Kapitel 5

Der Kapitän richtete einen freundlichen Blick auf die Kinder und den Knaben ansehend, sagte er: „ Aber warum hast du geweint, mein Junge?“ Peter fühlte sich unfähig zu antworten. Er hatte den Kapitän, wenn er die Fischer im Sommer draußen im Freien um sich versammelte, dann und wann gesehen. Bei solchen Gelegenheiten pflegte der gute Mann den armen Leuten einen Abschnitt aus dem Wort Gottes vorzulesen und zu erklären. Diese Wirksamkeit hatte hier und da schon gute Früchte getragen. Während der Wintermonate und bei schlechtem Wetter fanden solche Zusammenkünfte im Haus des Kapitäns statt. Aber dorthin hatte sich Peter noch nie gewagt, obwohl ihn der gute Herr sehr anzog und selbst der Stiefvater in dessen Nähe sich scheute, das Tauende auf Peters Rücken spielen zu lassen. In diesem Augenblick fühlte sich der arme Knabe sehr verlegen und suchte nach einer passenden Antwort.

Da rief die kleine Blinde: „Peter wollte dem Herrn Jesu als seinem König treu dienen; aber er meint, er sei ein zu böser Knabe.“ Der Knabe blickte empor und fasste Mut, denn der Kapitän sah ihn liebreich an. „Ich will ihnen alles sagen, Herr Kapitän“, sagte er. „Gestern Abend, nachdem Nathan Kelly mir vieles vom Jesus und seinem Reich erzählt hatte, war es mein Vorsatz, ihm als meinem König in allem zu gehorchen und ihm gleich zu werden. Gestern nun fuhr ich mit Kittig, meinem Stiefvater zum Leuchtturm, um die Lampe anzuzünden. Da hat er mich mit dem Tauende gepeitscht und mich auf dem Damm allein zurückgelassen, weil ich nicht schwören wollte und versprechen, jeden Verkehr mit Nathan abzubrechen. Ich habe aber die Schläge erduldet, ohne zu fluchen oder zu schreien, denn ich wusste, dass es auch der Herr Jesus also gemacht hatte. Und obwohl ich nachher in dunkler Nacht allein war, fürchtete ich mich dennoch nicht, denn mir war es, als ob der Herr Jesus, der einst des Nachts auf dem Meere wandelte, auch jetzt ganz in der Nähe sei. Da ich nun die Ebbe abwarten musste, sah ich plötzlich ein Boot aus der Dunkelheit hervorkommen; darin saß Philipp Bolten.“

„Das ist eine Lüge, Junge!“, platzte Philipp Bolten plötzlich erbleichend heraus. „Du musst sonst jemanden gesehen haben.“

„Herr Kapitän“, fuhr der Knabe in großem Ernst fort, „es war das Boot Kittigs und ich sah diesen Mann, den Fischerkorb auf dem Rücken, heraussteigen. Lange nach Mitternacht ging ich nach Hause, schlief in einer Krippe, wie einst unser Heiland, und fühlte mich sehr glücklich. Als Kittig aber heute seinen Kahn am Damm liegen sah, meinte er, ich hätte ihm diesen Streich gespielt. Da ich nichts über Bolten sagen wollte, aber auch den Misshandlungen entgehen wollte, versicherte ich mit einem Fluch, dass ich nichts von der Sache wisse. Ich habe also gelogen, geflucht und falsch geschworen, und nun fühle ich mich so sehr unglücklich.“ Tiefes Schweigen folgte diesen Worten. Bolten hatte seinen Korb neben sich gestellt und seine geballten Fäuste zeugten von einer Aufregung, die er kaum zu zügeln vermochte. Peter verbarg sein Gesicht in beiden Händen und Agnes, die sein Schluchzen vernahm, tappte zu ihm hin und schmiegte sich teilnehmend an ihn.

Der Kapitän richtete einen prüfenden Blick auf die Kinder, legte seine Hand auf das Haupt der kleinen Blinden und fragte nach ihrem Namen. „Das ist meine Tochter Agnes“, sagte Philipp Bolten in gepresstem Ton. „Der Herr weiß es, dass ich das arme Ding des Nachts nie allein lasse, wo ihr ja leicht ein Unglück begegnen könnte. Mein Nachbar hat mir seinen Kahn geliehen und heute ging ich auf den Fischfang. Ich lüge gewiss nicht, Herr Kapitän. Der Junge muss sonst jemanden in Kittigs Boot gesehen haben.“

„Ich glaube Euch“, sagte der Kapitän freundlich. „In der Dunkelheit wird sich der Kleine geirrt haben. Ich traue Euch zu, dass Ihr mir die Wahrheit sagt. Tragt’s nur dem Jungen nicht nach, denn irren ist menschlich.“

„Warum sollte ich auch das Boot genommen haben?“, fuhr Bolten in seiner Rechtfertigung fort. „Ist doch Brigitta meine leibliche Schwester und mein Schwager Kittig würde mir gern sein Boot leihen, wenn ich es wünschte.“

„Lasst es gut sein, Bolten, der Knabe hat sich geirrt“, fiel der Kapitän ein. „Also, mein Kleiner, du fürchtest, nicht in den Himmel zu kommen? Nun freilich, du hast gesehen, wie böse dein Herz ist, und sicher bist du von Natur ein größerer Sünder, als du selbst glaubst.“

„Ja, das ist wahr“, schluchzte der Knabe. „Ich weiß, dass Lügner und Flucher nicht zu Gott kommen. Gestern abend glaubte ich, alles sei in Ordnung, und jetzt fühle ich, dass ich noch so böse wie vorher bin.“

„Und du hast auch gesehen“, fuhr der Kapitän fort, „dass du nicht allein zum Bösen geneigt bist, sondern dass du auch trotz aller guten Vorsätze den Versuchungen nicht widerstehen kannst – mit einem Wort, dass du ein Sklave der Sünde bist. Aber weißt du denn auch, auf welchem einzigen Weg Rettung zu finden ist? Glaubst du, dass der Mensch durch irgend ein gutes Werk den heiligen und gerechten Gott zufriedenstellen könne? Hast du nie von einem anderen Weg gehört, auf dem man Rettung und Frieden mit Gott erlangen kann?“

„O ja“, erwiderte Peter, „Nathan Kelly hat mir in meiner Bibel die Stelle gezeigt: ‚Wer an den Sohn Gottes glaubt, kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tod zum Leben hindurchgedrungen‘. Und: ‚Wer an den Sohn glaubt, hat das Leben.‘“

„Nun, mein Sohn“, unterbrach ihn in freundlichem Ton der Kapitän, „glaubst du an den Sohn Gottes? Und inwiefern glaubst du an ihn?“

„Ich glaube, dass der Herr Jesus vom Himmel gekommen und für die Sünder am Kreuz gestorben ist“, antwortete Peter.

„O, darüber habe ich mich sehr gefreut. Aber sehen Sie, nachher habe ich wieder gesündigt, und Gott ist doch ein heiliger Gott, der die Sünde hasst.“

„Das ist wahr“, bestätigte der Kapitän. „Die Sünde bleibt stets ein Greuel vor Gott. Aber zum Glück stellt die erbarmende Gnade und Liebe Gottes bei der Rettung eines Sünders keine unerfüllbaren Bedingungen. Es heißt einfach: Wer an den Sohn Gottes glaubt. Der Glaube an das Kreuz sichert uns ewige Erlösung. Jeder, der glaubt, ist mit Gott versöhnt und von seinen Sünden gerechtfertigt, so dass er mit ruhigem Gewissen zu jeder Zeit vor Gott hintreten kann. Aber nichtsdestoweniger ist die Sünde ein Greuel vor Gott. Und wenn sie auch nicht imstande ist, die auf Golgatha vollbrachte Erlösung zunichte zu machen, so kann doch der Gläubige, wenn er gesündigt hat, keine Gemeinschaft mit Gott haben, sondern er fühlt sich unglücklich und niedergebeugt, bis er sich reuevoll vor Gott demütigt, seine Sünden bekannt und die Gnade sein Herz wieder gereinigt hat. Du hast es ja erfahren, wie unglücklich die Sünde macht. Doch wende dich zum Thron dessen, „welcher auch seines eigenen Sohnes nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle dahingegeben“, und du wirst wieder glücklich sein. Und dann, wie köstlich ist es, dass der Herr selbst uns in seinem Wort sagt: ‚Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist‘. Gewiss, mein Sohn, der Herr Jesus liebt dich, wie tief du ihn auch betrübt hast.“

Freudentränen rollten über die Wangen des Knaben herab. Nie hatten solche Worte sein Ohr erreicht. Die kleine Agnes schmiegte sich näher an ihn, als wollte sie es ihn fühlen lassen, wie sehr ihre Gefühle mit den seinigen übereinstimmten. Lächelnd ruhten die Blicke des Kapitäns auf den beiden jugendlichen Gesichtern. Aber die finsteren Blicke, die der neben ihm stehende Fischer dem Knaben zuwarf, verrieten nur zu deutlich, dass nur die Gegenwart des Kapitäns dem völligen Ausbruch seiner Wut Maß und Zügel anlegte.

„Es wird, da die Nacht heranrückt, Zeit sein, dass Ihr eure kleine Tochter heimwärts bringt“, hob der Kapitän nach längerem Schweigen wieder an. „Jedenfalls wird Peter mir diese Fische in mein Haus tragen.“

„Aber, Herr Kapitän“, ließ sich der Angeredete vernehmen, „so wahr ich hier frisch und gesund vor euch stehe, ja, so wahr der allmächtige Gott lebt, ich bin gestern nicht in Kittigs Boot gewesen.“

„Warum solche Schwüre?“, unterbrach ihn der Kapitän ernst.

„Ich setze voraus, dass der Kleine sich geirrt hat.“

Noch einen finsteren Seitenblick auf Peter werfend, hob Bolten die kleine Blinde auf seine Schulter und schritt schweigend seinem Haus zu, während der Kapitän, gefolgt von dem Knaben, den schmalen, über Felsen und Klippen führenden Pfad verfolgte, der bis nach Derby-Hafen führte.