Kapitel 23

Doch so schnell und ohne noch einmal seine Lippen geöffnet zu haben, sollte der Kapitän diese Erde nicht verlassen. Seine Bewusstlosigkeit dauerte freilich beinahe zwei Tage, dann aber zeigten sich hin und wieder lichte Augenblicke. Um seine eigene Person schien er sich nie zu kümmern, sondern fragte beständig nach dem Befinden seiner Leute und erkundigte sich angelegentlich, ob die Eingeborenen der Insel wohl je etwas von dem Evangelium gehört hätten. Allmählich kehrte sogar zur großen Freude Peters bei dem Kranken der volle, klare Verstand zurück. Er versammelte die vier Matrosen um sich und gab ihnen Anweisungen und Ratschläge für die Zukunft. Dann aber, als er seinen kleinen Freund, der über ihn hingebeugt, ihm Gesicht und Hände mit frischem Wasser benetzte, allein in seiner Nähe sah, ruhte sein Blick lange mit dem zärtlichen Ausdruck eines väterlichen Freundes auf dem sorgsamen Krankenpfleger.

„Peter!“, begann er nach einer Pause, „Du wirst nicht mehr lange nötig haben, mir deine Dienste zu widmen. Ich fühle, dass der Augenblick herannaht, wo ich vom Glauben zum Schauen kommen und ihn, meinen Herrn und Heiland, von Angesicht sehen werde.“

Peter bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, um vor den Blicken des geliebten Mannes die hervorbrechenden Tränen zu verbergen. Der Kapitän aber fuhr in liebevollem Ton fort: „Weine nicht, lieber Junge! Wenn du bloß meinen Händen anvertraut wärest, dann hättest du Ursache zu trauern, denn wer auf Menschen, die hinfällig sind, sein Vertrauen setzt, der wird sich nur zu bald getäuscht sehen. Aber gottlob, Peter, du ruhst in den Armen dessen, der stärker als alles ist, und der die Seinigen nimmer versäumt noch verläßt. Blicke nur getrost auf ihn, er wird dir stets nahe sein.“

„Aber es ist doch schwer, Sie zu verlieren und allein unter diesen fremden Menschen zurückbleiben zu müssen“, keuchte Peter hervor.

„O ja, für den ersten Augenblick wird dir’s schwer werden, das fühle ich mit dir, mein teurer Junge“, sagte der Sterbende mit der Milde einer brechenden Stimme. „Aber sei versichert, sind der Leiden viele, so ist auch des Trostes viel. Der Herr Jesus ist dein Freund. Und findet er es für gut und nötig, dir den Becher der Trübsal zu reichen, so träufelt er auch zugleich den Balsam des Trostes hinein. Gott versucht nie über Vermögen. Vertraue ihm nur und wirf alle Sorgen auf ihn. Und weißt du, ich habe gedacht, dass es doch sicher nicht ohne göttliche Absicht sei, dass wir auf diese Insel verschlagen wurden und hier solch freundliche Menschen angetroffen haben. Könnte es nicht sein Wille sein, dass du, der du so frühe den Herrn gefunden hast, den Insulanern das köstliche Evangelium Jesu Christi bringen solltest? Und welch eine Gnade wäre es, wenn du in der Hand Gottes das Werkzeug würdest, wodurch diese arme Heiden zur Erkenntnis des Heils gebracht würden! Solltest du aber je nach England zurückkehren, dann nimm diese Papiere mit, die ich noch vor meiner Krankheit in Ordnung gebracht habe. Doch möchte ich noch gern, ehe meine letzte Kraft schwindet, einige Zeilen an unsre Bekannten in Derby-Hafen schreiben.“

Der Kapitän hatte während des ganzen Tages an großer Schwäche gelitten, aber jetzt schien er wieder etwas gekräftigt zu sein. Von Peter gestützt, richtete er sich auf und schrieb mit Bleistift einige Zeilen auf ein Blatt, das er aus seiner Brieftasche gezogen hatte. Doch bald musste er ein Ende damit machen, denn erschöpft sank er auf seine Matten nieder, während ein sanftes Lächeln die bleichen Züge überflog und der Mund unverständliche Laute vor sich hinmurmelte. Peter, aufs tiefste erschüttert, neigte sein Ohr zu dem Sterbenden hinüber und vernahm deutlich, dass er von der Herrlichkeit des Sohnes Gottes sprach, in die er jetzt eingehen sollte.

„Denn wir wissen“, murmelte er, „dass, wenn unser irdisches Haus zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist in den Himmeln.“

Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Palmen und das üppige Buschwerk und vergoldeten die ganze Insel mit rosigem Schein. Lange und mit ersichtlichem Entzücken ruhte das Auge des sterbenden Mannes, der dort im Abendlicht unter einem leichten, offenen Zelt lag, auf der prachtvollen Szene, während er die Worte hervorhauchte:

„Der Herr ist mein Hirte. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Die Tage der Prüfung sind zu Ende. Die goldenen Toren öffnen sich und werden nicht wieder geschlossen werden. Dort ist keine Nacht, keine Finsternis.“

Wieder lag er eine Weile ganz ruhig und still. Peter hielt ihn mit beiden Armen umfasst und stützte das sinkende Haupt mit seiner Schulter. Da öffneten sich noch einmal die brechenden, in himmlischem Licht strahlenden Augen und blickten lange auf die trauernden Matrosen, die vor dem Lager standen, sowie auf die dunkle Gruppe der Inselbewohner, die von fern mit augenscheinlicher Teilnahme den Schmerz beobachteten, der sich in den Mienen des noch jugendlichen Krankenpflegers ganz besonders ausprägte. Und während das bleiche Antlitz des Sterbenden wie in einem verklärten Glanz erschien, stammelten seine Lippen die Worte des Liedes:

„Lasst mich gehen, lasst mich laufen

Zu den Haufen derer, die das Lamm erkor!

Eil, o Seele, flieh behende!

Jesu Hände öffnen schon das Perlentor.

Lasst mich gehen, lasst mich eilen,

Denn zu weilen bei ihm dort mein Herz begehrt!

Lös, mein Heiland, alle Bande,

Denn am Lande hält mein Schifflein unversehrt.“

Die Stimme brach und war für dieses Leben verstummt. Das müde Haupt sank auf die Brust Peters herab, der, als die Wange des Geschiedenen seine Stirn streifte, die Todeskälte fühlte. Doch in den marmorbleichen Zügen des Heimgegangenen bemerkte man weder Kummer noch Angst. Peter legte ihn sanft auf sein Bett zurück und kniete, stumm vor Schmerz und Trauer, neben dem Leichnam nieder.