Kapitel 1

Inmitten des irischen Meeres liegt die kleine Insel Man. Sie wird umspült von nimmer rastenden Wellen, die mit betäubendem Getöse bei Ebbe und Flut in jeden Spalt, in jede Öffnung eindringen, als wollten sie die kleine Insel bis in ihre Grundfesten erschüttern und wohl ganz und gar von ihrer Stelle hinwegrücken. Sie bildet ein so unbedeutendes Stück Erde, dass man sie an einem Tag ohne Anstrengung der Länge nach von einem Ende bis zum andern durchschreiten kann. Und nur ein Morgenspaziergang dazu gehört, um ihre von Osten nach Westen sich ausdehnende Breite kennen zu lernen. Stellt man sich aber auf den höchsten Hügel, so überschaut man das ganze Ländchen mit seinen Wiesen, Kornfeldern und Ortschaften. Und weit darüber hinaus breitet sich vor den Blicken nach allen Seiten hin die blaue Meeresfläche aus. Sie scheint mit ihrem äußersten Rand den Himmel zu berühren, ausgenommen da, wo sich dunkle Linien am Horizont zeigen. Sie sehen zwar wie Wolken aus, lassen sich aber bei näherer Betrachtung als die Berge von Irland und England unterscheiden.

Während des ganzen Sommers verrät gegen Abend eine lichte, weiße Rauchsäule in der größten Bucht der Insel die Ankunft eines Dampfbootes, das jedesmal eine reiselustige Menge aus England herüberbringt, die teils aus Gesundheitsgründen, teils zum Vergnügen die freundliche Insel besucht. Die Fahrt dauert nur wenige Stunden. Und das Meer ist hier so klar und durchsichtig, dass man tief unten auf dem Grund die bunten Kiesel und bei längerem aufmerksamen Hinunterschauen sogar einen ganzen Wald schwimmenden Meergrases von dunkelgrüner und purpurroter Farbe entdecken kann, dessen lange, grasartige Blätter sich im Wasser auf- und niederbewegen. In der Bucht selbst, die auf drei Seiten von schützenden Hügeln umringt ist, schaukeln sich buntgestrichene und mit schneeweißen Segeln geschmückte, schlanke Gondeln auf den lustigen sonnigen Wellen und darin sitzen fröhliche Gäste, deren Stimmen mit heiterem Klang über das Gewässer herüberschallen.

So ist es zur Sommerzeit. Wenn aber die trüben, dunklen Wintertage nahen, wo der dichte Nebel sich über die See lagert und seinen Vorhang um das Land zieht, dann segelt manches Schiff vorüber, ohne dass die Insassen die in Nebel gehüllte Insel gewahren. Oder es geht noch schlimmer. Manches schöne, große Fahrzeug und manches Fischerboot scheitert auf den scharfen Klippen, die unter den brausenden Wogen lauern. Dann ist auch das Meer nicht mehr klar und ruhig, sondern es brüllt und schäumt in wildem Grimm um das Felsengestade, an das die Trümmer der gescheiterten Schiffe geschleudert werden. Zuweilen spülen auch die Wellen in einer stillen Bucht einen Leichnam irgend eines Seemannes ans Land, in dessen ferner Heimat vielleicht Frau und Kind von Tag zu Tag auf seine Rückkehr harren. Um diese Zeit wird die Insel von niemanden mehr zum Vergnügen besucht. Die Bewohner aber, die ihr kleines Ländchen ebenso sehr lieben, wie wir unser größeres Vaterland, leben dann still und gemütlich in ihren Hütten und lassen draußen den Winter nach Belieben toben und die kalten Winde von Ufer zu Ufer wehen.

In dem von Fremden wenig besuchten südlichen Teil der Insel liegt das Dörfchen Derby-Hafen, das mit Ausnahme zweier Bauernhöfe fast nur aus Fischerwohnungen besteht, und, in einer Bucht gelegen, vor den Winden wohl geschützt ist. Diese Bucht bildet einen sicheren Hafen, durch dessen Mitte auf einer Reihe niedriger Klippen ein Damm angelegt ist, so dass, wenn die Flut hochgeht, die Kinder des Dorfes innerhalb von ihm in kleinen Booten ohne alle Gefahr umherfahren. Und zur Zeit der Ebbe plätschern sie barfuß durch das feuchte Seegras, um Seekrabben und Fische zu suchen. An der entgegengesetzten Seite des Dammes tritt eine doppelte Reihe von Klippen, die ihre scharfen Spitzen nach oben kehren, bis weit in die See hervor und verbindet die Insel Man mit einer Halbinsel, die in ein spitzes Vorgebirge ausläuft und unter dem Namen Langnas bekannt ist. Die Leute erzählen viele traurige Geschichten von Schiffen, die an diesen Felsen zertrümmert wurden. Und auf den schmalen Landstrecken, die hoch oben zwischen den Klippen der Halbinsel liegen, wölben sich mehrere Grabhügel, unter denen die Überreste mancher Schiffbrüchigen ruhen. An einer Stelle, St. Michaels-Insel genannt, stehen noch die Ruinen einer alten Kapelle – vier nackte Mauern, ohne Dach und Fenster, und ringsumher liegen die flachen, halb eingesunkenen Gräber der unbekannten und vergessenen Toten, die einst hier im Sturm ihr Leben einbüßten.

Doch an dem Tag, mit dem unsre Erzählung beginnt, hätte niemand, der das Meer und den Himmel betrachtete, an Sturm und Untergang denken können. Es war an einem Sonntagabend, an dem die hohe Flut innerhalb und außerhalb des Dammes so ruhig und glatt wie ein Landsee dalag. Kaum bewegte ein leichter Hauch die Oberfläche, so dass sogar die Schatten der Häuser sich regungslos in den Wasserspiegel tauchten. Am Himmel schwammen eine Menge weißer Wölkchen, rosig angehaucht durch die letzten Strahlen der Sonne, die hinter dem Berg versank. Jedes Wölkchen spiegelte sich in der kristallklaren Flut. Die meisten Fischerhütten schienen von dem Alltagsgetöse auszuruhen. Und die Boote, die innerhalb des Dammes befestigt lagen, schaukelten so leise und friedlich hin und her, als hätten sie sich nimmer durch Sturm und Wogen den Heimweg erzwingen müssen. Die Lerchen hatten ihr Abendlied ausgesungen und zwitscherten nur noch leise in den goldgelben Ginsterbüschen. Nirgends aber ließen sich lange Zeit hindurch menschliche Laute vernehmen, bis endlich die kräftigen Töne eines Mannes, von einer schwächeren klaren Knabenstimme begleitet, die Stille unterbrachen, so dass man deutlich die Worte unterscheiden konnte:

„Nach dem Sturme fahren wir

Sicher durch die Wellen,

Lassen, großer Schöpfer,

dir Unsern Dank erschallen;

Loben dich mit Herz und Mund,

Loben dich zu jeder Stund.

Christ, Kyrie!

Ja, dir gehorcht die See.“

Die beiden Sänger saßen in geringer Entfernung vom Dorf in der Nähe der Küste; ihre Blicke schweiften über die vom Horizont begrenzte Meeresfläche. Der Mann war ein schlanker und starkgebauter Fischer mit sonnverbranntem und wetterhartem Gesicht, während der untersetzte Knabe nicht minder kühn seinen unbedeckten Lockenkopf emporhob und ein Augenpaar zeigte, dessen scharfem, durchdringendem Blick nichts auf dem Land und dem Meer zu entgehen schien. Das Lied war zu Ende und nach einer Pause begann der Knabe:

„Heute scheint kein Sturm im Anzug zu sein, Nathan“.

„Das ist wahr“, erwiderte der Angeredete. „Es ist so still und feierlich um uns her, als wenn so ein Stück Paradies vor uns ausgebreitet wäre. Und dennoch“, fügte er mit einem fast traurigen Ausdruck hinzu, „mein Junge, stimmt mich ein solch feierlicher Abend eher traurig als heiter, wenn ich daran denke, wie vergänglich und nichtig alle irdische Schönheit und Herrlichkeit ist. Und weißt du warum, Peter? Siehe, seit die Sünde in die Welt kam, ist es aus mit dem Paradies. Satan, der den Menschen zum Sklaven der Sünde gemacht hat, ist noch der Fürst dieser Welt. An den Sonntagabenden liegt mir dieser Gedanke näher als an Werktagen, wenn es Sturm oder überhaupt viel Arbeit gibt, wobei man sich tummeln muss. Ja, dann fühle ich mich als Fremdling in einer Wüste, die ich je eher, je lieber verlassen möchte, um in meine ewige Heimat zu kommen“.

Der kleine Peter starrte den Boden an. Er verstand. Er verstand seinen Freund nicht ganz, aber dennoch schien seine Miene nachdenklicher geworden zu sein.

„Aber Peter, mein Junge“, fuhr Nathan nach einer Pause fort, „so, wie der Mensch durch die Sünde geworden ist, kann er unmöglich ein Verlangen nach der ewigen Heimat, nach dem Himmel haben. Sicher, wenn es ihm gestattet würde, einen Blick in den Himmel zu tun, wo alles vollkommen gut und voller Frieden ist, würde er sich äußerst unglücklich und elend fühlen, weil seine Natur dahin nicht passt. Vielleicht gleicht er einem Fisch, den man aus dem Meer nimmt, um ihn in das weichste Wasser zu legen. Nein, Fleisch und Blut können nicht in den Himmel kommen, mein Junge. Und auch mir ist‘s, als ob es bei mir noch nicht in Ordnung wäre; daher mag es wohl kommen, dass mich die stillen Tage weit trauriger machen als die ärgsten Wetter.“

„Auch ich hab es gern, wenn es stürmt und tobt“, fiel Peter nach einer Weile mit leuchtendem Blick ein, während ein halb unterdrückter Seufzer, als seine Blicke wieder über das stille Meer und den dämmernden, klaren Himmel schweiften, seiner Brust entschlüpfte.

„Ja, ja, Peter, wir passen nicht in die Windstille“, fuhr Nathan fort. „Weil es in unsrem Innern nicht ruhig ist, sind wir mit unserm Gewühl und Gezanke dem Sturm weit mehr zugeneigt. Darum passen wir für den Himmel nicht, denn sonst würden wir so still und ruhig sein wie das Meer, als Jesus sagte: „Schweig, verstumme!“, und eine große Stille entstand. Heute dünkt mich‘s, als wundere sich der Himmel sowie das Meer und die Berge über mein ruheloses Leben voller Verdrießlichkeiten. Ich sage dir, Peter, an solchen Abenden fühle ich es lebhaft, dass ich ein Sünder bin, und dass es anders mit mir werden muss.“

„Aber was kann man tun, um in den Himmel zu kommen?“, fragte Peter nachdenklich.

„Ich weiß es selbst nicht recht, mein Junge“, erwiderte Nathan. „Unser Kapitän Seefort sagt, dass wir nichts dazu beitragen können. Wie er behauptet, sind wir alle Sklaven der Sünde und ohne Gott in der Welt. Alle unsre Anstrengungen, um uns aus diesem Zustand loszureißen, sind eitel und vergeblich. Aber er sagt auch, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt habe, damit er die Sünde hinwegnehme und die Werke des Teufels zerstöre. Und dass Jesus gekommen sei, um jeden zu retten, der an ihn glaube. Und nun denke dir, Peter, alle, die in Jesu ihre Rettung finden, sollen dereinst mit ihm auf seinem Thron sitzen. Wirklich, das ist zu viel. Solch ein armer Fischer wie ich, wie könnte ich gleich einem König auf einem Thron sitzen? Aber ich selber habe die Worte gelesen: „Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron.“

„Ich möchte gern in den Himmel kommen“, unterbrach ihn der Knabe nachdenklich.

„O, das tut mir immer so wohl daran zu denken, dass der Sohn Gottes vom Himmel herabgestiegen ist und sich in denselben Umständen befand, worin auch wir sind“, fuhr Nathan in weichem Ton fort. „Des Nachts fuhr er zuweilen in einem Fischerkahn über die See. Und da hat er auch dann und wann einen Sturm mit durchgemacht, so dass die Wellen, wenn er auf dem Deck stand, über ihm zusammenschlugen. Er weiß auch, wie einem zu Mute ist, wenn man kalt, nass, müde und dazu hungrig ist, und die Fische nicht ins Netz kommen wollen. So erging es uns, wie du weißt, damals, als wir auf dem Heringsfang waren. Das alles hat er mit durchgemacht und nachher kam das Kreuz, wo er für arme, elende Sünder sein Leben hingab. Ja, wahrlich, er ist der rechte König für uns arme Fischersleute, und wenn ich daran denke, dann wird‘s mir leicht ums Herz. Und mir ist‘s, als hörte ich ihn zu mir, wie einst zu dem Schächer am Kreuz, die Worte sagen: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“.

Kaum hatte Nathan seine Worte ausgesprochen, als sich von der Küste her ein lautes, rauhes „Hallo!“ vernehmen ließ. Beide wandten ihre Augen nach dieser Richtung und bemerkten, wie ein Mann in einiger Entfernung ein Boot loszuketten suchte, das bei der nächsten Hütte vor Anker lag. Das Antlitz des Knaben umwölkte sich, aber im nächsten Augenblick ruhten seine Blicke ernst und feierlich wieder auf seinem älteren Gefährten. Aufspringend hob er seine harten, braunen Hände zum Himmel empor, indem er rief: „Auch mein König soll er sein!“ Dann eilte er mit geflügelten Schritten die Küste entlang auf das Boot zu, das sich schon um etliche Ruderschläge vom Land entfernt hatte.