Kapitel 12

Am folgenden Nachmittag mit freundlichem Sonnenschein erbat sich Peter von Herrn Trappert die Erlaubnis, die Reusen nachzusehen, die Kittig draußen vor dem Hafen für die Fische aufgestellt hatte. Er hatte das, da Kittig abwesend war, jeden Morgen und jeden Abend getan. Doch heute wollte er, wie er es schon längst versprochen, die kleine Agnes mitnehmen. Das blinde Kind war noch nie auf offener See gewesen und war daher sehr froh, einmal draußen das Brausen der Wellen hören zu können, wovon sie sich eine so herrliche Vorstellung gemacht hatte. War es ihr doch schon früher eine große Freude gewesen, wenn sie zur Flutzeit das Rauschen der Brandung am Strande der Bucht vernehmen konnte. Wie glücklich war sie daher, als Peter sich heute bereit erklärte, sie am Damm vorbei und noch über den Hafen hinaus bis an den Ort, wo die Reusen lagen, mitnehmen zu wollen. Brigitta setzte ihr schnell den Hut auf, strich ihr blondes Haar zurück, das jetzt, seit sie das Kind in Pflege hatte, stets hübsch gekämmt war, drückte einen Kuss auf die Wangen der Kleinen und schaute dann zu, wie die beiden das kleine Fahrzeug bestiegen. Die Flut hatte sich bereits halb verlaufen, so dass zwischen der Hütte und dem Wasser schon eine Strecke schlammigen Grundes lag. Aber Peter wusste das Boot dennoch bis zu einer Stelle zu schaffen, wo es an den Klippen zur Abfahrt bequem angelegt werden konnte. Dann trug der geschäftige Knabe die kleine Blinde auf seinen Armen durch den nassen, schlammigen Tang und hob sie nebst dem ihr nachlaufenden Hund in den Kahn. Er setzte sich ans Ruder, winkte der am Ufer harrenden Pflegemutter ein fröhliches Lebewohl zu und stieß vom Land.

Bald fuhren sie am Leuchtturm sowie an der kleinen auf der Halbinsel gelegenen St. Michaels-Kapelle vorüber. Agnes hielt sich dicht an der Seite ihres Freundes und klammerte sich, bleich vor Aufregung wegen der ungewohnten Lage, in der sie sich befand, fest an ihn, während ihr glanzloses Auge weit geöffnet war, als ob sie sich anstrenge etwas zu sehen. Peter betrachtete seine kleine Gefährtin mit einer Art von Rührung. Überhaupt waren seit etlicher Zeit seine Nerven so sehr aufgeregt, dass er bei jeder Gelegenheit die Neigung verspürte, sich auszuweinen. Da erhob Agnes ihr Silberstimmchen und sang einige Strophen des Fischerliedes:

„Keine Hilfe ist als beim Herrn,

Er ist unser Morgenstern.

Christ Kyrie, komm zu uns auf die See!“

Sie sang so leise, so schwermütig und die Wellen wispelten und murmelten so wundersam dazwischen, dass Peter von seinen Gefühlen völlig überwältigt wurde.

„Hör auf, Agnes!“, bat er in wehmütigem Ton. „Hör auf! Wir sind jetzt im offenen Meer, den Felsen von Langnas gegenüber. Sie sind sehr hoch und ganz von gelbem Moos und Meernelken überzogen. Gleich sind wir auch bei den Reusen.“

„Ich möchte heut nicht so bald heim, Peter“, flüsterte Agnes.

„Wir werden über drei Stunden auf dem Meer bleiben“, versicherte Peter, „denn drüben an der andern Seite des Hafens hat Kittig noch eine Reuse liegen. Ach! Agnes, könntest du doch die Felsen einmal sehen, sie sind so hoch!“

„Sind sie höher als Kittig oder als mein Vater, höher als ich reichen kann, wenn ich auf deiner Schulter sitze?“, fragte das Kind.

„Zehnmal höher, zwanzigmal höher“, versicherte der Knabe.

„Aber ich glaube, du verstehst das nicht“.

„Aber sage mir doch, Peter, warum es hier im Meer so still ist?“, sagte die Kleine, „Man hört hier ja gar kein Brausen“.

Peter stellte das Rudern ein. Man hörte freilich nichts als das leise Plätschern der Wellen am Boot. Die Sonne schien heiß und es war, als ob das Meer ruhe. Kein Seevogel, kein Fahrzeug zeigte sich weit und breit. Die beiden Kinder waren sozusagen allein in der weiten Welt zwischen Himmel und See. Die Augen des Knaben füllten sich wieder mit Tränen. In diesem Augenblick stieß das Boot gegen den Pfahl, an den die Reuse befestigt war.

„Wir sind am Platz“, rief Peter. „Nun, Agnes, sitz ganz ruhig, während ich die Reuse aufziehe. Fürchte dich nicht, wenn das Boot schwankt. Ja, wenn wir heute gute Beute machen, dann wird Kittig, wenn er heimkommt, ein freundliches Gesicht machen.“

Es kostete dem Knaben viel Mühe, die Reuse aus dem Wasser zu ziehen, doch gelang es ihm. Diese Reusen bestehen aus einem runden, aus Weiden geflochtenen Korb mit eigentümlich geformtem Hals, wodurch die durch einen Köder gelockten Fische hineinschlüpfen, aber den Weg nicht wieder herausfinden können. Wirklich waren diesmal vier große Fische darin.

„Agnes“, sagte Peter, „wir dürfen nun keine Minute verlieren. Jetzt rudere ich gleich hinüber zur Mündung des Baches, wo die andere Reuse liegt. Und dann müssen wir nach Hause, um die Ausbeute zum Markt zu tragen. Wirklich, es sind vier prächtige Kerle, gewiss bekommen wir für jeden sechs bis acht Penny. Das wird Kittig in gute Laune versetzen“.

Schnell wandte jetzt Peter seinen Kahn, um zur Mündung des Baches auf der entgegengesetzten Seite der Bucht zu gelangen. Anstatt aber wieder in den Hafen einzubiegen, wie das gewöhnlich geschah, schlug er, um Zeit zu gewinnen, einen kürzeren Weg ein, sah er doch die Spitze von Langnas deutlich vor sich. Er konnte sogar die vorspringende Klippe an der Mündung des Baches unterscheiden, und gerade dort lag die Reuse. So ruderte er kräftig vorwärts, indem er stets jenen Punkt im Auge behielt. Agnes summte wieder die Strophen ihres Liedes. Dieses Mal tat er ihr keinen Einhalt, denn er war zu erregt und zu sehr beschäftigt, als dass er darauf geachtet hätte.

Jetzt fuhr er am Hafen vorüber, jedoch schien es ihm, als wiche die Halbinsel immer weiter zurück. Er konnte zur Rechten den Damm sehen und dahinter das Dörfchen. Doch der kleinen Kapelle und dem alten Turm auf dem Felsen der Halbinsel konnte er nicht näher kommen. Endlich bemerkte er zu seinem Schrecken, dass das Boot langsam in die offene See hinaustrieb, und zwar nach der dem Hafen gegenüberliegenden Richtung hin. Unter den Felsen von Langnas brachen nämlich starke Strömungen hervor, die diesen Teil des Meeres in mehreren Richtungen durchzogen. Die Fischer hatten mit all ihrer Kraft die größte Mühe, den Strömungen entweder auszuweichen oder ihnen zu widerstehen. Plötzlich wurde es unserm Peter klar, dass er in eine solche Strömung geraten sei. Er machte die größten Anstrengungen, um den Kahn näher ans Land zu bringen, wo das Meer ruhig war, aber vergeblich. Ganz langsam und allmählich glitt der Kahn weiter hinaus und der Turm auf der Halbinsel trat immer mehr zurück. Peter erkannte endlich, dass jede Bemühung, den Hafen zu erreichen, nutzlos sei. Er stellte sich auf die Ruderbank und schaute um sich, da er in einiger Entfernung ein Fahrzeug zu erblicken glaubte. Sofort zog er seine Jacke aus, hing sie an die Ruderstange und schwang diese Notfahne in der Luft hin und her. Aber bald erkannte er, dass er einen Seeraben für einen Nachen gehalten hatte. Der Halbinsel war er zwar immer noch nah genug, um jeden Gegenstand dort erkennen zu können, so dass er noch die Hoffnung hegte, von dort aus Hilfe zu erhalten. Indessen trieben die beiden Kinder unaufhaltsam in die offene See hinaus.

„Peter!“, rief Agnes, durch das lange Schweigen des Knaben beängstigt, endlich aus, „kommen wir nicht bald an den Wasserfall?“

„Nein, Agnes“, sagte Peter zögernd. „Sag, Agnes, hast du heute morgen auch gebetet?“

„O gewiss“, sagte das Kind, sich an ihren Freund lehnend,

„ich kniete neben meinem Bett und betete. Denn weißt du, Gott weiß es stets, wenn man das Beten versäumt. Obwohl alle Engel vor ihm stehen und ihn loben und preisen, so hört er doch mein Gebet, wenn ich auch nur ein kleines, blindes Kind bin und wenige Worte sagen kann“.

„Hast du keine Furcht vor dem großen, allmächtigen Gott, Agnes?“, forschte Peter weiter.

„Nein, gar nicht“, war die Antwort, indem sie ihre Hände faltete. „Oft möchte ich so gern zu ihm gehen, denn der Kapitän hat mir gesagt, dass der Herr Jesus die Kinder sehr liebe. Ja, ich weiß, dass er mich sehr liebt, auch wenn ich arm und blind bin“. Tiefes Schweigen folgte. In großer Bewegung ergriff Peter die Hand seiner kleinen Freundin und diese lächelte zufrieden vor sich hin. Aus dem Standpunkt der Sonne schloss der Knabe, dass sie bereits drei Stunden auf dem Meer zugebracht hatten. Er dachte daran, dass Brigitta jedenfalls in diesem Augenblick das Abendessen bereitete und mit Ungeduld ihrer Rückkunft entgegenharrte. Unterdes schloss Agnes ihre Augen, weil die Seeluft sie erschöpft hatte, und Peter legte sie sanft auf den Boden des Kahnes nieder, indem er seine Jacke als Kissen unter ihren Kopf schob. Wieder und immer wieder stellte er sich aufrecht, um nach Hilfe Umschau zu halten, aber alles war umsonst, nirgends zeigte sich ein Fahrzeug. Peter sah voraus, dass die Strömung den Nachen gegen die Klippenreihe an der andern Seite der Insel Man treiben würde. Längst hatte er seine Ruder aus der Hand gelegt, denn er war völlig überzeugt, dass jede Anstrengung nutzlos sei. Der Abend rückte mit raschen Schritten heran und schon begann die Dämmerung. Wenn die Nacht einbrach, dann ach, es war ihm nur zu gewiss musste das Boot an die scharfen Riffe stoßen. Und dann war ihr Untergang in den schäumenden Wogen der starken Brandung unvermeidlich.

Der Schlaf unsrer Kleinen war nur kurz. Als sie erwachte, war ihre erste Frage, ob Peter noch nicht ans Land stoßen wolle. Doch dieser verbarg ihr noch immer die Gefahr, in der sie sich befanden, und beobachtete mit zunehmender Angst die immer mehr sich erweiternde Wasserfläche, die ihn vom sichern Hafen schied.

Noch immer hoffte er irgendein Fischerboot zu entdecken, aber es blieb still und leer ringsum. Die Sonne war ihrem Untergang nahe und ergoss den rosigen Schein ihrer scheidenden Strahlen über Land und Meer. Jetzt sank auch der Mut des armen Knaben gänzlich dahin und, die Hand seiner kleinen Leidensgefährtin ergreifend, sagte er:

„Agnes, armes Kind! Das Land liegt jetzt fern von uns. Bist du hungrig, dann sättige dich an der Brotkruste, die ich in meiner Tasche gefunden habe. Die Seeluft zehrt, und es ist schon lange her, seit wir Mittag gegessen haben“.

„Ist etwas Schlimmes geschehen?“, fragte die Kleine, in deren Herzen, geweckt durch den traurig klingenden Ton der Stimme des Knaben, bange Ahnungen aufstiegen.

„Stille vorher deinen Hunger, nachher will ich dir alles sagen“, erwiderte Peter, indem er sich an ihre Seite setzte und zusah, wie sie mit dem besten Appetit von der Welt an der harten Brotkruste nagte. Er selbst hatte Hunger, aber ein so kräftiger Junge wie er konnte besser eine Mahlzeit abschlagen, als das kleine, schwächliche Mädchen. Dann hüllte er das Kind in seine Jacke und band ihr, da sie nach dem heißen Tag in der Abendluft zu frösteln begann, die Ärmel über der Brust zusammen.

„Hast du keinen Hunger, Peter?“, fragte sie.

„O nein“, erwiderte er, „ich bin anders gewöhnt wie du, ich bin ein Fischerjunge. Agnes, wir sind auf offenem Meer“.

Und wieder tönte es leise über die Lippen des blinden Kindes:

„Keine Hilfe ist als beim Herrn,

Er ist unser Morgenstern.

Christ Kyrie! Komm zu uns auf die See!“

„Agnes!“, wiederholte Peter, und seine Stimme klang noch trauriger als vorher. „Wir sind wirklich auf offenem, weitem Meer und können nicht mehr heimkehren, denn die Strömung treibt uns den Klippen zu. Kittig hat mir oft gesagt, dass jedes Boot, das in diese Strömung gerate, unvermeidlich auf die Klippen geworfen und untergehen würde. Agnes, ach! Wir werden beide ertrinken!“

Das blinde Mädchen schauderte zusammen. Totenblässe bedeckte ihr Gesicht und, an allen Gliedern zitternd, schlang sie ihren kleinen Arm um den Hals ihres Freundes. Doch plötzlich lächelte sie wieder und mit freundlicher Miene richtete sie ihr glanzloses Auge auf ihn.

„O, dann kommen wir ja in den Himmel“, flüsterte sie. „Dort schlägt dich Kittig nicht mehr und ich kann dich sehen. Im Himmel bin ich nicht mehr blind, dort sehe ich alles, ja selbst den Herrn Jesus“.

„Ach nein, Agnes, mich siehst du nicht im Himmel“, wandte Peter seufzend ein. „Vielleicht wäre ich hingekommen, wenn ich vor der Heringsfischerei gestorben wäre, aber jetzt ist alles vorbei. Für Verräter und Feiglinge gibt es keinen Himmel“.

Die Kleine begriff zwar die sonderbaren Worte des unglücklichen Knaben nicht, aber seine Traurigkeit veränderte auch ihre Gemütsstimmung. Schluchzend setzte sie sich zu seinen Füßen und erfasste seine beiden Hände. Die Dämmerung machte jetzt immer tieferen Dunkelheit Platz. Die Klippen ragten in schwarzen, undeutlichen Umrissen aus den Fluten und kaum noch unterschied man die Vögel, die mit ihrem scharfen, misstönendem Geschrei zu hunderten über den Wellen kreißten. Der Kahn schien zuweilen fast stillzustehen und wiegte sich schwerfällig hin und her, wurde dann aber plötzlich wieder weitergetrieben. Mit Schaudern und Entsetzen blickte der unglückliche Knabe auf die nahen Felsenriffe, von woher man das Heulen der Brandung immer deutlicher vernehmen konnte.

„Wo sind wir, Peter?“, flüsterte Agnes.

„Ganz nahe am Riff“, war die Antwort. „Hörst du das Brausen der Brandung an den Klippen?“

Agnes schwieg. Die Möwen schrien immer lauter, als ob sie das Herannahen des Bootes nicht dulden wollten. Eine lange Pause folgte. Ein jedes der beiden Kinder schien seinen Gedanken nachzuhängen. Endlich fing die kleine Blinde wieder an:

„Peter, weißt du gewiss, dass du nicht in den Himmel kommst?“

„Ganz gewiss“, erwiderte er. „Ich habe geschworen, dass ich nicht mehr beten und an Gott denken wolle. Ach! Ich habe keinen Teil an Gott“.

„Fürchtest du dich?“, forschte die Kleine weiter.

„O, ich fürchte mich wohl“, sagte Peter leise. „Aber dennoch will ich lieber sterben, als bei Kittig sein, der mir keine Ruhe lassen wird, bis ich immer aufs Neue lüge und fluche“.

„Peter!“, flüsterte Agnes nach einer Pause. „Wenn du nicht in den Himmel kommst, dann möchte ich auch nicht hinein“.

„Still, still! Das darfst du nicht sagen“, unterbrach sie Peter.

„Der Herr Jesus ist im Himmel samt den heiligen Engeln und Mutter Brigitta wird auch hineinkommen. Bete lieber, Agnes! Knie nieder und bete auch für mich, Gott wird es hören.“

Das Kind kniete nieder. Anfangs konnte sie vor Weinen kein Wort hervorbringen. Allmählich aber wurde ihre Stimme fester und in schlichter Weise betete sie zu dem, der ein Helfer in der Not ist. Unterdes wurde das Gekrächz der um die Felsen flatternden Vögel immer lauter, die Dunkelheit nahm von Minute zu Minute zu und das hin- und hergetriebene Boot drehte sich öfters im Kreis herum. Peter war in tiefes Dahinbrüten versunken. Er gedachte des furchtbaren Augenblickes, in dem er vor Gott treten sollte, und wie ein dunkler Schatten stand sein gottloser Schwur, durch den er sich von Gott losgesagt hatte, vor seiner verzweifelnden Seele. Agnes saß auf dem Boden des Kahns und hielt die Knie ihres armen Freundes umschlungen, bis die Erschöpfung von neuem ihr Auge schloss. Peter würde, wenn sein Schwur es ihm gestattet hätte, darum gebetet haben, dass Agnes ohne Angst und Schmerz schlummernd in den Himmel eingehen möchte.

In diesem Augenblick hob der kleine Hund seinen Kopf empor und ließ ein lautes Bellen hören. Verspürte er vielleicht die Nähe eines Menschen? Schneller und schneller wurde das Boot vorwärts getrieben, und das Brausen der Wellen zeigte an, dass das schwache Fahrzeug in einen Wirbel geriet, der es jetzt auf die verderbenbringenden Klippen schleudern sollte. Vor dem Auge des unglücklichen Fischerknaben flammte es wie Blitze. Aber er vermochte nichts mehr zu unterscheiden, als eine schroffe Felsenwand, die in dunklen Umrissen jäh vor ihm emporstieg. Jetzt drehte sich der Nachen noch einmal im Kreis herum. Peter umfasste Agnes mit beiden Armen und während die Worte „Herr Jesus, erbarme Dich!“ über seine bebenden Lippen schlüpften, verspürte er einen heftigen Stoß. Er stürzte über Bord und die kalten Wellen schlugen über ihm zusammen.