Kapitel 22

Die lange Fahrt nach Kalifornien ging glücklich vonstatten. Bald darauf lichtete das Schiff des Kapitäns Seefort abermals die Anker, um durch den Stillen Ozean nach Ostindien zu segeln. Das Fahrzeug hatte Sturm und Wetter ausgehalten, ohne irgendwelchen Schaden zu leiden. Für Peter war diese Reise eine Zeit beständigen Glückes gewesen. Er befand sich stets in der Nähe seines Gönners, der ihm täglich in der Schifffahrtskunde Unterricht gab. Der Kapitän hatte große Freude an der treuen Anhänglichkeit des Knaben. Selbst wenn Peter dann und wann ins Takelwerk hinaufkletterte, um allein für sich zu sein, und dann da oben an seine Insel und an Derby-Hafen mit den weißen Hütten dachte, so schwand doch alsbald seine Traurigkeit, wenn er unten auf dem Deck den Kapitän, Befehle an seine Mannschaft austeilend, hin und herschreiten sah. In der Tat war die Anhänglichkeit des Knaben so auffällig, dass, obwohl gute Mannszucht auf dem Schiff herrschte, er sich doch mancherlei Arten von Spötteleien zuzog. Für ihn, der seiner Eltern so früh durch den Tod beraubt worden war und von seiten Kittigs nichts anderes als Misshandlungen erfahren hatte, war es Bedürfnis geworden, jemanden zu haben, dem er sein ganzes Herz schenken konnte. Daher war Herr Seefort für ihn alles – sein Lehrer, sein Erzieher, sein väterlicher Freund, so dass es von dessen Seite nur eines Winkes bedurfte, dem Peter sofort Folge leistete.

Längst schon hatte das Schiff den Hafen von Kalifornien wieder verlassen und ohne Unfall die hohe See erreicht. Die tropische Sonne spiegelte ihre glänzenden, versengenden Strahlen in den fast von keinem Windhauch gekräuselten Fluten und gestattete wegen ihres fast senkrechten Standpunktes den Segeln nicht, einen Schatten auf das Verdeck zu werfen. Solche Zeiten der Windstille sind, während das Fahrzeug sich nur träge vorwärts bewegt, keine beneidenswerten Erscheinungen, denn ein jeder fühlt sich dann ungemein erschöpft. Doch sollte dieses auf dem Schiff des Kapitäns Seefort nicht die einzige Plage sein. Nachdem man nämlich mehrere Tage hindurch der unerträglichsten Hitze ausgesetzt gewesen war, brach plötzlich eine Seuche unter den Schiffsleuten aus. Wie und in welcher Weise sie ihren Anfang genommen hatte, das wusste niemand. Doch von der Vorderkastei bis zum Quarterdeck, in allen Winkeln des Schiffes, erschien der schreckliche und unsichtbare Würger und berührte hier den einen, dort den andern mit seiner tödlichen Hand, so dass alle Tage Leichen über Bord geworfen werden mussten. Die wenigen, die übrig blieben, wagten es kaum, einander ins Gesicht zu sehen und zwar aus Furcht, sie möchten die Zeichen von Pest entdecken. Endlich war die Zahl der Mannschaft so sehr zusammengeschmolzen, dass man nicht mehr imstande war, das Schiff zu lenken. Es blieb nun ruhig liegen inmitten der ungeheuren Wasserfläche, wo die Luft vor Hitze zitterte, während kein Wölkchen sich zeigte und kein Schiff sichtbar wurde.

Etliche Wochen nach dem Ausbruch dieser Krankheit befanden sich nur noch sechs Mann auf dem Schiff und unter diesen der Kapitän und sein kleiner Günstling. Da schien es dem besorgten Knaben, als zeigten sich auch bei dem Kapitän die Spuren des so sehr gefürchteten Fiebers, denn das Auge des guten Mannes hatte ganz und gar seinen früheren Glanz verloren, auch die Stimme ihren hellen, fröhlichen Klang. Augenscheinlich wehte der Hauch des Todes durch alle Räume des Schiffes, denn man hatte schon zu lange darin zugebracht. Peter und die vier Matrosen baten den Kapitän, er möchte ein mit Lebensmitteln und Wasser versehenes Boot niederlassen, damit sie miteinander dem verpesteten Schiff entfliehen könnten. In weiter Ferne, wo man am Horizont leichte Streifen entdeckte, hofften sie irgendeine kleine Insel zu finden, die so lange Schutz und Sicherheit biete, bis ein vorübersegelndes Schiff sich ihrer annehme. Es war eine schwache Hoffnung, aber ein längeres Verweilen auf dem Schiff war unter keinen Bedingungen möglich. Nach einer kurzen Beratung wurde das Boot ausgerüstet und bald stieß man vom Schiff ab.

Die glühende Sonne brannte fast senkrecht auf ihre Scheitel, man lechzte nach einem frischen Lufthauch, aber kein Lüftchen regte sich. Wie viele schmerzensreiche Stunden es gedauert haben mochte, bis sie endlich ein Korallenriff aus den Fluten emporragen sahen, das vermochte Peter in späteren Tagen nimmer anzugeben. Er hatte sich selbst fast gänzlich vergessen. Seine ganze Sorgfalt war dem kranken Kapitän gewidmet, der nach etlichen Tagen, in denen er sich, seine Leute ermutigend, gewaltsam aufrecht erhielt, bewusstlos und phantasierend im Boot niedergestreckt lag. Indes war er nicht von der eigentlichen Seuche, wovon die übrige Mannschaft ergriffen und so plötzlich hingerafft worden war, heimgesucht, sondern von jener schleichenden und erschlaffenden Fieberkrankheit, die langsam die geistigen und körperlichen Kräfte aufreibt. Zuweilen erinnerte er sich, dass seine Leute sich in Not befanden. Dann redete er sie mit tröstenden und ermunternden Worten an, so dass sie sich wieder zu neuen Anstrengungen aufrafften und den Rest ihrer Kräfte anwandten.

Endlich zeigte sich ein ganzer Kranz von Korallenriffen vor den Blicken der unglücklichen Schiffer. Mitten darin befand sich eine Insel, ungefähr so groß, wie die heimatliche Insel Man, die wie diese von einer Hügelkette durchschnitten war. Nur die Kokospalmen, die ihre gefiederten Häupter in die Luft streckten, sowie die gewaltigen Zweige sich weit ausbreitenden Farrenbäume schlossen jeden Vergleich mit der fernen Heimat aus. Unsre bis zum Tod erschöpften Seeleute beabsichtigten, in einer stillen Bucht anzulegen, wo sie, und anderes verlangten sie ja nicht, Schatten und Ruhe zu finden hofften. Als die Mannschaft sich umschaute, um einen passenden Landungsplatz zu entdecken, erblickten sie zu ihrer nicht geringen Überraschung ein leichtes Boot, das ihnen entgegenkam. Dunkelfarbige Männer, deren ganzes Wesen keineswegs von Wildheit zeugte, führten das Ruder und gaben durch ihre Bewegungen solch fröhliche Zeichen der Bewillkommnung kund, dass es fast schien, als seien sie von dem Unglück der Flüchtlinge unterrichtet und hätten bereits ihre Hütten zur Herberge geöffnet. Aber Peter beachtete weder die seltsamen Fremden, noch seine Kameraden, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf den kranken Kapitän gerichtet. Erst dann schien er aus seinem trüben Sinnen freudig zu erwachen, als man, auf der Insel angekommen, den ihm so teuren Kranken in einer der kühlen Hütten niederlegte. Dort konnte er ihm die Stirn mit frischem Quellwasser kühlen, das eine freundliche Insulanerin in einer Kokosschale herbeitrug. Die Frau verstand keine Silbe von dem, was Peter sagte. Aber ihre teilnehmenden Mienen bezeugten es, dass sie den tiefen Kummer begriff, der in dem Ton seiner Stimme lag, und ebenso wusste sie auch, was das stille, totenbleiche Gesicht des Kapitäns zu bedeuten habe. Peter fühlte sich wie zu Boden gedrückt, wenn der Gedanke, dass sein Wohltäter dem Grabe nahe sei, sich in sein Herz schleichen wollte. Doch wenn sein Blick auf dessen ruhigen, friedlichen Zügen verweilte, dann musste er sich sagen: „Wenn das sein Sterben ist, dann ist es nur ein ruhiges Einschlafen, ohne Schmerz und Angst, nur das Hineilen der müden Seele zu Gott in die himmlischen Wohnungen.