Die entscheidende Versammlung

Als die Flüchtlinge von ihren verschiedenen Plätzen zurückkamen, gestaltete sich die geistliche Arbeit unter den Leuten ganz anders. Soviel die Gemüter durch die Leiden und Schwierigkeiten weicher und empfänglicher für Gott geworden waren, soviel hat auch der Aufenthalt und das Leben zwischen den verschiedenen Leuten und Völkern anderseits auch das Gegenteil bei ihnen bewirkt. Sie kamen zum Teil mit einer ganz anderen Einstellung und Ansicht in ihre Heimat zurück. Manche waren in der Kriegszeit und durch die gottlose Umgebung ganz von Gott abgekommen. Andere hatte die Not und viel schweres Erleben wieder näher zu Gott gebracht. Bei solchen Leuten erwachte ein ganz besonderes Bedürfnis nach Gemeinschaft mit den Gläubigen. Von einem solchen Bruder wurde ich auch bald nach West-Wolhynien, in die Nähe der polnischen Grenze, eingeladen.

Im Herbst 1922 besuchten wir mit dem Fuhrwerk die in der Gegend von Nowograd-Wolhynsk gelegene Kolonie Raditsch. Dort wohnte ein Bruder, der eine Anzahl Leute in sein geräumiges Haus zu einem Gottesdienst einladen wollte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich nun die Kunde von unserem Kommen. Baptisten, Adventisten, Juden, Katholiken, kirchliche Brüder und verschiedene Gemeinschaften waren in dieser Gegend mehr oder weniger vertreten. Besonders rege arbeiteten seit kurzem die Adventisten. Sie hegten große Hoffnung, viele Gläubige für ihre Lehre zu gewinnen. Viele Leute dieser Gegend hatten schon von unserer unparteiischen Stellung und der Liebe zu allen Gläubigen gehört. Und so erweckte die Anmeldung unserer Ankunft in allen Kreisen große Neugierde.

Als ich nun mit Bruder Grimm zusammen ankam, sagte uns der Bruder, in dessen Hause die Zusammenkunft sein sollte, dass es heute wahrscheinlich eine große Versammlung gäbe. Es würden nicht allein von den Lutherischen, sondern auch von anderen Richtungen viele Leute sowie deren Prediger anwesend sein. Wir beteten ernstlich zu Gott für das Gelingen der Zusammenkunft. Besonders lag uns am Herzen, den Leuten die lebendige Kraft und Wahrheit des Wortes Gottes nahe zu bringen.

In der Tat sollte gerade diese Versammlung eine entscheidende für die ganze Gegend sein. Schon eine längere Zeit hatten sich aufrichtige Menschen, die aus den Kirchen und Gemeinschaftsverbänden ausgetreten waren, zusammengetan, ohne den von Gott gegebenen Weg völlig zu erkennen. Sie sahen aber doch, dass ihre früheren Ansichten nicht mit dem Worte Gottes übereinstimmten. Und so beabsichtigten sie, eine neue Gemeinde zu gründen. Sie hatten schon mehrere Konferenzen gehabt und suchten nach der wahren Gemeinde.

Gottes Wege sind wunderbar! Gerade zu dieser Zeit kamen wir dort hin. Nichts war zeitgemäßer, als eine Botschaft über die biblische Gemeinde. Und, Dank sei dem Herrn! Er gab sein Wort in großer Klarheit. Den suchenden Seelen wurde mit der Hilfe Gottes gezeigt, dass der Herr schon von Anfang an die Gemeinde durch den Heiligen Geist organisierte. Menschliche Zusätze und Einrichtungen in der Gemeinde, die doch der Leib Christi ist, sind nur ein Hindernis. Sie sind wie Krücken und Bruchbänder für einen gesunden menschlichen Leib. Sehr viele Besucher bekamen einen Blick für die biblische Gemeinde. Sie erkannten, dass die Befolgung des Wortes Gottes als Gemeindeordnung genügt. Der Herr sorgt für die allerbeste Ordnung und Organisation, wenn die Glieder dem Heiligen Geiste untertan und gehorsam sind.

Nach der Predigt begann die Diskussion, die ich unter den gegebenen Verhältnissen nicht hätte vermeiden können. Zumindest wäre das nicht gut gewesen. Zunächst erhob sich einer von den russischen Baptisten. Er fragte, warum es eigentlich so viele Gemeinschaften gibt. Ich wandte mich darauf an alle Versammelten und zeugte von der gottgewollten Einheit aller Kinder Gottes. Ich versuchte kurz darzulegen, dass alle wahren Kinder Gottes im Grunde bestrebt seien, sich unter das eine Haupt, Christus, zu stellen. Die Zersplitterung könne also nur auf ein Abweichen vom Gehorsam gegen den Heiligen Geist und das Wort Gottes zurückzuführen sein. Ein allgemeiner Abfall der Gemeinde habe schon kurz nach der Apostelzeit begonnen. Die tiefste Ursache der Zersplitterung läge an einem Mangel an der rechten Demut. In dieser liegt der Gehorsam zur Leitung des Heiligen Geistes immer verborgen. Schon Israel sei in Gefangenschaft und Zerstreuung geraten, weil es nicht mehr auf die Stimme der Propheten hören wollte. Auch unter dem Volke Gottes des Neuen Testamentes haben sich die Folgen des Ungehorsams gegen seinen Heiligen Geist jahrhundertelang ausgewirkt. Und so sind wir schließlich in diese Zersplitterung hineingeraten, die wir heute vor Augen haben.

Aber Gott, der oft auch Strafe kommen lässt, will sich auch immer wieder seines Volkes erbarmen. Er sagt: „Ich will mich meiner Herde selbst annehmen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, die von seiner Herde verirrt sind, also will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie zerstreut waren zur Zeit, da es trüb und finster war“. An anderer Stelle sagt der Prophet: „Fliehet aus Babel mit fröhlichem Schall!“

Die zweite Frage stellte der Adventistenprediger, ungefähr im folgenden Wortlaut: „Wenn ein jeder in dem bleibt, worin er ist: Ich bin Adventist, der eine – Baptist, der andere – ein evangelischer Kirchenchrist usw., können wir da zusammen eine Gemeinde Gottes bilden?“ Durch das Wort Gottes habe ich diese Frage auch schon zum Teil in der Predigt beantwortet. Aber zu einer ganz direkten Antwort schien sie mir noch etwas ungelegen zu kommen, da ich nicht unweise ans Werk gehen wollte. So zögerte ich ein wenig.

Mittlerweile stellte ein anderer eine Frage. Diese beantwortete ich. Dann erinnerte mich der Adventistenprediger wieder an seine Frage. In dem Moment warf ein Dritter eine Frage auf, dann noch einer, die ich beide beantwortete. Jetzt mochte der Adventistenprediger bei sich denken: „Hier habe ich ihn festgenagelt. Jetzt kann er mit seinen Theorien nicht mehr weiter. Aber er muss mir antworten!“ So stand er auf und sagte im fordernden Ton: „Ich fordere Antwort auf meine Frage!“

Um noch ein klein wenig Zeit zum stillen Gebet und inneren Aufblick zu bekommen, sagte ich zu ihm, er möchte doch so freundlich sein und seine Frage noch einmal wiederholen. Es sollen sie ja alle richtig hören. Die Zuhörer saßen schon während all der Fragen in großer Spannung da. Die Versammlung selbst war ja eigentlich zu Ende. Es war nur noch freie Diskussion. Aber niemand wollte gehen, da sie wohl meinten, dass es hier noch eine zünftige Debatte gäbe.

Der Adventistenprediger stand auf und wiederholte noch einmal seine Frage in deutlichem Tone. Er sagte: „Ich bin ein Adventist, jener – ein Baptist, der andere – ein evangelischer Gemeinschaftsbruder usw. Wenn nun jeder in dem Seinen bleibt, können wir dann zusammen eine Gemeinde Gottes bilden?“ „Worin bleibt?“ – fragte ich nun, während ich still zu Gott flehte, dass er selbst hier die Antwort geben möchte. „Nun“, sagte der Adventistenprediger, „ein jeder in seiner Gemeinschaft, oder in anderen Worten, ein jeder in seinem Rahmen“.

Jetzt fühlte ich, dass der Herr mir eine Antwort auf die Zunge gelegt hat, und sagte mit lauter Stimme: „Der Gott des Himmels anerkennt keinen Rahmen, als nur seinen eigenen!“ Wie im Flug hatte ich die Zustimmung fast der ganzen Versammlung. Ich merkte, dass Gott durch dieses einfache Wort einen hellen Lichtstrahl in die Herzen der Hörer geworfen hatte. Die Mehrzahl war von dem innersten Wesen der neutestamentlichen Lehre und der einen Gemeinde überzeugt worden. Dieses war auch der Schlüssel für die ganze Gegend. Das Wort Gottes wurde lebendig und wuchs mehr und mehr.

Da keine Fragen mehr gestellt wurden, fragte ich, ob ich nun frei sei. Da meine Frage allgemein mit „ja“ beantwortet wurde, ging ich aus dem Haus. Und siehe da, fast die ganze Versammlung folgte mir. Von vielen hörte ich dann: „Das ist die Wahrheit, das ist das Rechte!“ Ich dankte dem Herrn für diese bahnbrechende Versammlung in dieser Gegend. Eine nicht geringe Anzahl derer, die unter den Einfluss falscher Lehren geraten waren, erlebte die Erfüllung des Heilandswortes: „Und die Wahrheit wird euch frei machen“.