Kapitel 6

Das Haus des Kapitäns stand dicht am Meeresstrand und war vom Uferrand nur durch die zur Flutzeit von den Wogen bespülte Dorfstraße getrennt. Warum er sich gerade in diesem abgelegenen Dorf niederließ, wusste niemand. Ebenso herrschte sowohl über seine Herkunft als auch über seine längeren und kürzeren Reisen völliges Dunkel. Mitunter kehrte er ganz unerwartet nach Derby-Hafen zurück und lebte dort etliche Wochen in stiller Zurückgezogenheit. Auch heute Abend war er plötzlich eingetroffen. Eine ältere Magd, die seinen Haushalt besorgte und erst seit gestern über seine Ankunft unterrichtet war, empfing die beiden Ankommenden mit herzlicher Freude. Das Haus war klein: rechts lag das Wohnzimmer und links die Küche, oben befanden sich zwei Schlafzimmer mit einem Dachkämmerlein darüber. Lustig knisterte die Flamme im Kamin und verbreitete eine wohltuende Wärme im Zimmer, während der angenehme Duft, der durch die offene Küchentür drang, bei Peter allerlei Betrachtungen wachrief.

Er gab die mitgebrachten Fische ab und verabschiedete sich von dem Kapitän. Er hatte sich auf dem Weg mit ihm so freundlich unterhalten, dass es sich der Knabe nicht versagen konnte, im Dunkeln um das Haus zu schleichen und durch das Fenster, das keine Vorhänge hatte, ins Zimmer zu schauen. Es war ein großes, nicht sehr hohes Gemach. Die Wände waren mit Gemälden geschmückt, die Seestürme und Schiffsszenen darstellten. Über dem Kamin aber hing ein schönes Porträt, das ohne Zweifel die Gattin des Kapitäns darstellte, die samt ihren zwei Kindern während einer Seereise gestorben war. Auf dem Gesims lagen verschiedene Muscheln und bildliche Darstellungen von Booten und Kriegsschiffen ausgebreitet. Auch sah man dort ein Fernrohr und einen Kompass aufgestellt. Doch vor allem richtete sich das Auge des Knaben auf den Hausherrn selbst, der anfangs im Zimmer auf und ab schritt, sich dann aber, das Gesicht dem Fenster zugewandt, in einen großen eichenen Sessel warf. Welch ein freundlicher Ernst strahlte aus dem sonnenverbrannten Gesicht des Seemannes! Je länger der kleine Lauscher diese Züge betrachtete, desto mehr fühlte sich sein Herz zu dem seltsamen Mann hingezogen.

Da drang plötzlich das Plätschern eines Ruders durch die abendliche Stille an das Ohr des Knaben. Er wandte sich um und bemerkte, dass die Lampe auf dem Leuchtturm bereits angezündet war. Jedenfalls kündigten daher die Ruderschläge die Rückkehr seines Stiefvaters an, dessen Zorn, wenn ihn seine Ahnung nicht täuschte, jedenfalls wieder den Höhepunkt erreicht haben musste. Wie Fieberfrost zog es durch die Glieder unsres Freundes. Er warf noch einen Blick auf die freundlichen Züge des Kapitäns und dann fasste er schnell einen Entschluss. Mit behendem Schritt trat er in das kleine, friedliche Haus, zog seine Mütze ab, strich sein zerzaustes Haar ein wenig glatt, öffnete die Zimmertür und sagte fast atemlos:

„Herr Kapitän! Mein Stiefvater kehrt eben zurück. Nun habe ich wieder viele Schläge zu erwarten. Wollen sie nicht ans Ufer kommen und ein gutes Wort für mich einlegen? Vielleicht lässt er mich dann in Ruhe.“

„Aber aus welchem Grund sollte er dich schlagen, mein Sohn?“, fragte der Kapitän.

„Die Fische wurden in voriger Nacht aus seinen Reusen gestohlen“, erwiderte der Knabe. „Ich bin gewiss, dass Philipp Bolten und kein anderer in Kittigs Boot war. Hören Sie, jetzt ruft er mich schon. Ich muss fort. O bitte, Herr Kapitän!“ Mit diesen Worten stürzte er aus dem Haus und eilte zum Strand. Kittig zog eben sein Boot auf den Sand und Peter sprang hinzu, um es zu befestigen. Doch Kittig versetzte ihm einen so heftigen Stoß, dass er einen Schrei nicht unterdrücken konnte.

„Kittig!“, ließ in diesem Augenblick die freundliche Stimme des Kapitäns sich vernehmen. „Habt Ihr einen guten Fang gemacht?“

„Einen guten Fang?“, schrie Kittig mit heißerer Stimme.

„Nicht ein Stück war in meinen Reusen. Jedenfalls müssen die Tiere gestohlen sein, denn mein Kahn lag heute morgen drüben am Damm. Der Junge hier wird wohl um die Geschichte wissen.“

„Ich habe das Boot nicht gebraucht“, versicherte Peter. „Aber ich habe gesehen, dass jemand es drüben am Damm befestigte; weiter weiß ich nichts. Ich kann darauf schwören“.

„Nicht schwören, mein Junge“, unterbrach ihn der Kapitän.

„Das Wort Gottes sagt: ‚Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen‘. Ich denke, Kittig, Ihr lasst diesmal den Jungen laufen. Geh nach Hause, Peter; ich will hier schon helfen. Wirklich, da habt Ihr ein hübsches Boot“.

Peter ließ sich nicht zum zweiten Mal auffordern, sondern machte sich so schnell wie möglich auf und davon. Er hatte richtig vermutet, denn als Kittig nach Hause kam, setzte er sich, ohne ein Wort zu sagen, an den Tisch, ließ zuweilen einige Geldstücke, die jedenfalls von dem Kapitän kamen, klirrend durch die Finger gleiten und gebot dem Knaben, sein Lager aufzusuchen. So lief für heute denn alles gut ab. Das Zusammentreffen mit dem Kapitän schien auf das Herz unsres jungen Freundes einen heilsamen Einfluss auszuüben. Allerlei Gedanken  durchkreuzten während der Woche seine Seele und als der Sonntag kam, stand bei ihm ein Entschluss fest.

Der Morgen dieses Tages verging wie gewöhnlich unter den Geschäften in Hof und Stall. Leider war es ein Regentag, so dass Kittig, wie er sonst des Sonntags tat, nicht umherstreifen konnte. Brütend und in Tabaksqualm eingehüllt, saß er im Zimmer, und weder seine Frau noch Peter wagten es, die dumpfe Stille zu unterbrechen.

Niemals hatte der Knabe so sehr gewünscht, dass die Wolken sich zerstreuen möchten, und niemals hatte er mit solchem Verlangen das Himmelsgewölbe betrachtet als an diesem Tag. Aber der Regen stürzte auch des Nachmittags noch in Strömen herab und dem armen Peter blieb nicht anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben. Die Anwesenheit des Knaben schien den harten Mann zu ärgern. Dem guten Peter klang es wie liebliche Musik, als ihm geboten wurde, sich aus dem Hause zu packen. Draußen flüsterte er dann mit freudestrahlendem Gesicht der Mutter zu: „Mutter, ich gehe heute zum Herrn Kapitän, denn er wird den Leuten etwas aus der Bibel vorlesen.“ Gern hätte Brigitta den Knaben gewarnt, aber dieser war schon davongerannt. Als er sich dem Haus des Kapitäns näherte, hemmte er plötzlich seine Schritte und sein Herz pochte mit hörbaren Schlägen. Jetzt erst fiel ihm ein, da er sonst nie im Haus gewesen war, sein Erscheinen werde ein allgemeines Aufsehen erregen. Er wusste, dass weder sein Stiefvater, noch er selbst in gutem Ruf stand, und das beängstigte ihn. Unschlüssig stellte er sich zwischen Holzscheite und beobachtete die Kommenden. Es waren meist achtbare Leute in ihrem Sonntagsstaat, aber keiner von ihnen forderte ihn zum Mitgehen auf. Sein Entschluss, den er während der ganzen Woche genährt hatte, begann zu wanken. Was sollte aus ihm werden, wenn Kittig hinter die Sache kam? Und dann – wie konnte er barfuß und mit solch zerlumpten Kleidern und verworrenem Haar in das Zimmer treten? Je mehr Peter das anständige Aussehen der Eintretenden betrachtete, desto ängstlicher wurde es ihm zu Mute.

Er zögerte daher so lange, bis er durch das offene Fenster hörte, wie der Kapitän ein Lied vorsagte, das die kleine Versammlung sofort anstimmte. Die klare, starke Stimme des Kapitäns drang so laut durch, dass Peter davon ergriffen wurde. Noch einmal raffte er seinen Mut zusammen, schüttelte den Regen von seiner grauen Jacke und trat mit hastigen Schritten ins Haus. Eine Purpurröte ergoss sich über sein Gesicht, als er die vielen Blicke auf sich gerichtet sah und er vergeblich nach einem verborgenen Plätzchen suchte. Der Kapitän winkte ihm und Peter musste sich neben ihn stellen. Dem armen Burschen schwamm alles vor den Augen. Nach Beendigung des Liedes las der Kapitän einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift vor und fügte dann eine einfache Erklärung hinzu. Peter lauschte mit großer Aufmerksamkeit und sein Herz wurde immer ruhiger und glücklicher. Nun wollte er sich nie wieder vor Kittig fürchten. Hatte doch der Kapitän so schöne Worte gesagt über den Vers: „Da sagte er zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer. Da wurde es ganz stille“.