Kapitel 3

Als der Mond ihm endlich gerade ins Gesicht leuchtete, erwachte unser Freund. Die Flut hatte sich verlaufen und zwischen ihm und dem Dorf lag nur die schlammige Fläche, auf der er sich leicht zurechtfinden konnte. Man sah jetzt gar kein Licht mehr in den Häusern und soweit er nach dem Stand des Mondes urteilen konnte, musste bereits die Mitternachtstunde vorüber sein. Das Meer sah schwarz und unheimlich aus und brauste dumpf. Peter zitterte und fühlte etwas von jenem seltsamen Grauen, das uns in der tiefen Einsamkeit der Nacht befällt. Eben wollte er den Heimweg antreten, als er dicht unter sich am Damm das Geräusch eines Bootes vernahm, in dem er, hinunterblickend, eine männliche Gestalt gewahrte, die dort ein Fahrzeug zu befestigen suchte. „Das ist Philipp Bolten und kein anderer“, flüsterte Peter vor sich hin und zog sich sofort in den Schatten des Leuchtturms zurück, von wo aus er auf weitere Geräusche horchte. Der Mann gebrauchte etliche Minuten, um das Boot an einer Stelle festzuketten, wo es nicht durch die wiederkehrende Flut losgerissen werden konnte. Während dieser Beschäftigung summte er leise vor sich hin die Melodie des Liedes, das Nathan und Peter am Abend angestimmt hatten. Zuweilen fühlte sich Peter versucht, seine Stimme miteinzumischen, hielt sich jedoch zurück, denn die Anwesenheit Philipp Boltens zu dieser Zeit und an diesem Ort war ihm unerklärlich. Darum schmiegte er sich in den dunkelsten Winkel, um hinter das Geheimnis zu kommen.

Endlich trat der Mann den Rückweg an. Und als er die vom Lampenlicht hell erleuchtete Stelle erreichte, sah Peter ganz deutlich, wie die schlanke, kräftige Gestalt seines Bekannten einen Fischerkorb auf dem Rücken trug. Geräuschlos schlüpfte jetzt der kleine Horcher den Damm hinab, um das Boot zu besichtigen, das jener befestigt hatte. Zwar war es unten so dunkel, dass er nur eine schwarze Wassermasse vor sich sah. Aber indem er mit der Hand den Rand des Bootes nach allen Seiten hin prüfte, erkannte er unzweifelhaft jenes Fahrzeug, das Kittig gehörte und in dem sie beide vor etlichen Stunden herübergefahren waren.

Was aber hatte Philipp Bolten damit zu schaffen gehabt? Und wie war der Kahn zur Zeit der Ebbe hierher gekommen? Nun konnte Kittig ihn doch nicht wiederbekommen, wenn die Flut die Bucht füllte. Jetzt trat Peter den Heimweg an, indem er langsam den sandigen Schlamm durchwatete, auf dem als die ersten Anzeichen der zurückkehrenden Flut sich schon wieder leichte Wellenbläßchen verspüren ließen. Er schritt auf die Wohnung Kittigs zu, die nur aus einem Zimmer bestand und am untern Ende des Dorfes in unmittelbarer Nähe der Küste lag. Gleich hinter dieser Hütte zeigte sich schon, von einer starken, massiven Mauer umgeben, der große Bauernhof, wo Kittig und Nathan Kelly zeitweise als Knechte dienten, indem sie nur, wie die andern Bewohner von Derby-Hafen, während der Sommermonate auf den Heringsfang ausgingen. Peter sah keine Möglichkeit, einen Eingang in die Hütte zu finden, wo auf einem Brett über dem Bett seines Pflegevaters seine Spreumatratze ausgebreitet lag. Aber er war schon zu oft in rauhen und kalten Nächten vor die Tür gesetzt worden, als dass er lange ratlos geblieben wäre. Behende kletterte er über die Mauer in den Hof, wo die großen Krippen standen, auf denen man dem Vieh bei Tag das Futter aufzuschütten pflegte. Eine davon war noch zum Teil mit weichem Heu gefüllt. Mit einem innigen, dankbaren Gefühl legte er sich hinein. „Auch der Herr Jesus lag einst in einer Krippe“, flüsterte er vor sich hin, worauf er mit ruhigem Lächeln fest einschlief.

Es war bereits heller Tag, als er durch ein derbes, aber nicht übelgemeintes Rütteln aus dem Schlaf geweckt wurde. Der Zorn seines vor ihm stehenden Stiefvaters schien für den Augenblick verdampft zu sein. Er forderte ihn auf, nach Hause zu gehen und vor der Arbeit zu frühstücken. Peter war in einer Minute vor der Tür der Hütte, die, um die frische Morgenluft einzulassen, weit geöffnet war. Das Innere war von Geräten aller Art so überfüllt, dass er mit der größten Vorsicht eintreten musste, um nicht den runden Tisch, auf dem das Essgeschirr stand, umzustoßen oder einen mit Kleidungsstücken bedeckten Stuhl über den Haufen zu rennen. Eine ältere Frau, die zwar ärmlich, aber reinlich gekleidet war, beschäftigte sich emsig mit ihrem Haushalt. In ihren Zügen lag der Ausdruck einer steten Ängstlichkeit, die nur zu deutlich verriet, wie auch sie unter den Zornausbrüchen ihres Mannes zu leiden hatte. Auch jetzt, da sich vor der Haustür Tritte hören ließen, erschrak sie; aber ihr Gesicht klärte sich wieder auf, als Peter allein eintrat. Alsbald füllte sie ihm einen Napf mit heißer Suppe, während sie jedoch stets ängstliche Blicke der Tür zuwandte. Doch der Knabe eilte ihr mit herzlichem Gruß und heiterem Gesicht entgegen und rief ihr zu: „Hab keine Furcht, Mutter, der Vater selbst hat mich hierher geschickt.“

Diese Worte beruhigten sie. Und als Peter sich auf einen Schemel am Kamin niedersetzte und mit gutem Appetit sein Frühstück verzehrte, stellte sie sich neben ihn und betrachtete ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit. „Peter, mein Junge“, brach sie endlich das Schweigen. „Jetzt sind es beinahe drei Jahre her, dass du mich nicht mehr Mutter nanntest, weil Kittig dir sagte, du seiest nicht unser eigenes Kind. Was macht dich heute so heiter, nachdem du die ganze Nacht im Freien zugebracht hast?“

„Ja, Mutter“, erwiderte der Knabe, „ich bin glücklicher als du dir denken kannst. Siehe, ich habe darüber nachgedacht, dass ich ein großer, großer Sünder sei und darum verloren gehen müsse. Aber da hat mir Nathan gesagt, dass der Herr Jesus in die Welt gekommen sei, um die Sünden wegzunehmen und alle zu retten, die an ihn glauben. Ich habe das selbst einmal in meinem Testament gelesen, und das macht mich so glücklich. Als mich der Vater gestern wieder schlug, da hab ich nicht geschrien und nicht geflucht. Ich war ganz still, wie der Herr Jesus, als die Kriegsknechte ihn misshandelten, und heute Nacht habe ich in einer Krippe gelegen wie er. Ich bin jetzt glücklich und will nicht wieder traurig sein. Weißt du, als ich soeben ins Zimmer trat, da war mir es, als müsste ich dich wieder Mutter nennen. Er hatte auch eine Mutter und war ein so armer Knabe wie ich. Er ist mir gleich geworden und darum will auch ich ihm gleich werden.“

Die Augen des Knaben leuchteten in Wonne und Entzücken, auch in den Mienen der alten Brigitta spiegelte sich ein freudiges Erstaunen ab. Doch kaum hatte er geendigt, so schaute sie sich ängstlich um und flüsterte: „Still, still! Über solche Dinge darfst du hier nicht reden. Auch mir ist‘s, als ob unsereiner nicht für den Himmel passe. Früher hörte auch ich gern von solchen Dingen und oft fühle ich, wenn ich an die Ewigkeit denke, große Angst in meinem Herzen. Aber wir müssen so viel wie möglich Frieden im Haus haben. Sprich in Zukunft kein Wort mehr davon, denn wenn Kittig es hört, prügelt er dich zu Tode.“

„Ich fürchte mich nicht“, sagte Peter kühn. „Gestern Abend habe ich nicht versprochen, dass ich mit Nathan Kelly nicht mehr verkehren wolle. Lieber würde ich mich umbringen lassen, als dass ich wieder von Jesus, der mein König ist, abließe. Er, der Heiland, ist mein König und wird mich schützen. Was kann mir dann Kittig tun?“ Brigitta schüttelte seufzend den Kopf. Aber das Gesicht des Knaben war so heiter, dass sie ihre Besorgnisse unterdrückte und nichts mehr zu sagen wagte.

Man hörte jetzt deutlich, wie Kittig drüben im Hof die Pferde anschürte. Bei solcher Gelegenheit hat er es nie an Flüchen und Verwünschungen fehlen lassen, denn es war nun einmal seine feste Überzeugung, dass man keine Arbeit ordentlich verrichten könne, ohne sich dabei zu ereifern und sich durch viel Lärm und böses Reden Luft zu machen. Peter steckte noch ein Stück Schwarzbrot ein, nickte der Alten freundlich zu und eilte in fröhlichen Sprüngen zum Bauernhof. Bald hörte Brigitta den Leiterwagen schwerfällig zur Küste hinunterfahren, wo der bei der letzten Flut angeschwemmte Seetang zum Bedüngen der auf der Halbinsel Langnas gelegenen Äcker gesammelt wurde. Peter führte pfeifend das Pferd, während Kittig mit einer zackigen Gabel auf der Schulter etliche Schritte hinter dem Wagen herging. Es war noch früh; die Meereswellen wogten ruhig unter dem leicht- bewölkten Himmel auf und nieder, als fürchteten sie, die Morgenschläfer des Dorfes zu stören. Ein Wasserrabe flog schwerfällig von einem niedrigen Felsen auf, weil ihn die knarrenden Wagenräder erschreckten. Am Ufer zog eben ein Fischer seinen Nachen so weit wie möglich auf den Sand, um ihn festzuketten. Da machte Kittig plötzlich halt, starrte sprachlos nach einer Stelle des Strandes, holte dann den Knaben mit großen Schritten ein, fasste ihn wütend beim Kragen und schüttelte ihn hin und her.

„Wo ist mein Boot, du Hund?“, schrie er. „Gestern lag es hier fest; was hast du mit ihm angefangen, Bube?“

„Ich weiß nichts davon“, antwortete Peter heftig. „Ich war heute Nacht auf dem Damm drüben. Wie hätte ich das Boot von hier wegholen können, da Ihr es doch selbst hierher gebracht und festgekettet habt?“

„Sicher ist das wieder einer deiner Streiche“, schrie Kittig mit zorngefärbtem Gesicht. „Wie und wann bist du nach Hause gekommen? Willst du sprechen oder nicht, du Schlingel?“

„Ich kam während der Ebbe nach Hause“, antwortete Peter trotzig. „Ich habe nichts mit dem Boot gemacht. Was kümmert’s mich, lasst mich los!“

„Kittig!“, rief jetzt der Fischer herüber. „Liegt nicht der Kahn da drüben am Leuchtturm? Das ist ein Platz, den man nicht leicht erreichen kann – es sei denn, dass eine frische Brise in Aussicht wäre.“

Prüfend richtete Kittig seine Blicke auf die Wetterzeichen am Himmel. Der Wind konnte schwächer oder stärker werden. Im letzten Fall lag die Gefahr nahe, dass bei steigender Flut jede Welle den kleinen Kahn auf die Klippen, unter denen er befestigt war, stoßen und zerschellen könnte. Die Wut Kittigs stieg immer mehr und Peter zitterte am ganzen Leib.

„Ich weiß nichts von dem Kahn“, rief der Knabe verzweifelt und beschwor sich dabei hoch und teuer, so dass es Kittig endlich bei einem Fußtritt bewenden ließ und ihn an die Arbeit gehen hieß.

Aber wo war jetzt die Freude unseres Freundes? Die Sonne am blauen Himmel warf ihren durch den frischen Morgenwind gemilderten Strahl in das Meer, die Berggipfel erglänzten in rötlichem Licht, weiße Segel schwebten in der Ferne über die Wogen. Peter sah nichts und achtete auf nichts. Das Glück, das er noch kürzlich in seinem Herzen gefühlt und genossen hatte, war wie ein Traum verschwunden. Jetzt war er wieder ein Lügner und ein Flucher; und ein solcher konnte nicht in das Reich Gottes kommen. Es war ihm, als hätte er für kurze Minuten einen Blick in den Himmel werfen können, aber nun fühlte er sich gänzlich wie ein Ausgestoßener, wie ein Verworfener. Gestern abend hatte er noch die Misshandlungen seines Gebieters ohne Widerrede ertragen, weil er kein unrechtes Versprechen geben und nicht schwören wollte; und jetzt war wieder alles aus. Jetzt stand er mit seinem Peiniger, den jedermann hasste und fürchtete, auf ein und derselben Stufe. Für ihn gab es jetzt keinen Heiland mehr, für ihn gab es nur die Sklaverei der Sünde, der er zu entrinnen gehofft hatte, und dann die Hölle.

Armer Peter! Wie lange schlichen ihm die Stunden dahin! Finster und mürrisch verrichtete er seine Arbeit. Er fluchte über die Pferde, er verwünschte den Seetang und die um seine nackten Füße spielenden lauen Wellen, so dass selbst Kittig trotz seines Ärgers über das Boot ein triumphierendes Lächeln über seine Züge gleiten ließ. Er freute sich nicht wenig, den Knaben Worte aussprechen zu hören, die er gestern ungeachtet der grausamen Schläge nicht hatte aussprechen wollen. Die böse Laune des gottlosen Mannes aber schwand vollends, als der Wind sich legte und das Boot um die Mittagszeit sich noch ganz unversehrt an der Stelle befand, wo Philipp Bolten es befestigt hatte. Nachmittags beim Eintritt der Ebbe stellte Kittig seine Bauernarbeit ein, löste das Boot und steuerte ins Meer hinaus, um seine Fischerreusen zu untersuchen, die er am Samstag gelegt hatte, und die gefangenen Fische einzuholen. Da er bei seiner Rückkehr die Lampe des Leuchtturms anzuzünden gedachte und somit erst des Abends nach Hause kam, war für heute auch die Arbeit unsres jungen Freundes zu Ende. Er hatte also vorderhand die Launen seines Gebieters nicht zu fürchten. Aber womit sollte er den langen Sommerabend verbringen?