Ein Hirte – mein Hirte

Der Herr ist ein Hirte. Er hat alle Eigenschaften, die zu einem Hirten gehören. Aber davon hast du noch nichts, wenn du nicht sagen kannst: Mein Hirte. Kannst du Ihn für dich in Anspruch nehmen? Oh, was macht der eine kleine Buchstabe im täglichen Leben schon für einen Unterschied! Da steht ein Haus, und ich gehe achtlos vorbei; aber da steht mein Haus, und unwillkürlich gehe ich schneller, um bald wieder daheim zu sein, in dem trauten Zuhause, das Gott mir aus Gnaden geschenkt.

Ich sehe auf dem Bahnhof eine Frau. Das interessiert mich nicht sonderlich. Aber da steht meine Frau! Und ich bahne mir einen Weg durch die Menge, um mein Weib zu begrüßen. Nicht war, es ist ein köstliches Wörtlein, dieses „mein“? Und dieses köstliche Wörtlein dürfen wir in aller Demut und Ehrfurcht, aber auch in aller Entschiedenheit und Gewissheit auf den Herrn anwenden. Wir dürfen unsere Hand in seine Hand legen und vertrauend, hingebend sagen: „Mein Hirte.“ Sagst du: Das ist Schwärmerei! Sagst du: Das kann kein Mensch wissen! Bitte sage das nicht. Frage lieber: Wie kann ich auch dahin kommen, so zu sprechen? Frage lieber: Was habe ich zu tun, um auch in dieses vertraute Verhältnis zu kommen. Wenn du so fragst, dann antworte ich dir: Du hast gar nichts zu tun! Gott hat schon alles getan. Was hat Gott getan?

Wenn wir von dem Werke der Erlösung reden, dann denken wir zumeist an das Opfer, das der Vater für uns vollbrachte. Was hat es Ihn gekostet! „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gab,“ – in die Krippe und ans Kreuz. Er wusste, was die Menschen mit seinem geliebten Sohn machen würden, und Er hat’s doch getan! Oh, wie haben die Hammerschläge von Golgatha sein Vaterherz zerrissen, als Jesus ans Kreuz genagelt wurde! Oh, wie hat der Schrei der Qual das Vaterherz bewegt: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlassen?“ Siehe, das tat Gott für dich! Er gab seinen Sohn für dich dahin. Und der Sohn, Er ließ sein Leben um deinetwillen. Er kam auf Erden mit der Absicht, für uns zu sterben. Es war Ihm nicht immer leicht, o nein! Er war noch weit vom Kreuz entfernt, als Er das Wort sagte: „Ich bin gekommen, dass Ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte Ich lieber, denn es brennete schon! Aber ich muss mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe; und wie ist Mir so bange, bis sie vollendet werde!“ (Lk. 12:49-50).

Und als Er den Weg des Gehorsams bis nach Gethsemane gegangen war, sprach Er: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod!“ Und dann dieses heiße Flehen: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von Mir“ (Mt. 26:38-39). Oh, der Herr ist in Beziehung zur Sünde getreten, von der wir uns gar keine Vorstellung machen können. Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht. Verstehst du das Wort? Oh, verstehen werden wir das nie, was es heißt, dass der Heilige und Reine, den niemand einer Sünde zeihen konnte, für uns zur Sünde gemacht worden ist. Aber wenn wir es auch nicht verstehen können – wir können anbeten und staunen, wie groß das Opfer ist, das Jesus für uns gebracht hat! In was für Tiefen ist Er hinabgestiegen um unsretwillen!

Siehe, das hat Gott getan. Mehr konnte der Vater nicht tun, als dass Er das Beste gab, was Er hatte, seinen Sohn. Und mehr konnte der Sohn nicht tun, Er gab sich selbst. Vonseiten Gottes ist alles geschehen, ist alles vollbracht. Wenn etwas fehlt, dann fehlt etwas auf unserer Seite. Wir müssen die Gabe Gottes annehmen: Das ist alles. Die Erlösung ist ein Geschenk, wir müssen es nur nehmen.

Doch das ist gerade das Schwerere, dass es nur auf unser Nehmen ankommt; aber da steht unser Stolz im Wege. Ach, wie Vielen ist dieser Stolz ein Hindernis. Sie wollen auch selig werden, gewiss, aber sie wollen den Himmel verdienen: mit Kirchengehen, mit Abendmahlnehmen, mit Missionsbeiträgen, mit Erfüllung der sogenannten religiösen Pflichten. Schenken lassen, annehmen – nein, das widerstrebt ihnen! Oh, dieser Stolz! Wer davon nicht loskommt, der kann nie sagen: „Der Herr ist mein Hirte“. Denn ein Hirte hat es mit Schafen zu tun. Und die Schafe sind die unbegabtesten von allen Geschöpfen. Alle mögliche Tiere kann man abrichten und dressieren, aber einem Schaf fehlt alle Intelligenz.

Willst du ein Schaf werden, das heißt: Willst du deinen Stolz fahren lassen? Ohne das geht es nicht. Ach, gib doch deinen Stolz und Hochmut auf! Und noch etwas: Gib auch deinen Eigenwillen auf. Sieh, ein Schaf tut nichts, was es will, sondern ein Schaf folgt dem Hirten. O lass deinen eigenen Willen doch fahren! Hat er dich nicht schon in allerlei schwierige Lagen gebracht? Hat er dich nicht schon manche verkehrte Wege geführt? Hast du es nicht schon manchmal bereut, deinem eigenen Willen gefolgt zu sein? Nun, so gib doch deinen Eigenwillen auf und übergib dem Herrn die Verantwortung und Führung deines Lebens.

Denke nur nicht, das wäre gewagt. O nein! Springe nur in das Meer der Gnade. Überlass dich nur seinen Wogen und Wellen! Spurgeon erzählte einmal, er hätte eines Morgens badenden Knaben zugesehen. Einer tauchte den Fuß ins Wasser hinein, und dann zog er ihn alsbald wieder zurück, fröstelnd und zitternd. Ein anderer aber sprang vom Brett in den Fluss hinein, so dass das Wasser über ihm zusammenschlug. Und als er dann wieder auftauchte, rief er: „O wie wundervoll! Wie köstlich warm ist das Wasser!“

Siehe, wer nur so ein wenig dem Herrn vertraut, der wird immer sagen: „O wie schwer ist das!“ Aber wer vom Ufer des Eigenlebens getrost abspringt, der wird es erfahren: es ist köstlich, sich aufzugeben und sich der Gnade anzuvertrauen! Vorher kommt man nicht zum wahren Glück und zur rechten Ruhe. Aber wenn man den Eigenwillen aufgegeben hat, dann ist man in Harmonie und Übereinstimmung mit Gott. Dann folgt man dem Herrn, wohin Er auch geht. Dann hat man keinen anderen Wunsch mehr, als seinen Willen mit Freuden zu tun. Und dann sagt man demütig und ehrfurchtsvoll, aber auch bestimmt und entschlossen: „Der Herr ist mein Hirte!“