Kapitel 18

Ehe eine Stunde verging, sah Peter schon die kleine Christiane in Begleitung seines Freundes herankommen, und sein Herz klopfte mit hörbaren Schlägen, als er endlich das Knarren des alten Tores vernahm. Weinend stürzte er seinem Befreier um den Hals. Obwohl dieser ihn wegen seiner Gefangenschaft neckte und Christiane von neuem mit Fragen anhob, blieb Peter doch schweigsam. Es war, als sei es ihm durchaus unmöglich, ein Wort über die Lippen zu bringen. Auch war er mit sich nicht im Klaren, ob er den Vorfall mitteilen sollte oder nicht. Sicher leugneten die beiden Bösewichte alles und er setzte sich dann neuen Misshandlungen aus.

„Wie bist du gestern vom Seehafen nach Hause gekommen, Nathan?“, wagte er endlich zu fragen.

„Sehr gut“, erwiderte Nathan. „Denke nur, gerade in dem Augenblick, als ich in die alte Straße einbiegen wollte, schritt der Kapitän Seefort vor mir her, der jetzt für etliche Zeit wieder hier bleiben wird.“

„Bist du sonst niemandem auf dem Weg begegnet?“, forschte Peter weiter.

„Nun, Philipp Bolten holte uns ein“, erwiderte Nathan, „Nachdem er jedoch einige Worte mit uns gewechselt hatte, musste er in den Pfad einbiegen, der zu seiner Hütte führt.“

„Also wirklich!“, murmelte Peter vor sich hin und schritt, in Gedanken vertieft und ohne auf die Worte seines Freundes zu achten, dem Dorf zu. Er erkannte, dass der Herr über das Leben Nathans gewacht und dessen Verfolger vor einem schrecklichen Verbrechen bewahrt habe. Plötzlich war in seinem Herzen ein Entschluss zur Reife gekommen. Er nahm sich vor, dem Kapitän alles zu sagen. Schon am Nachmittag führte er diesen Vorsatz aus. Seit jenem denkwürdigen Sonntag in Kliffstrand hatte er den Kapitän nicht wieder gesehen. Heute richtete jedoch der gute Mann solch ernste Blicke auf den armen Peter, dass dieser wie verdutzt die Augen zu Boden senkte und das Blut sich ihm mit Gewalt ins Gesicht drängte. Seine Verlegenheit steigerte sich immer mehr, so dass er kein Wort hervorzubringen vermochte.

„Nun, Peter, was hast du mir zu sagen?“, fragte endlich der Kapitän in einem Ton, der durchaus nicht geeignet war, den Mut des Jungen zu beleben.

Dann aber, nachdem Peter zum Herrn um die rechten Worte gefleht hatte, machte er kurz und einfach seine Mitteilungen.

Schweigend hörte ihn der Kapitän an. Als er nun geendet hatte, verharrte Herr Seefort noch eine Weile in tiefstem Nachsinnen und forderte endlich den ängstlich harrenden Erzähler auf, den Nathan Kelly herbeizurufen. Es war für ihn eine außerordentlich Erleichterung, ins Freie zu kommen und dort seine Seufzer ausstoßen zu können. Nathan stand mit Bolten, der sonntäglich gekleidet, im Begriff war, nach Castelton zur Kirche zu gehen, in einer freundlichen Unterhaltung. Er war nicht wenig über das blasse Aussehen Peters verwundert, der sich flüsternd seines Auftrages entledigte. Bolten entfernte sich und die beiden Freunde standen bald vor dem ihrer harrenden Kapitän.

„Nun teile uns deine Geschichte noch einmal mit“, begann dieser, und Peter wiederholte, oft durch Ausrufe des Erstaunens von Nathans unterbrochen, seine frühere Aussage in seiner schlichten, einfachen Weise.

„Was denken Sie darüber, Nathan?“, fuhr der Kapitän fort, als der Knabe geendet hatte.

„Ich kann es unmöglich glauben“, erwiderte Nathan traurig.

„Seit vielen Jahren haben Kittig und ich auf dem Hof gearbeitet und ich wüsste nicht, dass je zwischen uns beiden Händel gewesen sei. Freilich ist er gestern im Auftrag des Herrn Trappert beim Turm gewesen, um das rostige Torschloss einzuölen. Darum hat Peter den Turm auch offen gefunden. Aber, mein Junge, du musst nachher geträumt haben. Es ist ja ein schauriger Ort und jedenfalls hat die Furcht deine Sinne ein wenig verwirrt. Wie könnte man aber vollends von Bolten so etwas denken? Er kommt so fleißig zum Bibellesen und eben jetzt war er im Begriff, seine kleine blinde Tochter zum Kirchgang nach Castelton abzuholen. Wie hast du dir solch schreckliche Dinge in den Kopf setzen können, Peter?“

Der Knabe gab keine Antwort. Die Ereignisse des vergangenen Abends standen in voller Klarheit vor seiner Seele. Wie konnte er jedoch die Wahrheit seiner Aussagen beweisen? Was konnte er machen, wenn ihm selbst seine Freunde nicht recht zu glauben schienen?

„Peter!“, begann Herr Seefort ernst und streng. „Das ist nicht die erste Anklage, die du gegen Philipp Bolten vorbringst. Aber weder damals noch jetzt hast du Beweise für deine Behauptung. Was du heute gesagt hast, soll unter uns bleiben, denn du hast es doch ohnehin schwer genug bei Kittig. Aber ich muss dir sagen, dass ich mich wegen des Vorfalls auf dem Heringsboot genau erkundigt habe, namentlich wegen des Schwures, zu dem du so grausamerweise gezwungen wurdest. Aber alle, die dabei gewesen sein sollten, leugnen die Sache ab. Man gibt zu, dass man einen Spaß mit dir getrieben habe, aber jedenfalls hast du die Geschichte übertrieben. Armer Junge! Ich hatte gehofft, dass dein Herz sich zu Jesu gewandt habe. Du solltest doch bedenken, dass ein Lügner keinen Teil hat am Reiche Gottes.“

Peter stand da wie an den Boden gebannt. Verlegen richtete er sein Auge bald auf den Kapitän, bald auf Nathan. Dann schaute er durchs Fenster hinüber zu dem Turm. Es schwindelte ihm. Unerträglich war ihm der Argwohn derer, die er so sehr liebte. O, wie sehr wünschte er, dass Gott durch ein Zeichen seine Aussagen bestätigen möchte, oder dass die beiden in sein Herz schauen könnten! Jedoch weder das eine noch das andere fand statt. Was sollte er anfangen? Nur ein Gedanke, dass er vor Gott kein Lügner sei, milderte den Kummer seines Herzens. Aber dennoch blieb seine Miene traurig und niedergeschlagen und seine Stimme klang dumpf, als er sagte:

„Beweise habe ich nicht, aber Gott weiß, dass ich die Wahrheit gesagt habe und er wird einmal alles an den Tag bringen.“

Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ das Zimmer. Einem Schatten gleich, schritt er über die Straße und suchte einen einsamen Platz am Strand auf, wo das leise Rauschen der Wellen ihm schon manchen Kummer verscheucht hatte. Doch noch nie hatte er ein so schweres Leid dorthin getragen wie heute. Mit augenscheinlicher Teilnahme verfolgten der Kapitän und Nathan den armen Knaben, den sie hatten gehen lassen, weil sie ihm für den Augenblick nichts mehr zu sagen wussten.

Als des Nachmittags die Stunde zum Bibellesen heranrückte, überlegte Peter, was er tun sollte. Sein natürlicher Stolz riet ihm, ein Haus nicht zu betreten, wo man ihn als Lügner betrachtete. Jedoch er verurteilte diesen Gedanken. Wie hätte es denn der Herr Jesus gemacht? War er nicht immer wieder in den Tempel gegangen, obwohl er wusste, dass die Leute ihm nicht glaubten und ihn nicht verstanden? Darum ließ er die alte Brigitta mit Christiane und der kleinen Agnes vorangehen, dann folgte er schüchtern und setzte sich in einen dunkeln Winkel, um den Blicken des Kapitäns auszuweichen. Mit großer Spannung lauschte er auf die vorgelesenen Worte der Schrift und nach und nach wälzte sich die schwere Bürde seines Kummers von seinem Herzen, bis es ihm ganz leicht wurde.

Als die Stunde beendet war, sah Peter, wie sich Bolten mit dem Kapitän unterhielt. Bei diesem Anblick drängte sich dem armen Knaben wieder das Blut ins Gesicht. Doch eben so schnell eilten seine Gedanken nach oben und es war, als rufe eine Stimme zu ihm: „Sei stille dem Herrn und hoffe auf ihn; er wird‘s wohl machen.“