Kapitel 2

Da die Füße unseres jungen Freundes nicht mit Schuhen beschwert waren, so zögerte er, sobald er das Ziel erreicht hatte, nicht eine Minute, sondern durchwatete, dem Boot folgend, das Wasser. Obwohl der Mann mit wuchtigen Stößen das Ruder handhabte, so war Peter ihm doch bald zur Seite und schwang sich auf seinen Platz. Sie ruderten dem Damm zu. Weil der Mann, der eigentlich den dort erbauten Leuchtturm zu besorgen hatte, auf eine Woche abwesend war, hatte Kittig, der Stiefvater Peters, dessen Pflichten übernommen. Das scharfe Auge des Knaben ruhte prüfend auf der Gestalt Kittigs, der düster schweigend mit vorgebeugtem Kopf seine Arbeit verrichtete. Doch was er entdeckte, ließ ihn verraten, dass es das Beste sei, kein Wort zu verlieren. Hätte Peter das finstere und grimmige Gesicht seines Vordermanns sehen können, so würde ohne Zweifel seine Furcht noch vermehrt worden sein.

„Bei wem hast du wieder herumgelungert?“, brach Kittig endlich das Schweigen in einem Ton, bei dem alles Blut aus dem braunen Antlitz des Knaben zurückwich und er sich unwillkürlich niederduckte, als wollte er einem Peitschenhieb ausweichen.

„Sprich, Knabe, wie heißt der Bube, in dessen Gesellschaft du deine Zeit totschlägst?“

„Ich war bei Nathan Kelly“, erwiderte der Knabe mit bebender Stimme.

„Bei Nathan Kelly?“, wiederholte Kittig in höchster Aufregung. „Hör, Junge, wenn ich dich von jetzt an noch einmal bei diesem Heuchler, diesem Duckmäuser erwische, so schlage ich dich tot. Merk dir es nun ein für allemal! Hat nicht dieser Nathan Kelly mit seinem Geklatsch den Kapitän Seefort gegen mich aufgehetzt? Und hat er nicht fast alle meine alten Kameraden mir durch sein frommes Geschwätz abwendig gemacht? Seit der Kapitän hier im Dorf sein Wesen treibt, ist Lust und Freude geflohen. Kurz, ich will nichts von Nathan Kelly wissen, und du musst mir hier mit einem Schwur versprechen, dass du ihm nimmer nachlaufen willst.“

Peter antwortete nicht, sondern richtete, da der Erzürnte gewaltiger als sonst arbeitete, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Ruder, um das Boot in der bezeichneten Richtung zu halten. Das kleine Fahrzeug flog leicht durch die Bucht und legte etliche Minuten später am Ende des Dammes an, wo der kleine Leuchtturm stand. Immer noch schweigend stieg Peter die Leiter hinauf, die zum oberen Raum führte, und begann hier die Lampe zu reinigen und anzuzünden. Kaum war er mit dieser Arbeit fertig, so hörte er die Tritte Kittigs, der, nachdem er das Boot an der untersten Sprosse der Leiter befestigt hatte, ebenfalls nach oben stieg.

„Nun, Junge“, brüllte er und fasste den armen Knaben mit einem eisernen Griff an der Schulter, „jetzt schwöre mir, dass du nimmer wieder mit Nathan Kelly reden und auch nie mehr auf seine Worte hören willst. Ich dulde keinen Aufrührer in meinem Boot, wenn es auch nur ein Fischerkahn ist. Und habe ich auch nur einen Untergebenen, Junge, so verlange ich doch wenigstens von ihm unbedingten Gehorsam. Verstanden? Du hast doch sonst gut fluchen und schwören können und ich denke, du wirst es unter den frommen Leuten noch nicht verlernt haben. Drum keine Umstände! Schwöre mir mit einem derben Fluch, dass du kein Wort mehr mit Nathan Kelly reden willst.“

Der Knabe verharrte in tiefem Schweigen. Sein Auge begegnete den wütenden Blicken seines unmenschlichen Gebieters, aus dessen Gewalt er sich dieses Mal keineswegs durch schnelle Flucht loszureißen vermochte. Freilich war der Damm, der die Bucht durchschnitt und der, weil eben die Flut hoch ging, auf beiden Seiten mit Wasser umgeben war, lang und breit genug, um etliche hundert Schritte darauf fortlaufen zu können. Aber am Ende hätte er doch seinem Verfolger wieder in die Hände fallen müssen, falls er sich nicht ins Wasser stürzen wollte. Wären sie auf dem Land gewesen, dann hätte sich vielleicht irgend ein Nachbar ins Mittel gelegt, um den Knaben vor den Streichen des dicken Taues zu retten, das der Wüterich in seiner Hand schwang. Aber hier konnte, wenn auch das Geschrei des armen Burschen im Dorf vernommen wurde, doch niemand die seiner harrende Züchtigung verhindern. Er zitterte an allen Gliedern bei dem Anblick der drohenden Gefahr, aber mit unerschütterlichem Mut weigerte er sich den Schwur zu leisten, denn Nathan Kelly war ja sein bester Freund, den er in der Welt besaß.

„Ich schwöre nicht!“, rief er mit fester Stimme, stellte sich fest vor seinen Peiniger und sah ihm kühn ins Auge. Aber im nächsten Augenblick wand und krümmte er sich unter Tauhieben, die hageldicht auf seine Schulter fielen. Freilich hatte der arme Knabe Züchtigungen dieser Art zu unzähligen Malen erduldet. Bei solchen Gelegenheiten hatte er dann gewöhnlich aus Leibeskräften so lange Verwünschungen ausgestoßen und um Hilfe geschrien, bis die Nachbarsleute herbeieilten, um dem Lärm ein Ende zu machen. Aber an diesem Sonntagabend, wo die Sterne in friedlichem Dämmerschein auf die Szene herniederschauten, ertrug Peter die grausame Strafe ohne Lärm und Geschrei, und nur durch leises Schluchzen verriet er den Schmerz seiner Glieder. Endlich ermüdete der Arm des Wüterichs und mit einem Fußtritt stieß er den Knaben von sich.

„Hab ich dir‘s nicht im Voraus gesagt, dass ich dich halbtot schlagen würde?“, keuchte er. „Dies ist nur eine Probe von dem, was du über lang oder kurz zu erwarten hast. Fort aus meinen Augen, du verstockter Schlingel! Fort! Fort!“

Peter schlich davon mit schmerzendem, blutigem Rücken. Seine Augen waren voll zurückgehaltener Tränen und seine Füße trugen ihn halbbewusstlos bis an das Ende des Dammes. Dort setzte er sich nieder und starrte empor zu dem bleichen Lichtstreifen, der noch im Westen schimmerte. Die Sonne war schon seit einer Stunde untergegangen; um diese Zeit hatte Nathan mit ihm von dem Frieden des Himmels gesprochen. Jetzt aber war sein Kopf heiß und schwer und sein Herz, vor kurzem noch so fröhlich und voll guter Vorsätze, wollte jetzt brechen vor Leidenschaft, Zorn und Rachedurst. Er dachte daran, wie im letzten Winter die brausenden Wogen über dem Damm zusammenschlugen und mit gewaltig zerstörender Kraft alles zerrissen, was ihnen im Weg stand. Wie sehr glühte das Verlangen in seinem Herzen, dass auch jetzt die glatte See sich empören möchte, um Rache zu üben an seinem grausamen Gebieter! Wie gerne wäre er selbst umgekommen, wenn nur dieser Mann, der seine Kindheit so elend machte, ebenfalls von den Fluten des Ozeans fortgerissen worden wäre. Aber nein, das Meer kräuselte sich friedlich um den Damm her und weiterhin erglänzte die unendliche Wasserfläche in dem letzten, schwachen Dämmerlicht.

Durch die tiefe Stille rauschten die Ruderschläge eines Bootes zu ihm herüber und deutlich gewahrte er, wie der Kahn seines Stiefvaters langsam dem Dorf zu dahinglitt. Ein Fluch drängte sich auf die Lippen des armen Knaben, aber er sprach ihn nicht aus, sondern verfolgte den Kahn schweigend mit seinen Blicken. Nun dauerte es noch drei Stunden, bevor die Ebbe zurückkehrte, wo er dann über den nassen Sand und das Seegras den Rückweg antreten konnte. Die Fenster im Dorf erhellten sich eins nach dem andern; bald zeigte auch die Erleuchtung einzelner Dachzimmer, dass die Hüttenbewohner ihr Lager suchten. Nur im Haus des Kapitäns Seefort mitten im Dorf blieb es dunkel, da der Besitzer infolge einer längeren Reise abwesend war. Weiter unten lag der große Bauernhof, bei dessen Besitzer namens Tappert Nathan Kelly, außer den zum Heringsfang verwendeten Sommermonaten, den größten Teil des Jahres als Knecht diente. Peter kannte jedes Haus und dessen Bewohner im Dorf. Der Gedanke, dass letztere um die Zeit meistens plaudernd am traulichen Herd saßen, während er trostlos einsam in der Abendkühle fröstelte, machte ihn immer trauriger. Fieberig brannte sein Kopf; die Striemen seines Rückens machten sich in der scharfen Luft mit jedem Augenblick fühlbarer.

„Warum“, dachte er , „habe ich doch heute bei den unmenschlichen Schlägen geschwiegen? Und woran liegt’s, dass ich auch jetzt wieder ruhig bin?“ So war es bei ihm früher nicht gewesen. Noch vor einer Woche hatte Kittig ihn misshandelt. Aber damals hatte er geschrien, dass man es im ganzen Dorf hörte. Was war heute die Ursache seines Mutes und seiner Geduld gewesen? Endlich richtete er sich mühsam auf, denn seine Glieder begannen vom langen Sitzen steif zu werden. Die Nacht mit ihrer Einsamkeit umgab ihn, nur im Osten tauchte der Mond wie aus der Meeresfläche empor und warf seinen Silberstrich bis zu dem Damm herüber, gleichsam eine Straße bildend, auf der die Engel vom Himmel stiegen, um den armen Peter zu trösten. Er dachte daran, wie einst die Jünger den Herrn sahen, als er des Nachts auf dem Meer wandelte und sprach: „Ich bin‘s, fürchtet euch nicht!“

Das Herz des Knaben wurde weich, Tränen füllten seine Augen und unwillkürlich kniete er nieder auf das kalte Gestein. Er sprach kein Gebet, dachte auch nicht einmal daran, dass er beten wollte, aber als er sich wieder erhob, fühlte er sich wie umgewandelt. In seinem Gemüt war es so friedlich still, wie das ruhige Meer und der wolkenlose Himmel. Sein Kopf war nicht mehr so dumpf und schwer. Ob auch die Striemen noch schmerzten, so spiegelten sich doch Freude und Entzücken in seinen glänzenden Augen. Er schritt den Damm entlang bis zum Leuchtturm und stellte sich dort in den Schein einer Lampe. Dann zog er ein Neues Testament, das ihm der Kapitän vor einigen Wochen geschenkt hatte, aus der Tasche. Als er es aufschlug, fielen seine Blicke gerade auf die Worte: „Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von hier.“

Da stand Peter nun eine gute Weile an den Leuchtturm gelehnt. Die Flut verlief langsam, während er an das Reich dachte, wo Jesus als König herrscht. Ihm fiel ein, dass er noch heute zu Nathan gesagt hatte: „Auch mein König soll er sein.“ Da leuchtete der Gedanke wie ein Sonnenstrahl in seine Seele hinein, dass Jesus ihn liebe und dass er es war, der ihm heute Mut und Geduld unter den Schlägen seines Peinigers gegeben habe. Lebhaft gedachte er der Stelle: „... welcher nicht wiederschalt, als er gescholten wurde; nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet.“ „Sollte ich wohl ein Untertaner dieses großen Königs sein?“, flüsterte Peter in sich hinein. Aber seine Sünden? Wie oft hatte er geflucht und böse Dinge getrieben. Doch hatte Nathan ihm nicht gesagt, dass Jesus gekommen sei, um die Sünden wegzunehmen und alle zu erretten, die an ihn glauben? Wieder kniete er auf das harte Gestein nieder und betend bewegten sich seine Lippen, bis ihn endlich der Schlaf überwältigte. Sorglos lehnte er sein Haupt an die Mauer des Turmes; der Mond goss sein freundliches Licht auf ihn herab und leise summten die Wogen ihr Schlummerlied.