Unsere Reise von Sibirien nach Wolhynien

Es war für mich vorteilhaft, dass ich wegen meiner Tätigkeit gute Papiere bekam. Meine beiden Schwestern entschlossen sich auch, samt ihren Familien, die Reise nach Wolhynien zurück zusammen mit uns zu machen. Und so fuhren wir gemeinsam am 1. Oktober 1921 nach Omsk zum Bahnhof. Hier verabschiedete ich mich vom obersten Beamten der Sowchose. Dabei gab er sich viel Mühe, mich zu überreden, wieder in den Sowchos zurückzukehren. Bei dieser Gelegenheit sagte ich ihm offen, dass ich bei meinem Dienst in der Sowchose oft das tun musste, war sich mit meinem Gewissen nicht vereinbarte. Er sagte noch, er hätte sich vorgenommen, in dem Sowchos 23 ein „Westsibirisches Laboratorium“ einzurichten. Er wollte mich dort als Tierzüchter anstellen. Aber wir ließen uns nicht mehr von unserem Vorhaben, nach Wolhynien zurückzureisen, abbringen.

Diese Reise ist uns allen unvergesslich geblieben. Wir fuhren durch die Hungergegend. Wir sahen die Hungrigen auf den Bahnhöfen und im Freien herumliegen. Die durch Hunger Gestorbenen trug man dann auf Bahren weg. In dieser Zeit hatte die Hungersnot, besonders in der Samarer Gegend, ganz schrecklich gewütet. Tausende, besonders junge Leute, flüchteten dahin, wo es noch Brot und Esswaren gab. Von Ssisran bis vor Kiew sahen wir bei unseren tagelangen Reisen tausende hungernde, ausgezehrte und dürre Menschen. Am meisten waren es Kinder von 10 bis 16 Jahren, die vom Hunger gezeichnet waren. Auf jeder Station warteten unzählige Menschen, die noch gehen konnten, auf den Zug. Wenn die Züge ankamen, flehten sie mit aufgehobenen Händen um ein Stückchen Brot.

In den Wartesälen lagen in jedem Raum 20, 30 sogar bis 40 solcher halbverhungerten Menschen, vor allem Kinder, auf dem kalten Fußboden. Die Schwächeren dienten den Stärkeren als Kopfkissen. Von den Toten zogen sich die noch Lebenden nach deren Erkalten zurück, wenn sie noch die Kraft dazu hatten. Die noch dazu fähig waren, setzten den Beamten so lange zu, bis die Verstorbenen mit der Bahre weggetragen wurden. Meine Frau ging nur einmal in solch einen Wartesaal hinein. Ich bin öfter hineingegangen, so traurig der Anblick auch war.

Auf den Personen- und Güterbahnhöfen standen lange Güterzüge oft wochenlang. In diesen Zügen waren überwiegend deutsche Flüchtlinge, die sich wieder auf dem Heimweg befanden. Die Behörde hätte sie zu gern in Sibirien behalten oder wieder dorthin zurückgeschickt. Unter den Deutschen waren auch Russen und andere Völker, die aus den Hungergegenden kamen und auf der Suche nach Lebensmitteln waren.

Der Zustand und die Unordnung auf den Bahnhöfen lässt sich nicht beschreiben. Es war Herbst und Regenwetter. Der ungepflasterte Boden war total aufgeweicht. Dazu waren für die Menschenmengen viel zu wenig Bedürfnisanstalten. Ein grässliches und ekelhaftes Gefühl überkam jeden, ob krank oder gesund, wenn er aus dem Wagen aussteigen musste. Man trat in einen etwa 20 cm tiefen, mit allem Schmutz durchkneteten Morast. Auf dem Bahnhof Kursk sah ich, wie ein etwa 13-jähriges Mädchen eine Schale von einer Wassermelone aus dem Morast zog, sie am Ärmel etwas abwischte und dann aß.

An den Wänden und Säulen der Bahnhöfe waren überall Warnungen angebracht: „Hütet euch vor den Läusen, denn sie übertragen den Hungertyphus!“ Diese Krankheit hatte auf der Durchreise schon manch einen erfasst. Besonders gefährdet waren die Reisenden in den Güterzügen. Diese waren oft wochenlang unterwegs, sie mussten auch oft das Gepäck aus einem Wagen in den anderen tragen. Oft mussten sie auch in einen anderen Zug.

Eines Tages holten sie mit der Bahre auch aus unserer Mitte die Schwester meiner Frau. Mit ihr, Emilie Sommer, haben wir in den Jahren in Sibirien Freude und Leid geteilt. Sie wurde zurückbehalten, weil sie an Typhus erkrankt war. Wir und ihr Mann mit den Kindern mussten weiterfahren. Das Kleinste war erst einen Monat alt. Bald darauf bekam der Schwager Nachricht, dass seine Frau gestorben sei.

Wie wurde uns diese lange Fahrt doch so bitter und schwer! Viele ereilte das Geschick wie uns: Die erkrankten Angehörigen wurden zurückbehalten, in ein Krankenhaus überführt, während die eigene Familie weiterfahren musste. Das gab für viele ein schweres Scheiden, meist für immer! Im Wagen neben uns starben plötzlich zwei Frauen, Mütter von kleinen Kindern. Auch zwei große Familien, von zusammen 18 Personen, wurden hingerafft. Es blieb aus jeder Familie nur ein Kind am Leben.

Die Leichen wurden auf den Bahnhöfen aus dem Zug genommen und in den dort eingerichteten Totenhäusern aufgebahrt. Das plötzliche Scheiden während der Reise war für die Betroffenen fast unüberwindlich und sehr, sehr schwer. Wie bereits erwähnt, machte uns die Behörde die Reise so sehr schwer. Sie hofften wohl, dass die aus Sibirien kommenden Reisenden die Strapaze leid würden und doch wieder nach Sibirien zurückkehrten.

Obwohl wir uns auf der Reise sehr vorsahen, stieß uns doch so manches zu. Oft mussten wir umsteigen, oft die Wagen wechseln. Und wie froh waren wir, wenn wir wieder einen leeren Wagen bekamen! Mit Umsteigen und Einladen musste man ganz fix handeln, denn es warteten schon Hunderte andere auf die Plätze. Nachdem wir einmal wieder so schnell einen Viehwagen besetzt hatten, stellten wir fest, dass wir trotz all unserer Vorsicht in einen schrecklich verlausten Wagen geraten waren. Es waren da so viele Läuse, dass dies ganz unglaublich und unbeschreiblich ist!

In Sibirien sahen wir einmal auf einem Markt einen verlausten Pelz, der so voller Läuse war, dass es uns schien, es seien mehr Läuse als Haare in dem Pelz. Ein andermal sahen wir, als ein Kirgise seinen Pelz auszog, auf seinem Kaftan (Kittel) so viele Läuse, dass wir zuerst dachten, es wäre Mahl darauf gestreut. Ich habe gesehen, wie Leute über ein Feuer aus ihren Hemden die Läuse geschüttelt haben. Andere ließen ihre Pelze tagelang auf einem Ameisenhaufen liegen. Aber dass Läuse an der Decke, an den Wänden und am Boden scharenweise krochen, das hatte noch niemand von uns gesehen.

Es war nicht möglich, in diesem Wagen zu bleiben. Wir gaben die weniger wertvollen Sachen auf, mit den anderen fuhren wir in einem Personenzug weiter. Ohne Schwierigkeiten ging es aber auch hier nicht ab, denn wir mussten oft umsteigen. Ehe man in einen Zug kam, musste man erst ein paar Tage wie mit den Wilden kämpfen. Besonders war es schwierig wegen dem Gepäck. Es warteten ja so viele auf den Stationen. Ein jeder wollte weiterfahren, auch seine Sachen mitnehmen. So musste auch oft tagelang gewartet und gekämpft werden.

Unweit von Kiew erkrankte auch ich. Wieder gab es ein schwieriges Umsteigen. Dazu musste ich in dem dichtbesetzten Wagen auch noch die ganze Strecke stehen. Doch waren wir trotz allem dankbar und froh für jede Stunde unseres Lebens und Beisammenseins. Jedoch in Kiew, etwa 200 Kilometer von unserer Heimat, setzte meine Krankheit, Rückfall von Flecktyphus, erst richtig ein. Meine Frau und die kleinen Kinder, sowie auch meine Verwandten, waren sehr bekümmert. Sie fürchteten, dass man auch mich zurückbehalten und in ein Krankenhaus bringen würde. Sie verhielten sich sehr still, setzten sich rings um mich. Es sollte doch möglichst niemand merken und erfahren.

Meine Krankheit erreichte gleich das höchste Stadium, und bald begann ich zu phantasieren. Oh, was waren das für schwere Stunden für meine Lieben! Als ich mal wieder zu mir kam und meine Augen aufschlug, sah ich sie mit Tränen in den Augen unauffällig ihre Hände ringen und ernst beten. Ich merkte, dass mehrere ihre Hände auf mich legten und in aller Stille aus tiefstem Herzen zu Gott riefen. Wie hat doch dieses auf mich eingewirkt! Ich verspürte, dass Gottes Hand mich angerührt hatte. Ich konnte mich aufrichten und sagen: „Jetzt ist es mit mir besser geworden“. Man brachte mir zu essen und zu trinken. Und obwohl ich noch schwach war, konnten wir mit Freuden und Dankbarkeit weiterreisen. In Teterow, die Hälfte des Weges von Kiew der Heimat näher, mussten wir wieder umsteigen. Ein großes Wunder war geschehen: Ich konnte schon wieder, etwas unterstützt, auf meinen Beinen gehen. Wir gaben Gott die Ehre!

Nach vierwöchiger Reise, am 1. November 1921, trafen wir zusammen mit meiner Schwester und ihrer Familie in ihrem Haus in der Nähe der Stadt Olewsk ein. Ukrainer hatten sich während der Abwesenheit der Deutschen die Häuser angeeignet. Doch war den aus der Verbannung Zurückkehrenden das Recht zuerkannt, ihre Wohnungen und Häuser wieder zu beziehen.

Wir erklärten, dass wir über die Grenze weiter fahren wollten. Aber zu unserer Bestürzung erfuhren wir, dass gestern der letzte Zug von Olewsk nach Ssarne (Polen) abgegangen sei. Ssarne ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt an der Slutsch. Nach Ssarne war seit dem Jahre 1900 regelmäßig ein Zug von Olewk gefahren. Nun sollten auf dieser Strecke keine Züge mehr verkehren. Ich stand da erschüttert und fragte: „Gott, warum?“ Wir konnten es nicht verstehen.

Zunächst ließen wir uns in dem Haus meiner Schwester nieder. Bald darauf erkrankte ich wieder – Rückfall. Und gerade während der Zeit meiner Krankheit öffnete sich die Grenze. Aufständische hatten Unruhe angestiftet und die Grenzbeamten vertrieben. Für uns wäre es dadurch nur eine Kleinigkeit gewesen, die Grenze zu passieren, zumal wir nur 6 Kilometer von der Grenze entfernt wohnten. Aber meiner Krankheit wegen musste auch diese Gelegenheit ungenutzt bleiben. Wir fragten uns, ob es doch Gottes Wille sein möge, dass wir in Russland blieben. Je länger, desto weniger konnten wir uns dieser Überzeugung erwehren. Bald darauf erkrankten meine Schwester und deren Mann, und starben beide. Auch ihre drei Kinder wurden krank. Von Stund an nahmen wir die Kinder zu uns.