Kapitel 24

Sechs Jahre waren verflossen, seit sich Kapitän Seefort mit seinem jungen Freund Peter von den Fischern aus Derby-Hafen verabschiedet hatte. Da herrschte eines Tages, es war in den Sommermonaten, in dem kleinen Dorf eine solch freudige Aufregung, dass es sogar jedem Fremden auffallen musste. Vor etlichen Tagen war nämlich für Nathan Kelly in Derby-Hafen ein Brief gekommen. Darin wurde ihm, und durch ihn allen übrigen Leuten im Dorf, die Mitteilung gemacht, dass Peter Kittig, den man schon längst von den Meereswellen verschlungen glaubte, in Liverpool gelandet sei, am Samstagabend in Derby-Hafen eintreffen und die Blinde Agnes Bolten mitzubringen gedenke. In kurzen Worten meldete dieses Schreiben auch den Tod des Kapitäns, wobei man jedoch fühlte, dass es dem Briefschreiber schwer geworden war, diese Tatsache berühren zu müssen. Selbstverständlich war durch diese Trauerbotschaft die Freude der Dorfbewohner ein wenig gedämpft worden. Doch da man schon seit mehreren Jahren die beiden Reisenden als tot betrachtet hatte, konnte es nicht ausbleiben, dass die Rückkehr wenigstens eines dieser Vermissten allgemein mit großer Freude begrüßt wurde.

Kittig, der um diese Zeit durchaus nicht älter aussah, als damals, wo wir ihn zum letzten Mal in Liverpool sahen, machte sich flugs auf den Weg nach Kliffstrand, um dort die Neuigkeit mitzuteilen. Er kehrte dann mit Christiane, die über den Tod ihres Jugendfreundes Peter viele Tränen vergossen hatte, wieder nach Derby-Hafen zurück. Die alte Brigitta und Elisabeth machten ihren Gefühlen dadurch Luft, dass sie viele Vorkehrungen zum Empfang des Zurückkehrenden trafen. Und Nathan konnte es sich nicht versagen, jedem, der ihm in den Weg kam, herzhaft die Hand zu schütteln und ihm, obwohl die Neuigkeit keinem im Dorf mehr ein Geheimnis war, mit fröhlicher Stimme zuzurufen:

„Denkt euch, der Peter ist frisch und gesund wieder da und wird, will’s Gott, am Samstag in unserer Mitte sein.“

Inzwischen war der von allen ersehnte Tag herangekommen. Schon lange vor der Stunde, als der Postwagen vom andern Ende der Insel in Derby-Hafen eintreffen musste, harrte das halbe Dorf an der Biegung der großen Straße, um Peter zu empfangen. Da endlich rasselte der Wagen heran. Vorn auf dem Bock neben dem Kutscher saß ein kräftiger, hochgewachsener junger Seemann, der schon von ferne seine Mütze schwenkte. Im Innern des offenen Wagens saß ein blindes Mädchen mit blühendem, heiterem Antlitz und schien mit großer Spannung auf jeden Laut zu lauschen. Das waren Peter und Agnes. Kaum waren sie erkannt, so stießen die Leute aus dem Dorf ein Freudengeschrei aus. Es erscholl bis zu allen Häusern, so dass es bald auch die alten Frauen und Greise, die daheim geblieben waren, wussten, dass der für tot gehaltene Knabe wieder da war.

All die fröhlichen Dorfbewohner versicherten, dass sie in dem schmucken Seemann ihren alten Landsmann nicht wiedererkannt haben würden, wenn er ohne sich anzumelden angekommen wäre. Selbst Kittig traute seinen Augen kaum und wagte sich anfangs gar nicht an ihn heran, sondern sah den jungen Menschen verlegen an. Brigitta hingegen fiel ihm gleich mit einem Strom von Freudentränen um den Hals. Peter schüttelte dann dem alten Kittig, seinem Freund Nathan, den übrigen Bekannten und ihren Frauen mit großer Herzlichkeit die Hand. Aber als Christiane jubelnd die herangewachsene Agnes in ihre Arme schloss und dann ihrem Jugendgefährten die Hand reichte, da zögerte dieser doch ein wenig, ehe er den Namen der zur Jungfrau erblühten Freundin aussprach.

Dann wanderten alle miteinander langsam, aber in freudiger Bewegung dem Dorf zu. Zunächst ging man an dem Hügel vorüber, wo einst die Verräter gehängt wurden, dann weiter zwischen den blumigen Feldern hinunter, bis der größte Teil der Fischerhütten sich ihren Blicken zeigte. Alles befand sich noch in der früheren Gestalt. Dort unten lag noch die freundliche Bucht und drüben glänzte schon in der Dämmerung die Lampe des kleinen Leuchtturms auf dem Damm. Peter lächelte wie im Traum. Neben ihm gingen Kittig und Brigitta, Nathan, Christiane und die blinde Agnes. Er hatte sie also alle wieder, nur einer fehlte. Der hatte ja bereits jenen Hafen der Ruhe erreicht, dem sie alle entgegesteuerten. Aber Peter konnte es nicht lassen, er musste dem guten Kapitän einige Tränen nachweinen, die er jedoch schnell mit den Worten zerdrückte: „Herr, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden!“

Die große Küche im Haus des Kapitäns war früher, wenn dieser die Leute zum Bibellesen um sich versammelte, nie so gefüllt gewesen, wie an diesem Abend. Da saß der Heimgekehrte am Kamin, Agnes auf einem Schemel zu seinen Füßen, Brigitta und Christiane zu seinen beiden Seiten, während Kittig, Nathan und Elisabeth, sowie die übrigen Dorfbewohner ihm gegenüber ihre Plätze eingenommen hatten. Der junge Seemann hatte vieles zu erzählen und eine Menge Fragen zu beantworten. Als er aber in seinem Bericht zu dem Augenblick kam, wo er seinen Kapitän verloren hatte, da herrschte eine solche Stille in der Umgebung, dass man das Ticken der Uhr zwischen den Worten des Erzählers hindurch vernehmen konnte.

„Ja, geliebte Freunde“, fuhr er fort, „die Seligkeit, die er früher so oft hier vor euren Ohren gerühmt hat, genießt er jetzt ungestört. So ruhig, wie sein Leben war, war auch sein Tod. Was ich dabei gefühlt und gelitten habe, kann ich nicht beschreiben. Wie gern wäre ich, wenn sich irgendwo dazu Gelegenheit geboten hätte, nach Hause zurückgekehrt! Aber wie hätte ich gegen den Wunsch eines Sterbenden handeln können, dem ich so vieles verdankte? Wie gesagt, er hatte mich aufgefordert, den armen heidnischen Insulanern das Evangelium zu verkündigen, und mit Zittern begann ich dieses große Werk. Das größte Hindernis war, dass ich die Sprache der Leute nicht verstand. Ich flehte zum Herrn, mir beizustehen. Dass er mein Gebet erhörte, erkannte ich daran, dass einer der vier noch lebenden Matrosen namens Standfast, ein älterer Mann, mich bat, mit ihm die Bibel zu lesen. Gern tat ich es und der Herr segnete diese geringe Arbeit. Der Mann wandte sich bald mit seinem Herzen zum Herrn und fand Gnade und Frieden. Er war der Sohn eines Pfarrers und war in seiner Jugend den Eltern entlaufen. Ach, wie tief war sein Schmerz, als sein Gewissen erwachte, wie groß seine Freude, als er die große Barmherzigkeit Gottes in Christus Jesus kennenlernte und jenen Frieden genoss, der alle Vernunft übersteigt.“

„Wir näherten uns jetzt gemeinschaftlich den gastfreundlichen Bewohnern der Insel, lernten ihre Sprache schneller, als wir es uns vorgestellt hatten und verkündigten ihnen dann das Wort Gottes. Anfangs schien man für alles Göttliche völlig taub zu sein. Aber nicht lange, so öffnete der Herr bald hier, bald dort ein Herz für die Wahrheit. Als sich nun endlich eine Gelegenheit darbot, auf einem vorübersegelnden Schiff heimkehren zu können, da entschloss sich mein älterer Freund, auf der Insel zu bleiben und das unter ersichtlichem Segen begonnene Werk fortzusetzen.“

„Aber auf welche Weise hast du denn endlich die Insel verlassen können?“, fragte einer der Fischer.

„Wir erblickten eines Tages in noch ziemlich weiter Ferne ein Segel“, erwiderte der junge Seemann. „Sobald wir die Gewissheit erlangt hatten, dass es auf unsere Insel steuerte, fuhren wir ihm mit unserm Boot entgegen. Doch das war unnötig, denn das Schiff segelte bis nahe an die Insel, um Wasser zu holen. Nun hatten wir Zeit genug, um zu überlegen, was zu tun sei. Und, wie gesagt, mein Freund Standfast entschloss sich zu bleiben. Er hatte bereits, da er im Elternhaus eine gute Ausbildung genossen hatte, mehrere Kapitel des Wortes Gottes in die Sprache der Eingeborenen übersetzt. Und auch mehrere geistliche Lieder, die er mit ihnen sang. Überhaupt hatte er, seit er bekehrt war, eine Treue und einen Eifer an den Tag gelegt, die mich oft beschämten. Ich konnte dem Herrn von ganzem Herzen preisen, dass er den Entschluss in ihm geweckt hatte, sich der uns so lieb gewordenen Insulanern anzunehmen und ihnen auch fernerhin den Weg der Wahrheit zu zeigen. Als nun der Augenblick der Abreise gekommen war, versammelten wir uns noch einmal alle an dem Grab des Kapitäns und sangen dort sein Lieblingslied – jenes Lied, das er im Sterben sang. Auch die Farbigen stimmten mit ein, während manches Auge mit Tränen benetzt war.“

Peter schwieg. Die Erinnerung an jene Augenblicke rief in ihm Gefühle tiefer Wehmut wach und bald schienen alle Anwesenden von denselben Empfindungen beherrscht zu sein. Nachdem er sich jedoch wieder ein wenig gesammelt hatte, fuhr er in bewegtem Ton fort: „Ich will von dem schmerzlichen Abschied nicht reden. Da das Schiff das Zeichen zur Abfahrt gab, musste ich mich beeilen. Nach etlichen Wochen kamen wir ohne irgendwelchen Unfall in Liverpool an. Der Kapitän hatte mir seine Papiere anvertraut. Sie enthielten die Schiffsrechnungen und andere Berichte, die ich nach seiner mir gegebenen Weisung den Schiffseigentümern überlieferte. Diese öffneten in meiner Gegenwart das kleine Paket und fanden unter den Schriften auch sein Testament. Nun denkt euch aber, er hat Agnes und mich, er nennt uns die beiden Waisenkindern, zu Erben seines ganzen Vermögens eingesetzt.“

Allgemeines Staunen gab sich kund, als der junge Seemann inne hielt und das blinde Mädchen anblickte, deren Gesicht durch diese Nachricht nicht fröhlicher werden konnte, als es schon während des Abends gewesen war. Als sich die Aufregung der Anwesenden wieder etwas gelegt hatte, öffnete Peter sein Taschenbuch, worin ein vergilbtes, halbzerrissenes Blättchen lag, das er langsam und feierlich entfaltete.

„Ich sagte euch schon“, sprach er ernst, „dass der Kapitän sich im Sterben noch einmal aufrichtete, um an die Fischer von Derby-Hafen einige Zeilen zu schreiben. Seine Hände waren schon kalt und seine Augen halb gebrochen, aber er trug euch alle auf seinem Herzen. Rückt das Licht ein wenig näher, denn die Schrift ist fast ganz verwischt.“

Ehe noch jemand die Hand ausstrecken konnte, hatte Christiane schon den Leuchter erfasst und hielt ihn so, dass das Licht auf das zerknitterte Blättchen und die schwachen, undeutlichen Schriftzüge fiel, welche die ermattende Hand des Kapitäns geschrieben hatte. Die wetterharten Gesichter der Fischer von Derby-Hafen drängten sich um das Licht zusammen und blickten ehrfurchtsvoll das vergilbte Papier an, während die blinde Agnes ihre glanzlosen Augen weit öffnete. Peter glättete das Blatt mit seiner gebräunten Hand und zögerte einen Augenblick, denn während eine Träne über seine Wange hinabrollte, war es ihm, als sei ihm die Brust fest zugeschnürt. Dann aber las er mit einer von Rührung zitternden Stimme, jedoch so, dass es jedes Ohr hören und jedes Herz aufnehmen konnte, die Worte:

„Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. Fürchte dich nicht, du kleine Herde, es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben.“