Kapitel 4

Wäre Nathan Kelly zu Hause gewesen, so würde Peter ihm seinen Kummer mitgeteilt und jedenfalls Trost und Rat von ihm erhalten haben. Aber die Heringsfischerei hat eben ihren Anfang genommen und Nathan gehörte, nebst mehreren andern, zu der Bemannung eines Fischerbootes, das gewöhnlich den von Norden kommenden Heringszügen entgegensegelte. Er war deshalb heute in eine kleine, am entgegengesetzten Ende der Insel gelegene Stadt gegangen, um, sobald die nötigen Vorkehrungen getroffen waren, von dort aus in See zu stechen.

In tiefer Niedergeschlagenheit schlenderte Peter eine Zeitlang vor der elterlichen Hütte auf und ab, beantwortete alle Fragen der alten Brigitta in mürrischem Ton, so dass der Sonnenstrahl, der heute morgen so unerwartet in das Herz der armen Frau geleuchtet hatte, mit einem Mal wieder verschwunden war. Als der Knabe in früher Morgenstunde mit glücklichem Herzen von Jesus, seinem König, gesprochen hatte, da waren liebliche Erinnerungen aus frühester Jugend, wo sie die Sonntagsschule von Castelton besuchen durfte, in ihrer Seele aufgetaucht. Schöne Lieder von Jesus, dem Sünderheiland, hatte sie damals gelernt und gesungen; und kurz nachher hätte man hören können, wie sie das eine oder das andre vor sich hin summte. Auch hatte sie in ihrem Herzen den Entschluss gefasst, sich von Peter ein Kapitel aus seinem Neuen Testament vorlesen zu lassen, sobald Kittig ausgefahren sei, um seine Fischerreusen zu untersuchen. Als nun aber der Knabe mit finsterem Gesicht bei ihr eintrat, da verscheuchten seine barschen Antworten bald wieder alle süßen Erinnerungen und gute Vorsätze, und es war ihr, als könne das alte Joch der Sünde nimmer von ihr genommen werden.

Die Hände in den Hosen, mit gesenktem Kopf schlich Peter endlich fort. Er achtete nicht auf den Zuruf anderer Buben, die ihn zu einem Spielchen aufforderten. Bald befand er sich auf der andern Seite des Hafens, an dem steilen Weg, der auf eine Weide zwischen den Klippen der Halbinsel führte. In diesen Pfad bog er ein. Die Schafe und Rinder, die dort grasten, blieben stehen und starrten ihn verwundert an. Doch was kümmerte ihn das? Es war ihm lästig, den lieblichen Gesang der Lerchen und das muntere Gezwitscher der Schwalben anhören zu müssen. Jeder Laut erschien ihm wie ein Echo jener bösen Worte, die er heute früh ausgestoßen hatte. Der Pfad, den er betrat, führte zu einer rohen, hölzernen Brücke, die über einen Bach gelegt war, der in vielen kleinen Wasserfällen lustig den Weg zum Meer suchte. Nachdenklich hemmte Peter einen Augenblick seinen Schritt. Er betrachtete den Stand der Sonne, die noch lange nicht den westlichen Horizont erreicht hatte, und schien die Zeit zu berechnen. Mit einem Mal erhellte sich sein Gesicht. Er beschleunigte seine Schritte, um einen plötzlich gefassten Plan auszuführen. Jenseits des Stromes, etwas weiter abwärts und fast ganz zwischen den Bäumen verborgen, stand eine Hütte. Sie war so einsam, dass man dort nichts weiter vernahm, als das Geplätscher des Baches, den Gesang der Vögel und das Summen der Bienen in den Blüten des Geißblattes, von dem die Hütte umrankt war. Sogar das Brausen des Meeres hörte man hier nur wie aus weiter Ferne.

Peter stand eine Minute still vor der Hütte, um Atem zu schöpfen. Dann trat er in die offene Tür und schaute sich vorsichtig um. Das einzige Zimmer war vielleicht eben so groß, wie dasjenige von Kittigs Hütte, aber hier herrschte weit größere Ärmlichkeit und Unordnung wie dort. Um den offenen Herd, über dem ein verbogener Kessel an einer Kette hing, bildeten Holzstücke, Kohlen und Asche ein buntes Durcheinander. Das niedrige Bett in einem Winkel war noch ungemacht, und auf dem Tisch standen ungespülte Teller und Töpfe. Niemand regte sich in dem ärmlichen Gemach. Doch Peter schritt auf ein kleines Mädchen zu, das regungslos auf einem Stühlchen am kalten Kamin saß, die Hände im Schoß und das ausdruckslose Auge starr auf die Tür gerichtet. Ein kleiner Dachshund lag zu ihren Füßen und blinzelte beim Eintritt des Knaben mit den Augen. Die Kleine wandte den Kopf ein wenig zur Seite und schien aufmerksam zu horchen, während sie einen tiefen Seufzer ausstieß. Da pfiff Peter die Töne des Liedes, bei dessen Erschallen sie ihm unter einem Freudenschrei die Arme entgegenstreckte.

„Ja, ich bin‘s, Agnes“, rief Peter, „Du kennst mich schon, ehe ich spreche. Bist du ganz allein? Wo ist dein Vater?“

„O wie gut, dass du gekommen bist, Peter!“, rief die Kleine, den Knaben umarmend. „Vater war heute Nacht fort und bis Mittag schlief er. Jetzt ist er in die Stadt gegangen, um Fische zu verkaufen. Er hat mir Brot und Wasser hierher gestellt, aber ich fürchtete mich, weil ich so allein war, darum habe ich noch keinen Bissen gegessen. Jetzt, wo du gekommen bist, ist alles wieder gut.“

„Auch ich freue mich“, sagte Peter. „Weißt du, jetzt will ich das Feuer anzünden und dann das Bett machen, dann wird es hier viel angenehmer.“

„O wenn ich dich doch sehen könnte ...“, fuhr die Kleine fort und öffnete ihre dunklen Augen ganz weit. „O, könnte ich doch sehen, Peter!“

„Weißt du“, sagte Peter ernst, „als der Herr Jesus noch auf Erden wandelte, da öffnete er die Augen der Blinden. Wenn wir damals gelebt hätten, so würden wir zu ihm gegangen sein. Ich hätte dich geführt und getragen, bis wir ihn gefunden hätten; und er würde gewiss deine Augen geöffnet haben.“

„Aber wohnte er denn hier auf der Insel oder kam er zu Besuch hierher?“, fragte das kleine Mädchen. „Über das Meer könnten wir doch nicht gehen und wie hätten wir ihn denn aufsuchen können?“

Diese Fragen konnte Peter allerdings nicht beantworten. Er hatte den ganzen Tag über gedacht, dass wenn der Herr Jesus noch auf Erden wäre, es ihm viel leichter sein würde, ihm zu gehorchen. Aber die Worte der Kleinen belehrten ihn, dass der Herr Jesus dann doch nicht immer bei ihm sein könnte, während er jetzt überall sei und alles höre. Inzwischen legte er schweigend Holz in den Kamin und wollte es eben anzünden, als die Kleine sagte:

„Peter, ich bin heute den ganzen Tag nicht hinausgekommen. Die Sonne scheint sicher hübsch warm, denn ich höre die Vögel singen. Gehe mit mir auf die Klippen am Strand, dort kann ich ja mein Brot essen. Tue mir’s zu Gefallen, Peter!“

Im nächsten Augenblick trug Peter die Kleine sorgfältig über die Brücke und führte sie, von Torry begleitet, durch die Wiese, bis sie oben am Rand eines über das Meer hervorspringenden Felsens ein weiches, grünes Plätzchen fanden. Dort konnte man, beleuchtet von der scheidenden Sonne, das Brausen des Meeres vernehmen. Hier setzten sie sich ins Gras und Peter erzählte von den weißgefiederten Möwen, so wie von den Schiffen, die in verschiedener Größe mit flatterndem Segel vorüberzogen. Aber trotz der Lebhaftigkeit, mit welcher der Knabe seine Schilderungen machte, entging es der kleinen Blinden nicht, dass seine Stimme ungewöhnlich traurig klang.

„Peter“, sagte sie, „deine Stimme klingt heute wie der Landregen, wenn die Vögel nicht singen und der kalte Wind pfeift. Hat Kittig dich wieder geschlagen? Oder was fehlt dir? Agnes muss es wissen.“

Peter schwieg. Sein Herz war zum Zerspringen voll. In nicht weiter Ferne sah er Kittig in seinem Boot, wie er die Reusen untersuchte. Er ahnte, dass sie leer sein würden, und die Folgen, wenn Kittig den Diebstahl entdeckte, waren dann leicht vorauszusehen. Dennoch war das nicht des Knaben größter Kummer. Der Anblick des Bootes erinnerte ihn an seine am vorigen Abend gefassten Vorsätze und an seine heute morgen begangene Sünde. Das Gesicht in beide Hände bergend, weinte er bitterlich.

„Agnes“, begann er schluchzend, „ich bin ein elender Bube. Gestern war ich sehr glücklich, weil ich in Jesus meinen Heiland und König erkannte, und ich wollte ihm ganz angehören und ihm gleich werden. Aber heute Morgen hab ich wieder geflucht und gelogen; du weißt ja, wie leicht ich zornig werde. Nun ist wieder alles aus, meine Freude ist verschwunden, denn Flucher und Lügner können nicht in den Himmel kommen, sondern gehören dem Teufel an, der ein Vater der Lüge ist.“

Seine Gefühle überwältigten ihn. Teilnehmend legte das blinde Mädchen ihre Hand in die seinige, aber sie war zu bewegt, als dass sie ein Trostwort hätte hervorbringen können. Doch nach und nach wurde Peter ruhiger. Seine Gedanken hatten plötzlich eine andere Richtung genommen. Er dachte an Philipp Bolten, den Vater der Kleinen. Er wusste nicht recht, was er von diesem Mann denken sollte. „Agnes“, begann er nach einer Pause, „dein Vater ist wohl ein frommer Mann, nicht wahr?“

„O ja“, erwiderte die Kleine, „er geht zuweilen nach Santon zur Kirche, zuweilen besucht er auch die Versammlung im Haus des Kapitäns Seefort.“

„Hat er die ganze Nacht gefischt?“, forschte Peter weiter.

„Ja, die ganze Nacht“, war die Antwort.

„Aber er hat ja im vorigen Winter seinen Nachen verloren“, bemerkte der Knabe.

„Ei, unser Nachbar hat ihm den seinigen geliehen“, berichtete die Kleine. „Vater hat in voriger Nacht sechs große Fische und viele, viele Krabben gefangen. Gewiss wird er heute viel Geld dafür lösen. Er weiß einen Platz, wo er sie verkaufen kann.“

Beide schwiegen jetzt und die Blicke des Knaben verfolgten den Kahn, der vom weißen Schaum umgeben, den Strand entlang fuhr. Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen und seine Stimme bebte, als er, wie zu sich selbst, die Worte flüsterte: „Ich wollte dem Herrn Jesus als meinem König treu dienen, aber ich bin ein böser Knabe.“

„Still!“, flüsterte Agnes. „Ich höre jemanden kommen; es sind jedenfalls Männertritte.“

Peter sah sich um und erblickte zwei Männer, die im Abendlicht über den Weideplatz daherschritten. Der eine war ein schlanker, aber kräftig gebauter Fischer, der einen Fischerkorb auf dem Rücken trug, während der andre, an Jahren ein Vierziger von mittlerer Größe, in seiner Kleidung den Seemann verriet.

„Das ist dein Vater und Kapitän Seefort“, rief Peter, indem er die Kleine fröhlich bei der Hand ergriff. Obwohl die Tränen ihre Spur auf den Wangen des Knaben zurückgelassen hatten, so ließ ihn doch die Freude allen Kummer vergessen. Er erhob sich und grüßte nach Matrosenart.