Keine Gnade

Weil ich kein Tagebuch geführt habe, ist mir manche Erinnerung verloren gegangen. Doch von den Begebenheiten, die mir noch im Gedächtnis geblieben sind, möchte ich Folgende erzählen.

Als wir aus dem Gefängnis frei wurden, hatten wir gute geistliche Gemeinschaft mit Br. Barbulla. Weil er in einem ca. 25 km entfernten Dorf wohnte und ich zur täglichen Arbeit musste, konnte ich ihn nicht oft besuchen. Doch Br. Barbulla besuchte uns, so oft es ihm möglich war. In unserer gemeinsamen Zeit hat der Bruder manche Begebenheit aus seinem Leben erzählt.

Br. Barbulla war mit einem Bruder bekannt, der wie auch wir um seines Glaubens willen verhaftet wurde. Man hat auch ihm allerlei falsche Zeugen zugeführt und ihn beschuldigt, ein Schädling für die Sowjetrepublik zu sein. Durch eine List hat man ihm noch mehr angehängt. Man eröffnete ihm: „Wie du siehst, haben wir dir soweit alle Vergehen nachgewiesen und du wirst nun zu 25 Jahren Haft verurteilt. Weil wir aber noch die Hoffnung haben, dass du dich bessern und deine christliche Propaganda aufgeben wirst, wollen wir dir eine Chance geben freizukommen. Wenn du nun diese Bibel mit deinem Fuß trittst, dann glauben wir, dass du uns verstanden hast, und du kannst frei werden.“

Der Beschuldigte erzählte, dass er in dieser Situation so verwirrt und in seinem Gemüt so stark verletzt war, dass er die Lage, in der er sich befand und die Folgen seines Handelns gar nicht einschätzen konnte. So legten die Ankläger eine Bibel auf den Boden und er folgte der Anordnung und trat dagegen. Als er dies getan hatte, regte sich der Richter ungemein auf: „Bisher hast du deine Unschuld verteidigt und wolltest keiner Beschuldigung zustimmen. Jetzt haben wir aber erfahren, dass du kein verlässlicher Mensch bist. Du hast das, was heilig ist, mit Füßen getreten. So ein Mensch darf nicht frei unter den Leuten sein, er ist ein Verbrecher.“ Und er wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Als er, wie alle anderen Häftlinge aus Glaubensgründen, vorzeitig freikam, wurde er krank. Br. Barbulla besuchte ihn, als er bereits auf dem Krankenbett lag. Der Mann erzählte diese traurige Geschichte und fügte noch hinzu: „Ich gehe verloren. Als ich die Bibel mit dem Fuß getreten hatte, war es mir, als hätte mich eine Kraft verlassen, und in meiner Seele wurde alles still und dunkel. Danach war mir alles Göttliche zuwider. Ich muss nun ernten, was ich gesät habe.“ Br. Barbulla war entsetzt und konnte es nicht fassen: „Sollte das wahr sein, was du sagst? Du hast doch noch deinen Verstand, bete doch!“ „Ich kann nicht beten“, erwiderte er, „sag mir nichts mehr von Gott.“ Br. Barbulla war sehr erschrocken, er versuchte sich dem Kranken zu nahen und beugte sich über ihn, aber er wandte sein Gesicht von ihm ab.

Br. Barbulla konnte es nicht begreifen und ihm kamen die Worte des Hebräerbriefschreibers in den Sinn: „Denn es ist unmöglich, die, so einmal erleuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen, wiederum zu erneuern zur Buße, als die sich selbst den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und für Spott halten“ (Hebr. 6,4-6).

Dieser Mann ist auch so hoffnungslos verstorben. Der große Gott möchte uns vor so einem Schicksal bewahren!

 

Es war gegen Ende der 60er-Jahre. Wir hielten damals die Versammlungen in den Häusern der Geschwister monatsweise abwechselnd. Die Räume waren oft klein und voller Menschen, sodass im Sommer während des Gottesdienstes die Fenster geöffnet wurden. Die Wortverkündigung drang nicht so sehr nach draußen, doch der Gesang war weithin zu hören. Ein Mann im Dorf, dessen Frau die Versammlungen besuchte, war schon länger krank. Nun traf es zu, dass die Versammlungen in einem Haus abgehalten wurden, das um einige Häuser versetzt gegenüber ihrem Haus war. Die Frau hatte bereits öfter versucht, ihren Mann zu den Gottesdiensten einzuladen, doch bisher hatte er immer abgelehnt. Jetzt, da der Versammlungsort ihrem Haus so nahe war, versuchte sie ihn erneut einzuladen. „Die Gelegenheit ist so günstig, vielleicht wird sie nie mehr so günstig für dich sein.“

Mit viel Zureden bat sie ihren Mann, in den Gottesdienst zu kommen, doch er folgte der Einladung nicht. Später berichtete der Mann: „Ich verspürte in mir ein starkes Mahnen, mit in den Gottesdienst zu gehen. Es könnte für mich einmal zu spät werden. Doch ich widerstand. Als meine Frau zur Versammlung gegangen war, nahm ich einen Stuhl, setzte mich vor das Haus und hörte zu, wie gesungen wurde. Ich war so beunruhigt, dass ich eine Zigarette nach der anderen rauchte in der Hoffnung, damit meine Unruhe zu dämpfen. Immer wieder redete es in mir: ‚Warum bist du nicht mitgegangen, es könnte einmal zu spät werden.‘ Ich war so berührt, dass jedes mal, wenn gesungen wurde, ich mich kaum halten konnte. Ich sagte aber niemandem etwas davon. Die Versammlung wurde bald an einen anderen Ort verlegt, ich hörte den Gesang nicht mehr und so beruhigte sich alles in mir. Ich spürte, wie gleichgültig und tot ich gegenüber allem Göttlichen wurde, nichts reute mich mehr. Die Angst vor dem Verlorengehen war weg, zu etwas Göttlichem war kein Trieb mehr vorhanden.“

Nach einigen Monaten wurde der gesundheitliche Zustand des Mannes immer schlimmer. Die Frau sah die Lage ihres Mannes, kam zu mir und bat mich, doch einmal mit ihrem Mann zu sprechen. Als ich zu ihm kam, ging es ihm sehr schlecht. Ich sprach ihn direkt an: „Du kannst sterben, bist du zum Tod bereit?“

Daraufhin erzählte er mir seine Geschichte und sagte: „Ich muss jetzt mit meinem Los zufrieden sein. Ich habe das Heil versäumt und kann es nicht mehr fassen.“ Ich versuchte ihn noch auf die Gnade Gottes hinzuweisen, doch er nahm nichts mehr an. Auf meine Frage: „Soll ich für dich beten?“, antwortete er: „Du kannst beten, aber für mich ist es zu spät.“

Genau so hat es der Prophet Hosea gesagt: „Weh ihnen, wenn ich von ihnen gewichen bin“ (Hos. 9,12). Ich versuchte noch zu beten, aber es schien, als ob die Worte nur bis zur Zimmerdecke aufstiegen. So endete der Tag der Gnade bei einem Menschen noch bevor ihn Gott aus dieser Welt abrief. Kurze Zeit nach unserem Gespräch starb er.

Wie unendlich traurig ist es doch, von solchen Vorfällen zu sprechen. Uns aber, die wir leben und Gnadenzeit haben, soll dies zur Warnung sein.