Kapitel 17

Obwohl den armen Gefangenen jetzt völlige Dunkelheit umgab, so ließ er dennoch von Zeit zu Zeit seine Stimme erschallen. Doch nur das hohle Brausen der Wogen und das Pfeifen des Windes antwortete ihm. Eiskalt lief es ihm über den Rücken, als er daran dachte, eine Nacht in dieser verrufenen Einöde verleben zu müssen. Als er schaudernd in die dichte Finsternis hinunterstarrte, da war es ihm, als raschelten Fußtritte im dürren Laub. Atemlos lauschend, vernahm er gleich darauf ein klägliches Blöken sowie das Geklingel eines kleinen Glöckchens. Peter fasste Mut. Er hörte ja die Stimme des vermissten Lämmchens, das er fast ganz vergessen hatte.

Vorsichtig schritt er die Stufen hinab und fühlte unten am Fuß der Treppe den warmen Körper des kleinen Tieres, das sich an ihn schmiegte. Indem er es in seine Arme nahm, fühlte er sich getröstet und beruhigt, als sei er nun weniger verlassen. Schweigend setzte er sich an eine vor dem Wind geschützte Stelle, um hier das Lamm auf seinen Knien haltend, mit geschlossenen Augen den Morgen abzuwarten. Alle Hoffnung auf Rettung war vorüber. Jetzt vielleicht war der Augenblick gekommen, wo die beiden Bösewichte ihren Kahn am Strand befestigten und dann geflügelten Schritts der einsamen Landstraße zueilten, um ihr böses Vorhaben auszuführen. Es war ihm, als hörte er das sorglose Pfeifen Nathans und dann seinen Hilferuf. Er dachte an den Kummer der guten Christiane sowie an die alte Brigitta, deren Mann in diesem Augenblick ein Räuber und vielleicht gar ein Mörder wurde.

Laut stöhnte der unglückliche Knabe in seinem Jammer. Anfangs hatte er gehofft, von der Vorsehung ausersehen zu sein, das Verbrechen zu verhüten und jetztwarum hatte Gott dieses alles zugelassen? Ach! Hier im Dunkeln sitzen zu müssen und nichts tun zu können, während sein Freund in Todesgefahr schwebte, das war ihm fast unerträglich. Sein Trübsinn wuchs von Minute zu Minute. Der Gedanke an die vielleicht jetzt schon geschehene Mordtat zerriss ihm fast das Herz. Er schob das Lamm von sich, warf sich auf den Boden und schluchzte vor Schmerz und Angst. Doch allmählich kehrte einige Ruhe in sein Herz zurück. Ihm fielen die Worte ein: „Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn mit Ernst anrufen. Er erhört das Gebet derer, die ihn fürchten, er hört ihr Schreien und hilft ihnen. Der Herr erhält alle, die ihn lieben, aber die Gottlosen zerstreut er.“ Mit neuem Vertrauen erhob er sich, nahm das Lamm wieder in seine Arme und setzte sich still nieder. Das Meer in der Nähe brauste eintönig fort und wiegte nach und nach den müden Peter, der durch das sich an ihn schmiegende Tier gegen die Kälte geschützt wurde, in festen Schlummer ein.

Das Geschrei der Möwen, die beim Dämmern des Tages ihre Klippen verließen und, um Nahrung zu suchen, in raschem Flug über das Meer schnellten, weckte ihn auf. Obwohl ein wenig steif in den Gliedern, sah er doch munter drein. Als er wieder die Stufen hinaufstieg, um den Anbruch des Tages vollends abzuwarten, lag ein ernster Friede in seinen Mienen. Nach und nach sank der Nebel, friedlich lag das Dorf vor seinen Blicken. Wie eine dunkle Wolke zog der Gedanke an seiner Seele vorüber: „Wo mochte Nathan diesen Sonntagmorgen feiern?“ Der Knabe seufzte tief, aber sein Auge wandte sich zum Himmel und dort fand er Trost. Hatte denn nicht der Herr Jesus selbst gesagt: „Es fällt kein Haar von eurem Haupt ohne den Willen eures Vaters im Himmel?“ Ruhig ausschauend stand er auf der Galerie und sehnte das volle Tageslicht herbei, um sich den Leuten im Dorf bemerkbar machen zu können.

Endlich erkannte er ganz deutlich die Hütte Kittigs und sah auch, wie von dort eine Gestalt plötzlich mit eilenden Schritten den Weg zur Halbinsel einschlug. Weder Brigitta noch die kleine Blinde konnten es sein. Es war eine kleine, weibliche Gestalt, die Peter mit spannenden Blicken verfolgte. War das nicht etwa Christiane, die soeben die Hütte verlassen hatte und zu seiner Befreiung auf dem Weg war? Jetzt betrat sie den Damm. Ja, wirklich, es war Christiane. Ihr blondes Haar flatterte im Wind. Fast atemlos, aber mit freudeglänzendem Gesicht erreichte sie das alte Gebäude, auf dessen Spitze ihr scharfer Blick den Knaben bemerkt hatte.

„Christiane!“, rief Peter höchst aufgeregt. „Ist Nathan glücklich in Derby-Hafen angelangt?“

„Ei, freilich, und mein Vater ist über Nacht hier geblieben und auch ich bin gekommen, um ihn abzuholen. Aber Brigitta und ich – welch große Angst haben wir deinetwegen gehabt! Wie bist du da hinaufgekommen?“

„Wo ist Kittig?“, fragte Peter, denn plötzlich drängte sich ihm der Gedanke auf, dass vielleicht Nathan dadurch gerettet sei, dass Gott dessen Feinde ins Verderben gestürzt habe.

„Er war gestern Abend, als ich herkam, zum Fischfang ausgefahren und kehrte erst heute früh zurück. Jetzt schläft er und hat dich noch nicht vermisst. Aber sag, Peter, wie bist du denn dort hinaufgekommen?“

Peter glaubte zu träumen. War er wirklich während der ganzen Nacht in diesem Turm eingeschlossen gewesen? Und hatte denn Nathan in einer so großen Todesgefahr geschwebt? Aber als sein Auge wieder auf Christiane fiel, die ihn immer aufs Neue fragte, was ihm begegnet sei, lehnte er sich über die Brüstung und sprach so leise, als ob er fürchtete belauscht zu werden.

„Chritiane!“, flüsterte er. „Sage es keinem Menschen, dass ich hier bin. Nur Nathan darf es wissen. Gehe zu ihm und sage ihm, dass er sich den Schlüssel ausbitten und schnell hierherkommen soll. Sonst aber darf niemand wissen, dass du mich hier gefunden hast. Verstanden?“

Noch einen staunenden Blick warf das Mädchen nach oben und eilte dann ohne Zögern dem Dorf zu.