Aus meinem Leben

Ich wurde am 16. Februar 1909 im Dorf Dubljanovka, Gebiet Schitomir, Ukraine, geboren. Da bald der 1. Weltkrieg (1914 – 1918) ausbrach, lernte ich bereits in meiner Kindheit Notzeiten kennen. Wegen der Kriegswirrnisse wurde unsere Familie nach Sibirien verschleppt und kehrte erst 1918 wieder zurück. Durch die Kriegsfolgen und die Ereignisse und Folgen der russischen Revolution (1917) waren die Lebensverhältnisse in unserem Dorf sehr gestört. Wir mussten auf unserem Bauernhof wieder ganz neu anfangen zu wirtschaften. Wegen unserer großen Armut konnte ich die Schule nur für eine kurze Zeit besuchen. Auch gab es in unserem Dorf keinen beständigen Lehrer, der die Kinder unterrichten konnte. So verfloss die Zeit und ich blieb ohne weitere Schulbildung.

Ich wuchs in einer evangelisch-lutherischen Familie auf, wurde als Kind getauft und später konfirmiert. Als 1926 Br. R. Malzon in unser Dorf kam und Gottesdienste der Gemeinde Gottes durchführte, erkannten meine Eltern die biblische Wahrheit. Auch mir wurde bewusst, dass die religiöse Erziehung allein für die Seligkeit nicht ausreichend ist. Ich sah mich als Sünder, der sich zu Gott bekehren musste. So folgte ich der Mahnung des Geistes, ging zur Bußbank und erlangte Frieden mit Gott. Kurz darauf ließ ich mich biblisch taufen. Etliche Menschen bekehrten sich damals und ließen sich auch taufen.

Da die Kirche zu jener Zeit auch staatliche Aufgaben wahrnahm, wurden Geburtsurkunden, Taufurkunden, Heiratsurkunden und Sterbeurkunden durch die Kirche ausgestellt. Gläubige, die sich nun von der Kirche getrennt hatten, wurden von ihr als Verräter bezeichnet. Und wenn sie Urkunden brauchten, wurden sie abgewiesen. Daraus entstanden bei den Menschen manche Schwierigkeiten. Die staatliche Verwaltung gab den Rat, dass die Gemeinde Gottes sich registrieren lassen sollte. Nachdem sich die Gemeinde Gottes registrieren ließ, konnte sie nun die erforderlichen Urkunden selbst ausstellen. Somit war dies Problem gelöst.

Im Jahr 1927 wurde an unserem Ort ein Bethaus gebaut. Br. Adolf Rösler diente als Prediger. Die Versammlung war gut besucht und die Gemeinde wuchs. Diese gute Zeit dauerte leider nicht lange. Bereits im Jahr 1932 wurden die leitenden Brüder verhaftet und im Jahr 1934 wurde das Versammlungshaus geschlossen. Nun gab es weitere große Veränderungen. Im Juni 1936 wurde während der Regierung Stalins eine große Zwangsumsiedelung durchgeführt. Aus dem russischen Gebiet Wolhyniens, dem damaligen Grenzgebiet zu Polen, wurden alle Deutschen und Polen deportiert (Wolhynien ist ein Gebiet, das im ostwestlichen Teil der heutigen Ukraine gelegen ist. Besonders im zweiten Teil des 19. Jahrhunderts (ab ca. 1860) haben sich viele Deutsche im damaligen russischen Zarenreich angesiedelt. 1914 wurden in Wolhynien etwa 250.000 Deutsche gezählt, die in 300 Kolonien (Dörfern) lebten. Der Erste Weltkrieg führte zu Umsiedlung oder Deportation der Deutschen nach Deutschland (Bewohner der Westukraine) oder Sibirien (Bewohner der Ostukraine). 1921 erfolgte die Aufteilung Wolhyniens in ein polnisches und ein sowjetrussisches Gebiet. 1924 lebten noch oder wieder ca. 120.000 Deutsche in wolhynischen Gebieten (Quelle: www.wolhynien.de).

Ein Bahntransport mit Menschen und ihrem Hab und Gut ist am 12. Juni 1936 in Zelinograd (heute Astana), Kasachstan angekommen. Anschließend wurden die Zwangsumgesiedelten an einen abgelegenen Ort gebracht, der etwa 80 km westlich von der Stadt, in der Nähe des Flusses Ischim liegt. Hier, bei einem Schild mit der Nr. 10, in einigen Baracken, die als Notunterkünfte dienten, sollten sich die Menschen niederlassen. Mit Trennwänden wurden in den Baracken Abteile für je eine Familie eingerichtet. Die Leute wurden unter Kommandaturaufsicht gestellt. Das hieß, sie durften den Ort ohne Erlaubnis nicht verlassen. Den Menschen wurde gesagt: „Hier wird euer neuer Wohnort sein. Fangt an Häuser zu bauen, damit ihr bis zum Winter Wohnungen habt.“ Unverzüglich fing man an, Lehmsteine herzustellen und Häuser zu bauen. So gelang es bis zum Winter mehrere Häuser zu errichten. Es gab viel mehr Familien als gebaute Häuser. So mussten in jedem Haus zwei Familien überwintern. In den folgenden Jahren wurde dann weitergebaut. So entstand hier ein Dorf, das den Namen Kamenka (Steindorf) erhielt.

Meine Mutter wohnte ebenfalls in Kamenka, gemeinsam mit meinen zwei Brüdern und den drei Schwestern. Auch einige Geschwister aus der Gemeinde Gottes in der Ukraine wurden hier angesiedelt. In dieser schweren Zeit sind viele Kinder und ältere Menschen verstorben. Noch im Jahr 1936 verstarb in Kamenka auch mein Vater.

 

Ich selbst musste im Jahr 1932 von Wolhynien fliehen, weil ich anstelle meines Vaters verhaftet werden sollte. Meine Eltern hatten eine große Familie und auch eine gut gehende Landwirtschaft. Als nun 1928 die Sowjets mit der Enteignung der Bauernhöfe begannen, wurde auch unser Hof enteignet. Gleichzeitig mit der Enteignung wurden auch die Hausherren verhaftet. So wurde auch mein Vater inhaftiert. Da mein Vater aber nach vier Monaten Haft schwer krank wurde, entließ man ihn. Da sagte der Vorsitzende des Dorfrats eines Tages zu mir: „Dein Vater ist nun freigekommen. Aber man sucht jemanden aus der Familie, der an seiner Stelle verhaftet werden soll. Da du derzeit der älteste Sohn bist, der in der Familie lebt (meine zwei älteren Brüder waren bereits verheiratet und lebten mit ihren Familien selbstständig), wird es dich treffen. Du wirst der Verhaftung nur entgehen, wenn du dich versteckst.“ So floh ich nach Saparoschje, in das Dorf Michelsburg. Hier heiratete ich Adolina Schmidtke. Wir wohnten dort bis zum Beginn des 2. Weltkrieges.

Bereits 1941 wurde ich in die Arbeitsarmee eingezogen und in das Gebiet Perm, Ural verlegt. Meine Frau blieb mit fünf Kindern zurück. Meine Familie wurde 1943 in den Warthegau (Polen) und dann 1945 nach Kriegsende nach Irkutsk, Sibirien verschleppt. Meine Familie wollte gerne mit den Verwandten zusammen sein. So konnten sie bereits 1947 zu den Verwandten nach Kamenka, Kasachstan übersiedeln. Sie bekam dort eine Wohnung mit 20 m² Wohnfläche zugeteilt. Ebenfalls im Jahr 1947 kam ich aus der Arbeitsarmee frei. Nun gab es für mich nach sechseinhalb Jahren Trennung ein Wiedersehen mit meiner Familie in Kamenka. So wohnten wir dort sieben Personen in einem Zimmer. Es war unsere Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Da ich Tischler von Beruf war, stellte ich hier auch noch eine Hobelbank auf, an der ich abends nach der Arbeit noch manches werkelte.

Wenn auch die Not unbeschreiblich groß war, so musste unser Leben doch weiter gehen. Wir mussten alle Mühe aufwenden, um durchzukommen. Immer wieder haben wir zu Gott gebetet und ihm unsere Not geklagt. Wir hatten keine Lebensmittelvorräte, auch war es schwierig, Heizmaterial zu bekommen. Doch immer wieder haben Menschen von ihrem Brot abgebrochen und es mit uns geteilt. Diese schweren Lebensumstände brachten uns näher zu Gott.

Zunächst beteten wir alleine, dann kam meine Mutter dazu, weiterhin schlossen sich uns mehrere Geschwister an, die bereits vor uns in Kamenka waren. Es entstand eine kleine Glaubensgemeinschaft. Unsere Unterhaltungen über das Wort Gottes waren sehr einfach.

Aus dem Geschwisterkreis aus Wolhynien war es Br. Hermann Günther, der mithalf am Wort zu dienen. Br. Günther tat wohl sein Bestes, doch konnte auch er nicht viel sagen. Er hatte sich gerade bekehrt, als die Zwangsumsiedlung erfolgte. So blieb seine Erkenntnis bei dem, was er bis dahin empfangen hatte. So war es auch bei mir. Ich hatte in den vergangenen sieben Jahren keine Bibel, in der ich lesen konnte. Ich lebte von dem, was ich als junger Mensch gelernt hatte. Nun fingen wir an, aus der Bibel vorzulesen und das Gelesene nach Möglichkeit zu erklären. Die Geschwister aus Wolhynien hatten zwei Liederbücher „Evangeliumsklänge“ mitgebracht. Meine Frau konnte gut die erste Stimme singen und ich den Bass, die anderen halfen mit. So gab es einen schönen Gesang, der unserer Gemeinschaft zum Segen wurde.

In Kamenka wohnten viele Deutsche, von denen die meisten lutherisch waren. Unter ihnen war ein alter Mann, der die Kinder taufte und Beerdigungen durchführte. Sein Lebenswandel war aber für die Menschen ein Anstoß, sodass nicht alle mit seinem Dienst zufrieden waren. Von den Lutheranern kamen einige zu mir und beklagten sich über sein Verhalten.

Ich meine, es war im Jahr 1950, als plötzlich ein deutscher Lutheraner verstarb. Er war Vorarbeiter in der Kolchose, sodass eine ehrwürdige Beerdigung durchgeführt werden sollte. Die Frau des Verstorbenen wusste von unseren Gemeinschaftsstunden mit den Glaubensgeschwistern. So kam sie zu mir und bat mich, ihren Mann zu beerdigen. Sie sagte: „Ihr könnt so schöne Lieder singen. Auch könnt ihr das Wort besser predigen.“ Ich wusste, dass zu dieser Beerdigung das ganze Dorf kommen würde, auch die Schule hatte an diesem Tag freibekommen. Ich hatte nie zuvor eine solche Beerdigung durchgeführt. So schien es mir, dass ich es nicht übernehmen könne, und ich habe abgesagt. Die Frau ging darauf hin zum Vorsitzenden der Kolchose und hat sich über mich beklagt, dass ich unwillig wäre, die Beerdigung durchzuführen. Da schrieb der Vorsitzende der Kolchose, der ja auch mein Vorgesetzter war, mir eine Anweisung, ich solle den Wunsch der Witwe erfüllen und die Beerdigung durchführen (Da es zu jener Zeit keine Telefone gab, war es üblich solche Anweisungen zu schreiben). Ich sah darin eine Führung Gottes, und wir haben bei dieser Beerdigung das Nötige nach unserem besten Wissen getan. Die Leute aus dem Dorf waren auch zufrieden. So kam es, dass die Leute auch danach öfters zu uns kamen, um die Verstorbenen zu beerdigen.

Ein besonderes Vorkommnis gab es auch im Jahr 1951. Ein gottesfürchtiger junger Mann, lutherisch erzogen, kam auch öfters zu uns. Wir haben auch über sein Seelenheil gesprochen; ich weiß aber nicht, ob er sich bekehrt hatte. Es trug sich zu, dass dieser junge Mann bei einem Unfall ums Leben kam. Es hat uns damals alle sehr erschüttert, wie schnell ein Mensch sein Leben verlieren kann. Es war wieder eine große Beerdigung, die wir durchführen mussten.

Wir haben nie danach gestrebt, eine führende Stellung zu übernehmen. Es war auch gar nicht möglich, sich eingehend mit geistlichen Dingen zu beschäftigen, mussten wir doch von früh bis spät in der Kolchose bei der Arbeit sein. Auch hatten wir keine geistliche Literatur, um etwas daraus zu lernen. Wir übten uns in der Lage, in der wir uns befanden, das Beste zu tun. Und Gott hat das Schwache und Einfache gesegnet.

Der Feind der Seelen hatte wie immer seinen Groll auf das Göttliche. So kam es, dass Br. Hermann Günther und auch ich wegen unserer geistlichen Arbeit angeklagt und verhaftet wurden. Die Brüder Johann Barbulla und Arnold Schiewe, die in einem Dorf ca. 25 km von uns entfernt wohnten, wurden ebenfalls verhaftet. Wir wurden angeklagt, Führer einer gefährlichen geistlichen Sekte zu sein, die das Volk dazu aufruft, ihr Vertrauen auf Gott zu setzen und bei ihm Hilfe zu suchen. In den Augen der Obrigkeit waren wir Prediger. Gott sei Dank, es hat sich bestätigt. Durch den ausgestreuten Samen des Wortes Gottes und auch unsere Verhaftung konnte Gott zu vielen Menschenherzen sprechen. Als wir aus der Haft entlassen wurden und in unsere Dörfer zurückkamen, sagten uns viele Menschen, dass sie auch gebetet und geglaubt haben, Gott würde uns heraushelfen.