Kapitel 8

Die Nacht wurde so finster wie sonst nie im Juni. Düstere Wolken bedeckten den Himmel und ein zunehmender Wind peitschte die Wellen immer höher und höher. Alles dieses deutete auf einen guten Fang. Peter schlief endlich vor großer Ermüdung ein, wie sehr er sich auch bemühte, den Schlaf zu verscheuchen. Erst bei der Morgendämmerung erwachte er und machte sich bereit, bei der Einsammlung der Heringe zu helfen. Nathans Boot war immer noch in der Nähe. Seine Netze hatten mit Kittigs Netzen fast in einer Linie gelegen und man gewahrte es, wie er mit seinen Kameraden beschäftigt war, die Beute einzuheimsen. Jetzt gab auch Kittig Befehl zum Aufziehen der Netze. Aber leider hatten sie sich nicht nur mit Schlamm und Seegras gefüllt, sondern zeigten auch hie und da große Löcher, die von Seehunden hineingebissen worden waren, während die Beute nur aus wenigen Heringen bestand. Es war ein armseliger Fang. Mit Neid blickte die Mannschaft auf das fröhliche, bewegliche Leben, das in Nathans Boot herrschte. Kittig achtete es kaum der Mühe wert, die geringe Beute zum Verkauf an die Küste zu schaffen und beschloss, sie den Leuten zu überlassen, die in kleinen Nachen bis an die Boote kamen, um dort für ihre Bedürfnisse einzuhandeln. Nathan Kelly zog dagegen alle Segel ein und fuhr zum Hafen zurück.

Der arme Peter hatte einen bösen Tag, denn die üble Laune Kittigs und Boltens hatte sich auch der übrigen Mannschaft mitgeteilt. Da man dazu noch dem Branntwein fleißig zusprach und sich durch Kartenspiel die Zeit zu vertreiben suchte, entstand bald ein entsetzlicher Streit unter ihnen, so dass man kaum daran dachte, die Netze vor der Nacht zu flicken. Der Tag war kalt und trübe und mit Anbruch der Nacht stürzte ein heftiger Regen vom Himmel herab, der die Mannschaft gänzlich durchnässte. Sie ließ fluchend über das garstige Wetter und über die Seehunde ihre Netze endlich wieder ins Meer hinab. Doch auch dieses Mal zeigte sich das Glück ebenso ungünstig wie in voriger Nacht, und der Geist der Unzufriedenheit und Streitsucht nahm mit jeder Stunde zu.

So ging es während der ganzen Woche mit geringer Ausnahme. In der Nacht zwischen Freitag und Samstag fing man kaum so viel Heringe, um für heute und morgen die eigenen Bedürfnisse stillen zu können. Dennoch segelte man der Küste zu, um dort den Sonntag zuzubringen und nächste Woche das Glück noch ein Mal zu versuchen. Für Peter war, alle Streitereien abgerechnet, diese seine erste Seereise nicht ohne Interesse gewesen. Er hatte mit großer Aufmerksamkeit die Heringszüge beobachtet und sich nicht wenig gefreut, diese silberglänzenden, in allen Farben schillernden Fische im Netz zu sehen. Wäre er nur bei Nathan gewesen, dem das Glück so außerordentlich geblüht hatte, dann würde ihm nichts zu wünschen übrig geblieben sein. Leider aber hatte Peter bei all dem Neuen und Wunderbaren, das er inmitten der gottlosen Mannschaft seines Fahrzeugs erlebte, sich wenig um das Wort Gottes bekümmert. Sein Herz war mit jedem Tag kälter geworden und zuletzt hätte er es um keinen Preis mehr gewagt, sein Neues Testament, das vom Regen und Seewasser durchnässt, in seiner Brusttasche steckte, herauszunehmen, um es in der Sonne zu trocknen. Freilich, wenn sein Blick auf das Boot seines Freundes Nathan fiel, dann wälzte sich eine ängstliche, vorwurfsvolle Erinnerung in sein Herz. Er versuchte dann zu beten, aber kein Wort kam in der Aufregung über seine Lippen.

Am Samstag um die Mittagszeit befand sich das kleine Fahrzeug am Eingang eines irischen Hafens, darin bereits mehrere Boote und darunter auch dasjenige von Nathan vor Anker lagen. Unter dem Vorwand die Hafensteuer nicht zahlen zu können, machte Kittig den Vorschlag, in einer kleinen, durch Felsen geschützten Bucht beizulegen, die im Fall eines Sturmes nicht weit vom Hafen lag. Wirklich führte man bei hoher Flut das Boot so nahe wie möglich dem Strand zu. In der nächsten Nacht schliefen alle fest und tief und längst schien die Sonne des folgenden Morgens auf Deck, bevor die Schläfer erwachten. Man fasste den Entschluss, den Sonntagnachmittag im nächsten Dorf zuzubringen. Unter lauten Flüchen und Scheltworten teilte Kittig mit seinen Gefährten das wenige Geld, das man in der Woche gelöst hatte. Am Nachmittag vernahm man einen lauten Ruf. Es war die Stimme Nathans, der in einem kleinen Nachen vom Hafen hergefahren kam.

„Kameraden!“, sagte er in freundlichem Ton. „Es ist sehr langweilig, so einen ganzen Tag still liegen zu müssen. Darum hat mir der Kapitän Seefort etliche Bücher für die Leute aus Derby-Hafen mitgegeben. Hier, Peter, strecke deine Hand herunter!“

Peter beugte seinen Vorderkörper über den Rand des Schiffes hinab, um die Bücher in Empfang zu nehmen. Aber ein von Kittig ausgeführter Schlag mit dem Tauende ließ ihn schnell mit einem Schrei den Arm zurückziehen.

„Ich bin noch da, Bursche“, schrie der Wüterich. „Und du, Nathan, pack dich. Ich wollte, du sänkest mit deinen Büchern ins Meer“.

„Still, still!“, mahnte Bolten, mit einer fromm scheinenden Miene an den Schiffsrand tretend. „Kittig ärgert sich über dein Glück beim Heringsfang. Gib mir die Bücher. Die Zeit wird mir schrecklich lang. Herzliche Grüße an den Kapitän und sage ihm, ich hätte seine Schriften mit großem Segen gelesen“.

„Aber wie kannst du Segen darin gefunden haben, bevor du sie gelesen hast?“, bemerkte Nathan ernst. „Übrigens hätte ich gern die Hafensteuer für euch bezahlt, wenn ihr nur gekommen wäret. Aber wenn heute Abend ein starker Wind sich erhebt, dann haltet euch hier nicht an dieser Stelle, sondern legt lieber weiter in der See bei, das heißt, wenn ihr nicht in den Hafen kommen wollt, wo ich gern die Steuer für euch bezahlen will“.

„Eher wollte ich das alte Boot in den Grund bohren“, brummte Kittig.

Kopfschüttelnd ruderte Nathan fort, verfolgt von den Blicken Peters, bis der Nachen hinter einer Landzunge verschwand. Als sich dann der Knabe niedergeschlagen wieder zu seinen Gefährten wandte, sah er, wie Bolten, die Bücher des Kapitäns in der Hand, sich auf eine Tonne stellte und mit den hässlichsten Grimassen ein geistliches Lied zu singen begann – zu großem Vergnügen der übrigen Gefährten. Dann ahmte er beim Lesen der Bibel die Stimme des Kapitäns in solch komischer Weise nach, dass alle Umstehenden in ein lautes Gelächter ausbrachen.

„Hallo, kleiner Frommer!“, rief Bolten dem Knaben zu. „Hat‘s der Kapitän vor acht Tagen nicht gerade so gemacht? Komm, sage mir, was für ein Kapitel er damals gelesen hat, dann will ich dir eine Predigt darüber halten. Ich versteh das ebenso gut wie der Kapitän“. Kittig, der auf dem Deck ausgestreckt lag, richtete den Kopf in die Höhe und schleuderte wütende Blicke auf den armen Knaben. Aufs heftigste erschrocken, rief dieser wie in Verzweiflung: „Nein, nein, ich war nicht beim Kapitän. Ich möchte auch gar nicht hingehen“.

„Doch, du bist da gewesen“, rief Bolten voller Schadenfreude. „Du hast neben dem Kapitän gestanden und mit ihm in sein Buch gesehen und mitgesungen. Komm, wir wollen es ihm nachmachen. Ich bin der Kapitän und du bist Peter“. Mit diesen Worten sprang er von der Tonne herunter und fasste den Knaben beim Ärmel. Dann hielt er ihm das aufgeschlagene Buch vor und fuhr in der begonnenen Weise fort, in der widerlichsten Tönen das Lied bis zu Ende zu singen. Endlich ließ er den sich sträubenden Knaben so plötzlich los, dass er bis in die Nähe Kittigs taumelte, der ihn mit einem Fußtritt empfing.

„Erinnerst du dich, Bube“, brüllte dieser in höchster Aufregung, „dass ich vor etwa acht Tagen auf dem Damm drohte, dich halbtot prügeln zu wollen? Damals hast du deinen steifen Nacken nicht gebeugt. Wenn du dich aber heute meinem Willen nicht unterwirfst, dann hast du Derby-Hafen zum letzten Mal gesehen, denn es sind schon viele solcher Jungen beim Heringsfang umgekommen.

Das Herz des Knaben hörte plötzlich auf zu schlagen, als er dem Wüterich ins Auge sah. Er hielt den bösen Mann für völlig fähig, aus der ausgesprochenen Drohung Ernst zu machen. Konnte er bei seiner Rückkehr nach Derby-Hafen nicht einem jeden Glauben machen, der Knabe sei zufällig ertrunken? War es doch dem armen Peter, als streckten die das Boot umspülenden grünen Wogen ihm bereits ihre nassen Arme entgegen, um ihn in ihre Tiefe hinabzuziehen. Fast der Verzweiflung nahe, starrte er seinen Peiniger an, als er ein vom Meerwasser benetztes Buch aus der Tasche zog, darin Peter sein bisher so vernachlässigtes Testament erkannte. „Das Buch habe ich, während du schliefst, aus der Tasche gezogen“, fuhr jener düster fort. „Und jetzt schwörst du mir auf den Knien, dass du nimmer wieder darin lesen und nie wieder mit Nathan Kelly oder dem Kapitän ein Wort über solche Dinge wechseln, ja, dass du dich nicht mehr um Gott und um Hölle und Himmel kümmern willst. Wo ich einmal hinkomme, da ist es für dich, Schlingel, lange gut genug!“

Kalte Schweißtropfen perlten von der Stirn des Knaben herab. Wie hilfesuchend blickte er um sich. Aber da die fremden Matrosen sich etwas entfernt hatten und in träger Ruhe auf die Meeresfluten starrten, so begegnete sein Auge nur den schadenfrohen Blicken Boltens, der dem Schauspiel mit großem Interesse zusah. Sonst war nichts zu sehen, als der bewölkte Himmel, die grünen Wellen und die einsame Landzunge. Er war daher völlig hilflos in der Gewalt eines grausamen Tyrannen. Er wollte sprechen, aber seine Lippen schienen krampfhaft geschlossen zu sein. Entweder musste er nachgeben oder sterben. Einen Ausweg gab es nicht. Kittig gab ihm das Neue Testament in die Hand und über die Lippen des gottlosen Mannes rollten die Worten eines schauderhaften Schwurs, den Peter wiederholen sollte. Ach! Da schwand der letzte Rest seiner Kraft, er gab der Versuchung nach und – fiel. Halb betäubt und wie von Sinnen wiederholte er den Schwur, wodurch er sich von Gott lossagte und das Gelübde ablegte, nie wieder an den Heiland denken zu wollen. Was anderes war das als eine feierliche Übergabe an den Teufel?

Die entsetzliche Handlung war beendet. Peter schlich in den unteren Raum des Schiffes und setzte sich, das Gesicht in beide Hände gedrückt, auf die umherliegenden Netze nieder. Seine Augen brannten fiebrig, aber der Tränenquell schien für immer versiegt. Noch umschloss seine Hand das kleine Buch, in dem er früher so gern las. Aber sein Auge starrte nur auf die Außenseite, denn der Schwur hatte für ihn den kostbaren Inhalt versiegelt. Endlich weckte ihn die Stimme Kittigs aus seinem dumpfen Dahinbrühten. Er gab ihm den Befehl, den kleinen Nachen, den man an Bord hatte, zum Hafen rudern zu helfen. Mechanisch verrichtete der Knabe seine Arbeit, kein Wort kam über seine Lippen.

An dem Landungsplatz eines kleinen Fischerdorfes stiegen Kittig und sein Pflegesohn ans Land. Ersterer ging in ein Wirtshaus und überließ es dem Knaben, eine Stunde nach Belieben zuzubringen. Peter schlenderte langsam durch das Dorf. Es war ihm, als wollte sein Herz zerspringen. Die trostlosesten Gedanken durchkreuzten sein Gehirn. Plötzlich machte er vor dem letzten Haus des Dorfes halt. Er glaubte darin eine ihm wohlbekannte Stimme zu hören. Und so war es in der Tat. Es war die Stimme seines Freundes Nathan, der drinnen laut und deutlich einen Bibelabschnitt vorlas. Anfangs weckte der Ton dieser Stimme in seinem Herzen ein Gefühl des tiefsten Wehes. Er gedachte, sich schnell und ungesehen zu entfernen. Doch plötzlich kam in ihm ein Entschluss zur Reife. Er kehrte mit eilenden Schritten in die Nähe des Wirtshauses zurück. Als er durchs Fenster sah, dass Kittig noch ruhig beim Glas Grog saß, schlich er sich leise in das Hinterstübchen und kaufte sich bei der Wirtsfrau einen Bogen Papier, womit er sorgfältig sein Neues Testament umwickelte. Dann bat er den Sohn der Wirtin, der etliche Jahre älter war als er selbst, ihm auf das Paket die Worte zu schreiben: Für Nathan Kelly aus Derby-Hafen von Peter Kittig. Jetzt schritt der Knabe wieder jener Hütte zu, darin er Nathans Stimme gehört hatte. Mit einem schmerzlichen Gefühl, als ob er das letzte Seil, das bisher seinen Anker gehalten, mit einem Mal durchschneide, legte er sein Buch auf die Türschwelle und kehrte dann langsam und traurig an das Ufer zurück, um auf den Stiefvater zu warten.