In Grünfeld

Bald darauf haben auch die Grünfelder mit dem Bau eines Bethauses begonnen. Aus einem Bericht von Bruder Hoss: „Im letzten Jahr wurde hier ein Versammlungshaus mit 200 Sitzplätzen erbaut, entsprechend der Bevölkerung, obwohl nur etwa 30 Besucher kamen. Vom 18. bis zum 26. Februar 1928 fand die Einweihung statt. Wir waren mit den Transkaukasier Geschwistern, die uns zahlreich besucht hatten, in der Gebetsgemeinschaft vom ersten bis zum letzten Tag zusammen. Gleich bei Beginn bekannten 19 Personen, Erlösung gefunden zu haben, andere erlangten Heilung ihres Körpers und Heiligung ihrer Seele. Während der Zeugnisse und Gebete brach manchmal fast die ganze Gemeinde gerührt in Tränen aus. Es kam ein großer Segen über uns. Mehrere Fremde, die zum ersten Mal einer solchen Versammlung beiwohnten, bezeugten, so etwas in ihrem Leben noch nie erlebt zu haben. „Herrliche Dinge werden in dir gepredigt, du Stadt Gottes!“ Meine Seele ist mit Dank erfüllt. Wie ein Echo tönt es aus meinem Herzen: „O, wie groß ist unser Gott!““

Über diesen Bruder Hoss hatte man 6 Jahre vorher eine schwarze Wolke von Verleumdungen, Lügen und falschen Zeugnissen verbreitet. Man wandte unbeschreibliche Mittel an, um ihn zu Grunde zu richten. Er wurde in ein Gefängnis gebracht, wo er in einer Kammer mit elf mohammedanischen Mördern zusammen war. Unter diesen herrschten Erbrechen und Durchfall, und das musste alles in der Kammer verrichtet werden! Unbeschreiblich schwer war die Prüfung.

Von dort brachte man ihn dann aus dem Gefängnis in einen schmutzigen Keller. Auf dem Boden war Wasser und Schmutz zu Eis gefroren. Er musste ohne ein wenig Stroh, ohne Sitz- und Schlafgelegenheit Tag und Nacht dort zubringen. Er musste sich ständig bewegen, um nicht zu erfrieren. Zum Schlafen lehnte er sich für ein paar Minuten an die Wand. Er war manchmal am Zusammenbrechen. Oft wollte er schon aufgeben und sich auf die Erde werfen, um zu sterben. Dann erwachte aber in ihm immer ein Verantwortungsgefühl. Nicht allein wegen seiner Familienangehörigen, sondern er dachte auch an die Anzahl gläubig gewordener Menschen. Wäre er umgekommen, hätte man auch versucht, die anderen Gläubigen wegzuschaffen oder überhaupt alles Christliche zu zerstören.

Er sagte nachher, dass er trotz aller Müdigkeit seine Hände in dem dunklen Keller oft emporhob und in seiner Not laut zu Gott schrie. Er hielt in seiner Verzweiflung Gott sein Wort und seine Verheißung vor. Und er bat Gott, ihn um der Wahrheit und der aufrichtigen Kinder Gottes willen doch aus diesem schrecklichen Keller zu befreien. Gott könne ihn doch wieder zu seinen Lieben bringen.

Jede Nacht zwischen 11 und 12 wurde er herausgerufen und verhört. Aus der Äußerung seines Peinigers verstand er, dass er wohl an die Wand gestellt wird. Eines Nachts, als er wieder in dem halbdunklen Zimmer vor seinem Peiniger stand, sagte dieser: „Sie wissen, dass Sie zwischen Leben und Tod stehen. Es liegt in unserer Hand, sie loszulassen oder zu verurteilen. Sagen Sie doch die Wahrheit!“ Mit diesen und vielen anderen Worten machte der Beamte die Einleitung. Bruder Hoss erblickte hinter den Gardinen, auf dem breiten Fensterbrett, ein mit Bindfaden zusammengebundenes Bücherpaket. Dieses hatten sie bei seiner Verhaftung mitgenommen. Darin waren die Schriften, die er von Deutschland, als er als Kriegsgefangener zurückkam, mitgebracht hatte. Auch seine Bibel war dabei.

Er lief zum Fenster, zog seine Bibel aus dem Paket heraus, hob sie hoch und sagte mit lauter Stimme: „Ich fürchte nur dieses, und darum spreche ich auch die Wahrheit! Durch dieses Gotteswort bin ich soweit gekommen, dass ich nicht lüge. Wegen diesem Buch bin ich hier im Gefängnis!“ Er hob die Bibel spontan hoch. Der „Richter“ schaute erschrocken auf diesen Vorgang und fragte: „Was ist das für ein Buch?“ Bruder Hoss antwortete: „Das ist die Bibel, das Wort des lebendigen Gottes! An das glaube ich fest. Ich bin durch die Bibel ein lebendiger Christ geworden. Dafür leide ich auch hier. Ich bin auch willig dafür zu sterben, wenn es Gottes Wille und Zulassung ist“. Er trug seine Bibel wieder weg und steckte sie hinter den Bindfaden. Der „Richter“ sagte nichts mehr. Er wurde dann gleich wieder abgeführt. Am nächsten Morgen bekam er seine Entlassungspapiere. Dazu erhielt er auch die Erlaubnis, dass er in ganz Georgien, wo er nur Einlass findet, predigen darf. So arbeitet Gott!

 

Als die Regierung auch in Transkaukasus mit der Kollektivwirtschaft anfing, willigte Bruder Hoss gleich von Anfang ein und versuchte, auch die anderen Gläubigen dazu zu überreden. Er glaubte, dadurch manchen Schwierigkeiten für sich und die anderen aus dem Wege zu gehen. Vor allem rechnete er damit, dass sie dadurch die Freiheit zum Gottesdienst behalten würden. Aber wie das Bitten nicht hilft, wenn man in des Löwen Tatzen ist, so half es auch ihnen nichts. Man verbot die Gottesdienste und zerstörte die Bethäuser. Und die Gläubigen gingen alle umher wie die irrenden Schafe. Es wurde mit Ausschluss aus dem Kollektiv gedroht, wenn die Behörde erfuhr, dass sich doch noch einige in aller Stille versammelten. Der Ausgeschlossene bekam dann einen Woltschi-Bilet (d.h. einen Wolfspass). Er verlor dadurch nicht nur sein Stimmrecht, sondern er bekam auch keine Arbeit und durfte auch nichts im Konsum (dem einzigen Laden) kaufen. Sein Besitztum blieb restlos im Kollektiv.

Bruder Hoss und andere sahen es bald ein, dass sie versklavte, enteignete und beraubte Geschöpfe waren. Sie wussten nun, dass sie nichts Besseres erwählt hatten, wie auch ihre Brüder im europäischen Russland. Diese waren gleich zu Anfang enteignet, ins Gefängnis geworfen und nach Sibirien verbannt worden. Es folgen zwei kurze Auszüge aus Briefen:

Der erste Brief vom 3. März 1935: „Bruder Hoss ist auch gestorben und hinten hinausgetragen worden, ohne Gotteswort und ohne Gesang! Es sieht alles so traurig aus, dass es nicht mehr trauriger sein kann“.

Der zweite Brief vom 17. März 1935: „Den Bruder Hoss hat der Herr von allem enthoben. Man hatte ihn am Schluss noch vor Gericht geladen. Gott aber hat ihm das erspart, er nahm ihn noch vor dem Gerichtstermin zu sich. Nach seinem Tode hat die Kommission seine Sachen alle durchwühlt. Aber sie fanden nicht die geringste Untreue. Und so wurde seine Familie wieder in den Kollektiv aufgenommen. Es war von Menschen, die von Gott abgefallen sind, fälschlich angeklagt worden. Die übrigen Gläubigen werden von Spitzeln auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie dürfen keine Zusammenkunft mehr haben, bleiben aber Gott treu. Sie holen sich von Gott Trost durch das Gebet“.

 

Wir verkürzten in Katharinenfeld die Versammlung um ein paar Tage, weil ich auf Wunsch der Geschwister auf meiner Rückreise noch etliche Ortschaften, besonders deutsche Kolonien, besuchen wollte. Weil Tiflis aber auf dem Weg war, und es auch der Wunsch der dortigen Geschwister war, blieb ich ein paar Tage bei ihnen.

Die Kaukasier, die an viel Freiheit gewöhnt waren, konnten sich in dieser Zeit, da sie so eingeengt und gequält wurden, nicht zufrieden geben. Ich begegnete in jener Zeit meist schwerbetroffenen und trostbedürftigen Leuten.

Tiflis, die Hauptstadt Georgiens mit der alten Festung, eine Stadt von seinerzeit etwa 20.000 Einwohnern, liegt am Südabhang des Gebirges, im Tal der Kura. Sie ist eine vielsprachige, wunderlich zusammengewürfelte Stadt und enthält viel Sehenswertes. Die Straßen werden von einem bunten Volksgemisch durchströmt. Man erkennt ein jedes Volk an seiner Tracht. Die Persier erkennt man an ihrer typischen Lammfellmütze und ihrem langen Kaftan; Bergvölker – an der langwolligen „Tscherkesska“, andere – am wallenden Burnus und leuchtendem Turban. Auch findet man noch häufig dichtverschleierte Haremsfrauen. Ganze Reihen von zerlumpten Eseltreibern, Händler mit großen Haufen Kawunen (Wassermelonen) beleben das Straßenbild. Mit besonderem Interesse habe ich mir noch die heiße Schwefelquelle angesehen. Das Wasser in der Quelle muss erst ein wenig abgekühlt werden, ehe man darin baden kann.

Die Griechen, die sich seit dem russisch-türkischen Krieg dort befinden, und deren Gottesdienste fielen wir besonders auf. Ich sah in Tiflis, wie viele an ihren mit Ölfarbe angestrichenen Kirchenwänden, mit leichten, flachen Steinen in der Hand, von unten nach oben rieben. Blieben die Steine hängen, glauben sie dadurch von einer Sünde oder Krankheit erlöst zu sein. Und sie gehen dann befriedigt weg. Auf dem Georgenberg bei Katherinenfeld (jetzt Luxemburg) hat dieser kleine Griechenstamm von alters her eine Hütte (alte Kirche). Dieser Ort wird als heilig betrachtet, und die Pilger wallfahren geschlossen an bestimmten Tagen dort hin. Die vielen Hühnerfedern und Hühnerköpfe zeugen dann von einem großen Festtagsschmaus, der außer dem anderen Drum und Dran dort gehalten wird.

 

Zwei Tage verweilte ich auch in Grünfeld. Dort hatte ich eine gute Gelegenheit in der Töpferei von Bruder Hoss die Tonverarbeitung kennen zu lernen. Ehe der Ton gebrauchsfähig ist, muss er zuvor durch die engen Walzen getrieben werden. Er wird dadurch gleichmäßig und weich. Sehr gut kann man diese Bearbeitung auf das Geistliche anwenden. Wenn die Christen durch Trübsale und Nöte gehen, lassen sie sich williger vom Meister zu der rechten Form bearbeiten.

Dann besuchte ich, begleitet von Bruder Ludwig Metzler, eine neu gegründete deutsche Kolonie, namens Grüntal, dicht an den Gebirgen. In den Gebirgswäldern hausen viele Hyänen. Diese fallen öfter, auch sogar am Tag, die Ansiedler an. Die Hyäne sucht mit allen Mitteln durchzusetzen, was sie im Schilde führt. Dadurch gibt es oft harte Kämpfe zwischen Mensch und Tier. Die Leute, die an diesem Ort gern und zahlreich zum Gottesdienst kamen, mussten von bewaffneten Männern nach Hause begleitet werden. Mir blieben jene segensreiche Stunden unter den nach dem Worte Gottes hungernden Menschen unvergessen.

Dann besuchte ich in Begleitung von Bruder Hoss zuerst Annenthal. Anschließend bereisten wir die etwa 2 Stunden von Ganscha entfernte Kolonie Helenendorf. Diese wurde nach der Großfürstin Helene benannt. Die Häuser und Straßen in den deutschen Kolonien unterscheiden sich sehr von den Häusern und Straßen der Tataren, oder von den halb- und ganz unterirdischen Wohnungen der Armenier und Georgier. Auch in Transkaukasus ist, außer bei den Deutschen, die Hauptbeschäftigung der Landbevölkerung Viehzucht. Daneben wird in den Tälern auch noch Ackerbau betrieben.