Meine Verhaftung

Ich wurde im Spätherbst 1952 verhaftet. Es war für meine Familie eine sehr ungünstige Zeit. Unser Dorf Kamenka lag am Fluss Ischim. In den Jahren 1948 – 1949 war das Hochwasser im Frühjahr so hoch angestiegen und über die Ufer getreten, dass die Häuser im Dorf bis zu einem Meter tief im Wasser standen. Da die Häuser aus ungebrannten Lehmziegeln gebaut waren, weichten diese auf und viele Häuser stürzten ein. Andere Häuser sackten zusammen, sodass man auch nicht mehr darin wohnen konnte. Auch unser Haus wurde durch das Hochwasser beschädigt.

Die Dorfverwaltung beschloss, das Dorf an einer etwas entfernteren und höheren Stelle wieder neu aufzubauen. So mussten auch wir 1951 mit dem Neubau unseres Hauses beginnen. Im Herbst 1952 war der Bau so weit fertiggestellt, dass die Fenster und eine Eingangstür eingebaut waren. Auch ein Ofen war eingebaut, und wir wohnten notgedrungen schon im Haus. Der Vorbau des Hauses und der Stall waren noch nicht fertig.

Es bestand damals die Regel, wenn jemand verhaftet wurde, so wurde auch sein Haus, sein Vieh und Land beschlagnahmt. Meine Frau war krank und konnte nicht in der Kolchose arbeiten. Mein ältester Sohn war damals 19 Jahre alt, und wir hatten noch vier jüngere Kinder, die zur Schule gingen. Wir hatten keine Ersparnisse, von denen wir uns woanders eine Unterkunft hätten kaufen können. Doch nun sollten Frau und Kinder das Haus verlassen. Der Vorsitzende der Kolchose sah die Not und Armut der Familie und meldete das Haus als Eigentum der Kolchose an. So konnte die Familie darin wohnen bleiben. Der liebe Gott hat das Herz dieses gottlosen Menschen so gelenkt, dass er sich für uns einsetzte. Die Kuh wurde uns dennoch genommen, und ich musste meine Familie verlassen.

Meine Gesundheit war zu der Zeit nicht gut. Ich hatte unter dem Arm eine eiternde Wunde, die mich bereits zuhause ziemlich beunruhigt hatte. Und als ich im Gefängnis auf dem eisernen Bettgestell mit dem aufgespannten Drahtnetz in der Kälte schlafen musste, wurden die Schmerzen noch größer.

Zuhause versuchte man meine weinende Frau mit den Kindern zu trösten: „Nehmt es nicht so zu Herzen. Es ist halt eine Klage über euren Vater eingegangen und unsere Regierung, die alle sehr gerecht behandelt, wird das überprüfen. Euer Vater wird bald wieder zuhause sein.“ Das war aber alles nur Betrug, denn wer einmal von zuhause weg war, kam gewöhnlich nicht mehr zurück.

Man brachte mich in das Gefängnis der Stadt Atbasar. Bruder Hermann Günther hat das gleiche Los getroffen. Wir wurden als besonders gefährliche Leute angeklagt, die nicht unter dem freien Volk leben durften. Es wurde eine Anzahl von Zeugen befragt, die unter Druck manche Lügen bestätigen mussten. Doch insgesamt konnte man keine schwerwiegende Beschuldigung vorbringen. So hat man mich unter psychischen Druck gesetzt.

Am Tag durfte ich weder sitzen noch liegen, sondern musste immer auf den Beinen sein oder mich etwas an die Wand anlehnen. Der Fußboden war aus Beton, nass und kalt. Abends war ab 22 Uhr „Otboi“, also Ruhen. So wie ich angezogen war, legte ich mich auf das Drahtgeflecht des eisernen Bettgestells. Wegen der Kälte war zunächst nicht an Schlaf zu denken, doch mit der Zeit schlief ich vor Erschöpfung ein. Und dann wurde ich geweckt und zum Verhör gerufen. Das Verhör dauerte gewöhnlich bis zum Morgen. Wenn ich wieder in die Zelle zurückkam, blieben oft nur noch zwei Stunden zum Ruhen, dann musste ich wieder aufstehen. Dies ist mir psychisch sehr schwer gefallen. Das Ziel der Peiniger war, den Menschen durcheinanderzubringen, damit er sich in Lügen, die sie immer wieder unterschoben, verwickelte.

Gott sei Dank, der Herr hat mich so gestärkt, dass ich keiner ihrer Lügen zustimmen brauchte. Als sie sahen, dass ihr Vorhaben nicht den gewünschten Erfolg brachte, haben sie etwas anderes angewandt. Die uns zur Last gelegten Beschuldigungen wurden als politisch besonders gefährlich eingestuft. Weil aber schon eine geraume Zeit vergangen war und die Sache nicht zum Abschluss gebracht werden konnte, kam eines Tages ein Inspektor aus der Hauptstadt Alma-Ata. Er hat sich die Beschuldigungen gegen mich angesehen und sagte: „Das ist alles zu wenig, um den Mann für 25 Jahre zu verurteilen.“

Zu jener Zeit gab es eine sogenannte „Troika“ beim Gericht. (Eine Troika (russisch тройка; auch судебная тройка, „Gerichtstroika“) war in der sowjetischen Geschichte eine Kommission von drei Personen, die Strafen gegen verhaftete Personen verhängen konnte. Bis 1924 konnten sie bis zu drei Jahre Haft verhängen, ab 1924 bis zu fünf Jahren Straflager. Sie waren keine Justizorgane, sondern gehörten in der Regel zum Innenministerium der UdSSR (NKWD), verhängten also Verwaltungsstrafen. Vorsitzender der Troika war der Leiter der jeweiligen NKWD-Verwaltung. Normalerweise setzte sich die Troika weiter aus dem Staatsanwalt der Republik, der Region bzw. des Gebiets oder dessen Vertreter sowie dem Sekretär der entsprechenden regionalen Parteiebene der KPdSU zusammen. (Anm. d. Hrsg.) Einer aus der Troika brachte Beschuldigungen gegen mich vor, die ich bestätigen sollte und mich schuldig bekennen. Ich verneinte die vorgebrachten Beschuldigungen und wies sie von mir. Jedoch die anderen zwei aus der Troika bestätigten die Beschuldigungen als wahr. Somit wurden die Beschuldigungen als Tatbestand oder Wahrheit anerkannt. Auf diese Weise sammelten sie so viele Schuldsprüche, bis sie für eine Verurteilung zu 25 Jahren Haft ausreichten.

Bei dieser Vorgehensweise kommen mir die Worte Jesu in den Sinn: „Ihr seid von dem Vater dem Teufel und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselben“ (Joh. 8,44). Ich weiß, dass nur die vielen Gebete meiner Frau, der Kinder und auch der Geschwister mich durch diese Zeit getragen haben. Es schien mir ganz ähnlich zu gehen, wie es bei der Kreuzigung Jesu und seinen Leiden zuging. Die Worte Jesu haben auch mir viel Trost gegeben: „Denn so man das tut am grünen Holz, was will am dürren werden?“ (Lk. 23,31).

Ich war zu diesem Zeitpunkt 43 Jahre alt. Rechnete man 25 Jahre dazu, so kam man auf ein Alter von 68 Jahren. Betrachtete man die Lage, so war nach menschlichem Ermessen nur noch sehr wenig Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. Ich habe mich mit der Überzeugung getröstet: Gott kennt meine Lage und ohne seine Zustimmung kommen die Beschlüsse der Menschen nicht zustande. Mit diesem Gedanken konnte ich auch meine Frau und die Kinder trösten: „Wenn ich auch von Menschen zu 25 Jahren Haft verurteilt bin und sie das Urteil unterschrieben haben, so heißt das noch nicht, dass auch der große Gott es unterschrieben hat. Er kann noch alles lenken und ändern.“

So kam es auch. Im März 1953 starb Josef Stalin. (Josef Stalin war seit 1922 Generalsekretär der KPdSU, seit 1941 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, seit 1946 Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR und in den Jahren 1941 bis 1945 Oberster Befehlshaber der Roten Armee. Während seiner Regierungszeit errichtete Stalin eine totalitäre Diktatur und ließ im Rahmen politischer „Säuberung“ vermeintliche und tatsächliche Gegner verhaften, in Schau- und Geheimprozessen zu Zwangsarbeit verurteilen oder hinrichten sowie Millionen weiterer Sowjetbürger und ganze Volksgruppen besetzter Gebiete in Gulag-Strafarbeitslager deportieren. Viele wurden dort ermordet oder kamen durch die unmenschlichen Bedingungen ums Leben. Die durch ihn vorangetriebene Kollektivierung der Landwirtschaft trug insbesondere in der Ukraine, an der Wolga, im Kuban-Gebiet und in anderen Teilen der Sowjetunion zu Hungersnöten bei, denen ungefähr sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen. (Anm. d. Hrsg.) Die Menschen in den Straflagern und Gefängnissen hofften auf eine Veränderung zum Besseren. Bald konnte ich in die Revision gehen und wurde nach zweieinhalb Jahren Haft freigelassen. Zur gleichen Zeit kam auch Br. Johann Barbulla frei. Br. Hermann Günter war sogar schon etwas eher freigekommen.

Als ich entlassen wurde, da sagte man zu mir: „Habe acht und sieh dir an, wie gut es unsere Regierung mit dir meint. Wirst du aber nach Hause kommen und mit deiner Religion weiter machen wie vorher, so wirst du bald wieder hier sein und den Rest deiner Strafe verbüßen. Dann wird dir niemand mehr helfen können.“ Ab jetzt war ich frei und wurde auch am 06.02.1954 rehabilitiert. Rehabilitation (Wiederherstellung) bezeichnet die Bestrebung, einen Menschen wieder in seine frühere soziale oder juristische Position zu versetzen. Beginnend 1953/1954 wurden in der UdSSR im Rahmen der „Entstalinisierung“ zu Unrecht verurteilte Opfer des Stalinismus rehabilitiert. (Anm. d. Hrsg.)

Weil Br. Günter früher nach Hause gekommen war, fanden bereits wieder Stubenversammlungen statt. Ich kam nun dazu und wir freuten uns miteinander. Ich erzähle all dieses lange nicht mehr mit dem Eindruck, der zu jener Zeit in meinem Herzen war. Die Zeit hat sich geändert, ich habe das Leben viel mehr kennengelernt. Da wir nun mit den Brüdern J. Barbulla, H. Günter und Schiewe zusammenkamen, beschlossen wir, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich uns bieten würde, um Gottes Sache weiter voranzutreiben. Wir waren uns darin einig, seine Zeugen zu sein. Wir taten auch, was immer unter den gegebenen Umständen möglich war.

Ich hatte keine Erfahrung in der geistlichen Arbeit. Die anderen Brüder, außer Br. Barbulla, eben so wenig. Ich war wiedergeboren und habe gemäß dem Licht gelebt, das Gott mir gab. Ich hatte zu jener Zeit keine Kenntnis von der Heiligung. Da kam mir Br. Barbulla zur Hilfe und legte mir den Weg der Heiligung besonders ans Herz. Wie nötig ist es doch für einen Arbeiter im Reiche Gottes, diese Erfahrung zu besitzen!

„Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellеt euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille“ (Röm. 12,1-2). In Vers 2 sagt der Apostel, dass wir prüfen sollen, was der Wille Gottes ist. Dazu brauchen wir Gottes Nähe und die Leitung des Heiligen Geistes. Wenn diese Leitung des Geistes fehlt, hat man oft Schwierigkeiten, den Willen Gottes von der menschlichen guten Meinung zu unterscheiden.

Ich bin Gott dankbar für die Erfahrung der Heiligung. Sie gab mir Kraft, gegenüber Dingen festzubleiben, die nicht dem Willen Gottes entsprechen.

Ich habe gelesen, wie Gott zu dem Propheten Hesekiel spricht: „Ja, ich habe deine Stirn so hart wie einеn Demant, der härter ist denn ein Fels, gemacht. Darum fürchte dich nicht, entsetze dich auch nicht vor ihnen, dass sie so ein ungehorsames Haus sind. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, alle meine Worte, die ich dir sage, die fasse zu Herzen und nimm sie zu Ohren! Und gehe hin zu den Gefangenen deines Volks und predige ihnen und sprich zu ihnen: So spricht der Herr, Herr! Sie hören‘s oder lassen‘s“ (Hes. 3,9-11). Hätte ich diese Übergabe nicht gemacht, so wäre es mir viel schwerer gewesen, Gottes Sache vor der Obrigkeit zu vertreten, die uns von Zeit zu Zeit hart bedrängte, damit wir mit allem aufhören sollten.