Kapitel 7

Nachdem nun endlich zum Schluss ein Gebet gesprochen worden war, verließ Peter schnell die Versammlung und eilte nach Hause. Dort saßen Philipp Bolten und Kittig im eifrigen Gespräch nebeneinander. Kurz nachher erfuhr Peter, dass sein Stiefvater und er selbst die Bemannung eines Bootes vervollständigen sollten, das morgen von dem Städtchen Peel aus mit einer großen Menge zum Heringsfang ausfahrender Schiffe in See stechen sollte. Bolten hatte seine kleine blinde Tochter mitherübergebracht, um sie während seiner Abwesenheit der Obhut seiner Schwester Brigitta anzuvertrauen. Das Kind saß ruhig und geduldig in einem Winkel. Wie glücklich war es, als sich Peter zu ihm auf den Boden setzte! Die gute Brigitta war bereits mit dem Einpacken von Proviant und Kleidungsstücken beschäftigt, denn die Reise ihres Mannes und Sohnes dauerte längere Zeit. Zur Freude der beiden Kinder verließen die beiden Männer das Haus und Peter, wie sehr er sich auch über seine erste Fahrt auf einem Heringsboot freute, ließ sich‘s jetzt dennoch nicht nehmen, die Vorgänge im Haus des Kapitäns zu erzählen.

Spät am Abend befanden sich Bolten, Kittig und Peter bereits auf dem Weg zum an der entgegengesetzten Seite der Insel liegenden Städtchen Peel. Bis jetzt war Peter kaum über das Weichbild seines Wohnorts gekommen. Jetzt, wo er im Halbdunkel unter dem Sternenhimmel ganz neue, fremde Gegenden vor sich liegen sah, drängten sich seltsame Gefühle in sein Herz. In lebhafter Erinnerung traten die Worte, die er in der Versammlung vernahm, vor seine Seele. Vor allem beschäftigten ihn die Wege des Herrn, wie er einst des Nachts auf einem Berg blieb und betete. Gewiss, meinte er, müsse der zu seiner Seite so majestätisch emporragende Berg nicht weniger geeignet sein, um dort in der Einsamkeit sein Gebet zu verrichten. Endlich erreichten unsre Wanderer das Städtchen Peel. Als die Morgendämmerung anbrach, sah man die kleine, zum Heringsfang ausgerüstete Flotte bereits vor Anker liegen.

Es mochten etwa sechzig bis siebzig Boote sein, unter denen einzelne nicht mehr im besten Zustand zu sein schienen. Das am meisten beschädigte war ohne Zweifel dasjenige, dem unsre drei Bekannten mit vier anderen Fischern zugeteilt wurden. Während nun die Mannschaft die Netze ausbreitete und die Segel aufzuziehen begann, wurde unserem Peter in barschem Ton geboten, eine Menge Heringe zu braten.

Auch auf den anderen Booten zeigte sich bald ein reges, lustiges Treiben, während die immer mehr sich hervordrängenden Sonnenstrahlen das bewegte Schauspiel beleuchteten und selbst die geflickten Segel von dem ärmlichen Boot Kittigs goldig umsäumten. Emsig begab sich Peter an seine Arbeit, und nachdem er den Hunger der Mannschaft gestillt hatte, setzte auch er sich mit dem besten Appetit an das Frühstück, während sich sein Auge an dem ihn umgebenden fremden Treiben weidete.

„Hallo, Peter!“, erscholl es jetzt plötzlich von einem anderen Boot zu ihm herüber. Sich hastig umwendend, erkannte er alsbald die freundliche Gestalt Nathan Kellys, der beide Hände wie eine Trompete vor den Mund hielt, um den Ton seiner Stimme zu verstärken. Peter warf bei diesem Anblick sein Mützchen hoch in die Luft.

„Wie heißt der Kapitän und die Mannschaft?“, schrie Nathan weiter und Peter sprang an das Vorderkastell, um besser gesehen und gehört werden zu können.

„Kittig und Bolten aus Derby-Hafen“, rief er zurück, „und vier andere und ich. Kittig ist Kapitän.“

„Schon recht, mein Junge“, war Nathans Antwort. „Aber denke an die Fahrt auf dem See Genezareth!“

Die Miene des Knaben wurden plötzlich ernst. Zum Glück hatten die Fischer in seinem Boot gar nicht auf ihn geachtet. Sie schienen im höchsten Zorn und wilden Gebärden einen Streit unter sich schlichten zu wollen. Besonders schauderte Peter zusammen, als er dem heimtückischen Bolten begegnete. Er sah sich mit sechs gottlosen Menschen in einem Schiff eingeschlossen. Dass er deren Misshandlungen ausgesetzt sein würde, war nur zu klar vorauszusehen. Doch Nathans Worte hatten ihn an den Herrn erinnert, der ungesehen die Fahrt mitmachte. War doch auch er auf dem Meer im Sturm hin und her geschleudert worden und hatten doch, während er im Hinterteil des Schiffes schlief, die Sturzwellen sich über ihn ergossen, bis er dem Wind und dem Wetter Schweigen gebot. Das war ein großer Trost für unsern Freund. Aber wenn dann wieder die schrecklichen Flüche seiner Umgebung in sein Ohr drangen, wälzte sich wieder der erschütternde Gedanke in sein Herz, dass Gott das ganze Boot vielleicht untergehen lasse, um die Mannschaft für ihre Sünden zu strafen. Es bedurfte doch nicht einmal eines Sturmes, um das alte, gebrechliche Fahrzeug zu Grunde zu richten. Schon eine hochgehende Woge konnte es umwerfen und zum Sinken bringen. In der Tat, es war ein schreckliches Wagnis, mit einer solchen Gesellschaft in das offene Meer hinauszufahren.

In diesem Augenblick setzte sich die Flotte in Bewegung und glitt nordwärts in die offene See hinein, um den Heringszügen zu begegnen. Die Fahrzeuge bildeten eine lange Reihe. Es vereinigten sich mit ihnen noch zwei andere aus Irland und Schottland kommende Flotten, so dass die ganze Irische See wie mit einem Gürtel von Heringsbooten umzogen war. Den Tag über gab es wenig Arbeit. Die Männer schliefen im Sonnenschein auf dem kleinen Verdeck des Vorderteils, während die Boote langsam vom Wind fortgetrieben wurden. Nur Peter konnte nicht schlafen. Beide Hände um die Knie gefaltet, saß er am Mast und sah den Seefalken zu, die über der Meeresfläche schwebten und auf Beute lauerten.

Mit Sonnenuntergang erwachten die Fischer. Auch Kittig streckte und reckte sich, rieb gähnend seine Augen und starrte um sich. Das Meer war klar wie Kristall, nur im Norden schien eine dunkle Wolke sich über die Wogen hinzuziehen. Darüber tummelten sich große Scharen von Vögeln, deren Geschrei bis in die weiteste Ferne erscholl.

„Hallo, ihr Jungen!“, rief Kittig, sich emporrichtend. „Wie es scheint, bekommen wir eine prächtige Nacht für den Fang. Der Wind wird stärker, die Segel blähen sich. Wenn es nur finster genug wird. Wie stets mit dem Mond, Bolten?“

„Drei Tage nach Neumond“, sagte Bolten. „Die Nacht wird finster genug werden. Hallo, Peter! Was machst du, Schlingel?“, fragte er, während seine Blicke noch immer auf die dunkle Wolke geheftet waren.

„Seht doch, wie die Möwen die heranziehende Heringsschar umschwärmen!“

„Narr!“, schrie Bolten verächtlich. „Willst du denn die Netze bei Tag auswerfen und die Heringe verscheuchen? Aus dir wird nie ein rechter Fischer. Geh, pack dich zu deiner Bratpfanne und kümmere dich nicht um andere Dinge“.

Der arme Peter schlich davon und bereitete vor dem Anbruch der Nacht noch eine gute Mahlzeit. Aber dabei lauschte er auf das, was die Männer von den Strömungen in diesem Meeresteil und über die Menge der Heringe sagten. Kittig und Bolten teilten nicht die Meinung ihrer vier Gefährten und unter lautem Zanken fasste man endlich den Entschluss, sich irgend einem Boot zuhern, um das Urteil dessen Mannschaft einzuholen.

„Wem gehört dort das Boot?“, fragte einer der Männer.

„Nathan Kelly aus Derby-Hafen ist dort an Bord“, sagte Peter.

„Man sagt, dass er der erfahrenste Fischer in der ganzen Umgegend sei“. Schon wollte Peter der Aufforderung eines der Männer folgen und das Schiff anrufen, aber in diesem Augenblick begegnete er den finsteren Blicken Kittigs und kehrte erschrocken zu den Kochtöpfen zurück.

„Von Nathan Kelly will ich nichts hören“, brummte Bolten.

„Mit dem stehe ich schon lange nicht mehr auf gutem Fuß“.

„Was kümmert das uns?“, erwiderte einer der Gefährten.

„Komm, Junge, deine Stimme klingt am hellsten. Richte die Frage an jenes Boot, wie tief die Heringe gehen und wo die westliche Strömung ausläuft“.

Bereitwillig hielt Peter beide Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund und rief das Boot an. Keine Antwort erfolgte. Aber der Wind trug die Töne des Liedes „Christ Kyrie, komm zu uns auf die See“ von dort her zu dem Ohr der Lauscher herüber. Und nur ein Blick auf die ihn umgebenden rohen Gesellen hielt den Knaben zurück, in die Worte mit einzustimmen. Als die Töne verstummten, erhob er seine Stimme wieder zu einem gellenden Ruf. Dieses Mal folgte auf die dorthin gerichteten Fragen die Antwort Nathans: „Die Heringe werden heute Nacht tief gehen! Haltet euch gut ostwärts!“

Kittig schnitt ein höhnisches Gesicht und Bolten erhob ein schallendes Gelächter. Unterdes war die Sonne bereits untergegangen und allmählich erbleichte das Abendrot. Jetzt begann die Arbeit im Boot. Das eine Ende des Netzes wurde über Bord geworfen. Kittig, der als ein erfahrener Schiffer galt, traf alle nötigen Maßnahmen. Während das Schiff lange mit der Strömung forttrieb, ließ man nach und nach das Netz ganz ins Meer hinab, um den Heringen als eine verborgene Falle zu dienen.