Diese hatten schon manche Verfolgungen um des Glaubens willen erleiden müssen. Dann ging es 7 Werst weiter auf den Abbau Bethel zu der Familie Metzker. Diese Geschwister waren trotz ihrer Einsamkeit in ihrem Innern doch sehr gesegnet. Sie freuten sich sehr über unser Beisammensein.

Nach ein paar Tagen spannte Bruder Metzker seine Pferde an, und wir machten eine Wagenfahrt von 70 Werst über die Kalmykensteppen. Dort befand sich die deutsche Kolonie Kronental mit ihren 300 Einwohnern. In diesem Ort hatten einige Gläubige einen Saal gekauft. Sie hatten dann nach verschiedenen Richtungen Ausschau nach einer Gemeinde gehalten, die die Einheit der Kinder Gottes mit der Grundlage eines heiligen Lebens lehrte. Auf Bruder Ackermann und die Geschwister in Odessa aufmerksam gemacht, war mittlerweile eine herzliche, innige Verbindung zustande gekommen. In Kronental konnten wir innerhalb 5 Tagen 14 Versammlungen halten.

Die Weiterreise nach dem Transkaukasus, wo ich in Katherinenfeld bei Tiflis einer großen Versammlung beiwohnen sollte, brachte mir jedoch einen unliebsamen Zwischenfall. Solche Vorfälle zählen zu den kleinen Prüfungen, die uns im Leben begegnen können.

Ich bekam einen Zug, der über Baku direkt nach Tiflis fuhr. In Elisabethpol (nachher Ganscha), einer der größten an der Strecke gelegenen Stationen, sollte der Zug 20 Minuten Aufenthalt haben. Ein Postzug kam uns hier entgegen. Und es war mir sehr gelegen, in diesen Zug einen Brief nach Hause einzuwerfen. Mit meiner Teekanne in der Hand, um gleichzeitig gekochtes, heißes Wasser einzufüllen, stieg ich aus dem Zug. In Russland war es üblich, dass man auf allen größeren Stationen frisch gekochtes, heißes Wasser für eine Tee- oder Kaffeezubereitung kostenlos bekommen konnte. Ich ging nun los, Gepäck, Mantel, Schuhe und dergleichen im Wagen zurücklassend. Jeder Passagier, gleich in welcher Klasse er fahren mochte, hatte in seinem Abteil Anrecht auf einen Schlafplatz. Das war so eingerichtet, weil der Fahrgast oft wochenlang unterwegs sein musste, um an sein oft tausende Kilometer entferntes Ziel zu gelangen.

Kaum war ich um jenen Postzug herumgelaufen, sah ich plötzlich eine Menge Leute auf meinen Zug zuspringen. Ich schaute mich um, und siehe da, der Zug fuhr schon! Er war mit Verspätung angekommen und hatte seinen Aufenthalt, ohne das wir davon erfuhren, auf die Mindestzeit beschränkt. Ich rannte auch noch los, aber vergebens! Ich hatte den Zug verpasst und noch einige mit mir.

Der Feind benutzte meine missliche Lage, um mir große innere Kämpfe zu bereiten. Es war doch alles fort: Schuhe, Bücher, Decken und was man sonst noch bei einer langen Reise und Abwesenheit mit sich führt. Leer und bloß stand ich da. Ich beeilte mich, sofort ein Telegramm an die Bahnpolizei der nächsten größeren Station Akstafa aufzugeben. Darin bat ich, meine Sachen aus Wagen sowieso aus dem Zug herauszunehmen und für mich bis zum nächsten Tag aufzubewahren.

Wohl betete ich ernstlich für die Wiedererlangung meiner Sachen, besonders meiner deutschen Bibel, die in russischen Städten kaum erhältlich ist und die ich für die Versammlung nicht entbehren konnte. Aber in dem Durcheinander meiner Gefühle vermochte ich mich zu einer rechten Gewissheit des Glaubens nicht aufzuschwingen. Von 4 Uhr nachmittags bis um 10 Uhr des nächsten Vormittags galt es nun zu warten.

In Akstafa angekommen, eilte ich sogleich zur Bahnpolizei. „Ja“, sagte man mir, „Ihr Telegramm ist angekommen. Wir wollten auch nachsehen. Aber gerade zu der Zeit hatten wir einen sehr starken dienstlichen Betrieb. Als der beauftragte Beamte auf den Bahnsteig kam, sah er den Zug gerade noch weiterfahren. Es tut uns sehr leid, aber sie müssen uns schon entschuldigen“. Nun war der letzte Hoffnungsschimmer weg. Mit der Teekanne und in Gummischuhen stieg ich wieder in meinen Zug, setzte mich in eine Ecke und kämpfte gegen meine Verzagtheit und Verzweiflung.

Bald hörte ich aus den Unterhaltungen, dass deutsche Leute in meinem Wagen waren. Die konnten nur hier eingestiegen sein. Die Wagen waren lang, und die Abteile nicht voneinander getrennt, sondern durch einen offenen Durchgang verbunden. Gern hätte ich mit diesen deutschen Leuten gesprochen, aber ich schämte mich, in meiner „Aufmachung“ zu ihnen zu gehen. So stellte ich mich in den Gang. Als einer von ihnen an mir vorbeigehen wollte, fragte ich ihn, ob er ein Deutscher sei und wo er hinfahre.

„O, wir fahren nach Tiflis, und von dort nach Katherinenfeld“, sagte er. „Wir sind mit vielen hier im Zug“. Ich schaute die Leute an und hatte das Empfingen, dass sie Gottes Kinder sein könnten. Vielleicht fuhren sie auch zu jener Versammlung, zu der ich auch wollte. „Sind Sie vielleicht Herr Hoss?“ – fragte ich. Er horchte auf, seine Augen leuchteten. Und ohne mir zu antworten, fragte er schnell: „Sind Sie vielleicht Herr Malzon?“

Es war nicht Bruder Hoss, sondern Bruder Rotfuß. Diese plötzliche Begegnung hatte ihn sehr überrascht. Er wollte mich gleich mit zu den Seinen nehmen und rief aus: „Preis dem Herrn, Bruder Malzon!“ Ich fasste ihn am Arm und bat ihn, nicht so eilig zu sein, ich müsste ihm erst etwas anvertrauen. Und ich klagte ihm mein Geschick. Er berichtete dieses seinen Leuten, und die Geschwister kamen und begrüßten mich sehr freudig. Bald aber merkte ich, dass die Geschwister im Stillen für mich beteten, dass sich auf jeden Einzelnen eine gewisse Last legte. Mir aber war es ein gut Teil leichter geworden. Ich musste an Apostelgeschichte 28:15 denken, wo es heißt: „Da Paulus sie sah, dankte er Gott und gewann eine Zuversicht“.

Bald brachten die Geschwister ihre Esskörbe hervor. Mein Proviant war mir doch mit dem Zug am Vortag weggefahren, so teilten sie mit mir. Bald öffnete einer nach dem anderen seinen Koffer. Einer brachte ein paar Schuhe heraus, und siehe, sie passten mir. Ein anderer einen Mantel, und so ging es weiter damit. Dann begannen sie mich zu ermutigen, besonders Bruder Rotfuß sagte: „Sei nur beruhigt, Bruder Malzon, die Sachen kannst du alle in Tiflis bekommen, außer der deutschen Bibel. Aber wenn Gott dich dort hingeschickt hat, für ihn zu arbeiten, wird er dir auch die Bibel wiedergeben. Ich glaube, wenn du auch von den anderen Sachen nichts zurückbekommst, die Bibel wirst du bekommen!“ Dann wandte er sich zu den Geschwistern und sagte: „Wir wollen nun einmal ernst dafür beten!“ So fasste auch ich Zuversicht und vertraute ganz dem Herrn.

In Tiflis angekommen, forschten wir sogleich bei allen in Frage kommenden Stellen nach, aber vergeblich! Schon wollten wir den Bahnhof verlassen, als ein Dienstmann eben noch auf uns aufmerksam wurde. Er kam zu uns heran und fragte, was uns eigentlich weggekommen sei. Auf unseren Bescheid sagte er: „Ja, gerade solche Sachen habe ich gestern da hineintragen sehen“. Damit zeigte er auf eine Tür, die jedoch schon verschlossen war. Er gab uns noch den Rat, gleich am nächsten Morgen wieder zu kommen. Und richtig! Am nächsten Morgen fand ich in jenem Kellerraum außer den Esswaren alle meine Sachen wieder. Dankbaren Herzens konnte ich nun nach Katharinenfeld weiterfahren. Dort war eine zweiwöchige Konferenz-Versammlung vorgesehen, die dann auch unter reichem Segen stattfand. Weil ich den Verlauf solcher Versammlungen schon öfter beschrieben habe, möchte ich mich jetzt nicht wiederholen. Ich berichte nur einige kleine Begebenheiten von dort.

Die Geschwister dort erzählten mir von einem Tatar, der im Gebirge auf seinem Landgut wohnte. Seine fünf Kinder hatte er des Schulbesuchs wegen in der Stadt einquartiert. Er nahm dort eine deutsche Pflegemutter für die Kinder. Diese besuchte auch öfter mit den Kindern zusammen christliche Versammlungen. Der Vater der Kinder war damit einverstanden. Vielleicht gab er seine Zustimmung auch deshalb, weil sie dabei die deutsche Sprache erlernten.

Eines Tages schickte diese Pflegemutter den etwa 8-jährigen Jungen auf den Markt, kleine Einkäufe zu erledigen. Ausnahmsweise war es möglich, die betreffenden Sachen etwas billiger einzukaufen. Und siehe da, schon flüsterte der Versucher dem Jungen ins Ohr, sich doch für das übrige Geld Näscherei zu kaufen. Schnell wanderte ein 5-Kopekenstück in seine linke Hand, während er mit der rechten schon die Klinke der Ladentür umfasste. „Du könntest doch getrost 10 Kopeken nehmen!“ – flüsterte dem Jungen wieder die Versucherstimme zu. Plötzlich aber regte sich in ihm ein anderes Empfinden. Die Frage stieg in ihm auf: „Was wirst du deiner Pflegemutter zur Antwort geben, wenn sie nach dem Preis der Sachen fragt?“ Noch ehe er sich eine klare Antwort gab, kam ihm ein Lied in den Sinn, das er während des Gottesdienstes singen gehört hatte:

 

Lockt die Welt auf sünd’gen Pfad,

Ihr zu folgen in der Tat,

Dann frage dich nur mit Bedacht:

Was würd’ Jesus tun?

 

Die Worte „Was würd’ Jesus tun?“ ließen ihn nicht mehr los. Sein noch zartes Gewissen regte sich je länger, je mehr. Er stellte sich vor, was Jesus wohl an seiner Stelle tun würde. Das Gute gewann die Oberhand. Er ließ das Geldstück wieder in seine Tasche gleiten. Er sagte der Pflegemutter genau, was die Sachen gekosten hatten.

Bald danach war Zeugnisversammlung in der Gemeinde. Viele erzählten ihre Erfahrungen. Manche brachten auch Schriftworte vor, die ihnen der Herr in besonderer Weise erschlossen hatte. Andere empfahlen sich der Fürbitte. Etliche berichteten zur Ermutigung anderer, wie sie diese oder jene Schwierigkeit mit Gottes Hilfe haben überwinden können.

Hinten in der Ecke saß die Deutsche mit den fünf Tatarenkindern. Die Kinder waren sehr aufgeschlossen. Der Achtjährige fragte seine Pflegemutter, ob er heute auch ein Zeugnis sagen dürfe. „Was mag der Junge wohl hier in der Versammlung der Großen zu sagen haben?“ – dachte sie bei sich und fand es zunächst nicht recht angebracht. Doch der Junge hielt mit seiner Bitte an. Da die Versammlungsleiter merkten, dass den Jungen etwas bewegte, fragten sie die Frau nach dessen Wunsch. Als sie sagte, dass er auch gern ein Zeugnis sagen möchte, willigten sie gern ein und hießen den Jungen auf die Bank steigen. Als hätte ihm schon lange etwas auf seinem Herzen gebrannt, erzählte er nun vor den ganzen Zuhörerschaft in kindlicher Freimütigkeit, wie es ihm an jenem Tag ergangen war. Er betonte, dass ihm die Worte aus jenem Lied „Was würd’ Jesus tun?“ die Wende in seinem Herzen gegeben hätten, so dass er nicht habe lügen brauchen.

Es war zu spüren, dass dieses Zeugnis manch einem Hörer tief zu Herzen ging. Am Schluss wies der Versammlungsleiter noch mit warmen Worten darauf hin, wie der Heiland auch an einem Tatarenkind wirken könne, dessen Vater und Großvater Mohammedaner seien, die gar nicht an Jesus glauben.

 

Katharinenfeld (nachher Luxemburg) liegt am Fuß des 1000 Meter hohen Georgenberges und etwa 9 Meilen weit von Tiflis. Am Tag vor meiner Abreise stieg ich mit mehreren Geschwistern auf den Gipfel des Georgenberges. Oben steht eine vor mehreren hundert Jahren erbaute Armenierkirche. Jährlich einmal steigen die Armenier hinauf um anzubeten. Hier pflegen sie für ihre begangenen Sünden Steinchen an der Wand zu befestigen. Ganze Bündelchen sieht man dort hängen. Die Leute glauben, auf diese Weise ihre Sünden an der Kapellenwand zurücklassen zu können. Fallen diese nach Jahren von selbst herunter, so ist ihrer Vorstellung nach das Gedächtnis der Sünden hinweggewischt.

Wie dankbar waren wir dem Herrn bei Besichtigung dieser Absonderlichkeiten für das uns zuteil gewordene Licht! Auf höchster Spitze des Berges betrachteten wir in gesegneter Dankesstimmung ein Wort Gottes. Dann erhoben wir uns und ließen das Lied in die Weite schallen:

 

Erlösung ist das höchste Gut,

Das je ein Mensch noch fand;

Es ward auch mir durch Jesu Blut,

Seit ich ihn hab erkannt!

 

In Transkaukasus beschäftigen sich die deutschen Kolonisten weniger mit Viehzucht, vielmehr mit Wein-, Obst- und Gartenbau. Das Land war früher wasserarm, da wenig Regen fällt und es fast gar nicht schneit. Aber Gartenbau benötigt viel Wasser. Was war zu tun? Bestand eine Aussicht, es reich an Wasser zu machen? Wie im Geistlichen ein dürres Herz zum bewässerten Garten werden kann, so haben die Bewohner der deutschen Kolonien durch Fleiß die Gegend zu einer überaus fruchtbaren umzugestalten vermocht.

Es war eine harte Arbeit, die so genannten Kerise zu graben. Das sind unterirdische Kanäle oder Stollen, die etwas schräg aufwärtsführend in einen Berg gegraben werden. Es wird so tief in den Berg hineingegraben, bis man auf Wasser stößt. Von oben werden in gewissen Abständen Schächte angelegt, um die Erde besser herausschaffen zu können. Treffen die Arbeiter auf eine Quelle, so fließt das Wasser gleich in starkem Strom aus den Keris und wird in das betreffende Dorf geleitet, das dieses Werk unternommen hat. Es wird so geleitet, dass es in entsprechend breiten Rinnen an jeder Seite der Hauptstraße weiterläuft. Neben jedem Gehöft baut man einen Born, der mit kleinen Röhrchen versehen ist, und aus dem das Wasser jahraus und jahrein, Tag und Nacht in gleicher Stärke herausfließt. Die Leute brauchen nur ihre Gefäße darunterhalten, und sie sind ganz schnell gefüllt. Auch das Vieh kann am immer vollem Trog frischen Wassers den Durst stillen. Das überflüssige Wasser fließt hinter dem Dorf zusammen und wird so geleitet, dass man bequem Gärten und Felder damit bewässern kann.

In Gedanken versunken, stand ich oft und betrachtete mir solche Anlagen. Ich bekam daraus immer neue Bilder und Anwendungen für meine Predigten. Scheut ein trockenes Herz nicht die Mühe, indem es gräbt und gräbt, so kann es wunderbar bewässert werden und herrliche geistliche Früchte tragen. Auch die Führung des Wassers durch das ganze Dorf ließ mich an das Hinausgehen der Reichsgottesarbeiter denken.

Ehe ich abreiste, suchten wir in Katherinenfeld ein passendes Grundstück zum Bau eines Bethauses aus. Sehr bald gingen sie mit großer Freudigkeit an das Bauen. Ich gab ihnen den Rat, nicht zu klein zu bauen. Es hat sich bewahrheitet: Je größer das Bethaus, je mehr Gottesdienstbesucher kommen! In Natalien hatten wir eine sonderbare Erfahrung gemacht. Wir hatten nur etwa 60 beständige Gottesdienstbesucher (so auch ungefähr in Katherinenfeld). Wir erbauten einen Saal mit etwa 400 Sitzplätzen. Nachher wurde der Raum uns noch oft zu klein.

Die Katherinenfelder ließen ihren Plan, für etwa 100 Sitzplätze zu bauen, fallen und bauten so groß wie wir in Natalien. Schon während der Einweihung war das Bethaus zu klein; ein Teil der Besucher musste draußen bleiben. Nun sahen es auch die anderen ein, dass nicht zu groß gebaut worden war.