Die ersten Gefechte

Es kam Befehl, dass unser Bataillon zur Unterstützung eines anderen an der Front eingesetzt werden sollte. Nun ging’s an den Feind! Immer näher erdröhnte der Donner der Geschütze,  doch vorwärts musste es gehen, den sicheren Tod vor Augen! Welche Gefühle durchzogen meine Seele, wenn ich daran dachte, dass wir nun wirklich auf Menschen schießen sollten! Auf Menschen, die wir nicht kannten, die, gleich wie wir, ein Herz voll Heimweh und Liebe in der Brust hatten. Auf Menschen, um die daheim eine Mutter bangte, um die Frau und Kindlein weinten. Es war mir klar, Gott kann auch unter den Feinden diejenigen bewahren, die er will, und kann solche aus den gefährlichsten Lagen herausbringen, mit denen er noch etwas vorhat, sei es die Erlösung von Sünden oder gewisse Aufgaben, die er von ihm noch erfüllt haben will. Er ist ein wunderbarer Gott, der wie das Ganze überwacht, so auch das Leben des einzelnen. Mein Herz war frei von jeglichem Hass persönlicher oder auch politischer Art. Und so war es mein Gebet, dass Gott alles zu seinem Besten lenken wolle.

Mein erstes Gefecht entwickelte sich durch den Befehl: „Der vorliegende Berg ist sofort vom Feinde zu säubern!“ Wir waren soeben beim Kochen des Mittagessens, als der Befehl eintraf. Da gab es kein Warten! Die Kochgeschirre mussten ausgeschüttet werden und vorwärts ging’s, feldmarschmäßig gerüstet, gegen den Feind. Ich werde es nie vergessen, wie uns beim Vormarsch ein Bayer mit durchschossenem Unterkiefer kampfunfähig entgegenkam. Weinend rief er uns zu, wir sollten da nicht hinaufgehen, die da oben wären wie die Teufel. Aber der Soldat kennt nur ein „Muss“ und koste es ihm sein Leben! Mancher wackere Kamerad kam nicht mehr wieder und mein Nebenmann geriet in französische Gefangenschaft. Nach drei Jahren, als er entlassen war, traf ich ihn wieder, und er konnte von vielen Leiden erzählen, die ihm als Kriegsgefangener zugefügt worden waren.

In diesem meinem ersten Gefecht hielt Gott seine schützende Hand über mir, so dass ich glücklich zurückkehren konnte. Mein zweites Gefecht war viel schwieriger und leicht hätte auch ich mein Leben einbüßen können, wenn nicht Gott in wunderbarer Weise mich bewahrt hätte. Müde vom langen Marsch und hungrig kamen wir in ein Dorf. Noch heute steht es mir vor Augen, wie die Soldaten einen Bäcker, der Brot verteilte, bestürmten, um nur ein Stückchen Brot zu erhaschen! Bald kam der Befehl, wir müssen zur Unterstützung vorrücken, um den Feind, der sich im nächsten Dorf und dem davorliegenden Weinberg festgesetzt hatte, zurückzuschlagen! Wir schwärmten in einem hohen Kleeacker in Schützenlinie aus. Der Regen goss in Strömen auf uns hernieder, bald waren wir bis auf die Haut durchnässt. Befehl kam: „Nieder!“ und dann ging’s mit Hurra in den Weinberg hinein, wo der Feind in Deckung lag. Heftiges Infanteriefeuer empfing uns von den verschiedensten Seiten und verfehlte seine furchtbare Wirkung nicht! Mancher braver Landwehrmann färbte mit warmem Blut den fremden Boden. Links und rechts von mir schrieen manche getroffen auf, andere sanken lautlos zusammen, wenn ein Kopfschuss sie für immer verstummen ließ.

Es war eine furchtbare Situation! Ich flehte zum Herrn um Errettung aus dieser Lage. Da sprang plötzlich ein Kamerad in meiner Nähe auf und rief um Hilfe – er war getroffen. Ich eilte herbei, ergriff ihn unter dem Arm und führte ihn zurück. Fast konnte er nicht gehen, der Atem ging ihm aus und nach wenigen Schritten brach er zusammen. Ein anderer kam uns zu Hilfe, wir untersuchten seine Verwundung und entdeckten ein kleines Loch im Hosenträger und in der Brust, also Lungenschuss. Mit viel Mühe und unter heftigem Gewehrfeuer brachten wir den Verletzten zu unserem Ausgangspunkt in eine Wohnung, wo schon ein Arzt mit Verbinden beschäftigt war. Ich glaubte nun, auch der Gefahr glücklich entronnen zu sein. Aber kaum sah uns ein höherer Offizier, als er uns anschrie: „Wollt ihr machen, dass ihr fortgeht, euren Kameraden zu helfen! Kein Mann ist entbehrlich, vorwärts oder ich schieße euch nieder!“ Wir übergaben den Verwundeten dem Arzt und befolgten den Befehl. Nach etwa zweieinhalb Jahren erfuhren wir, dass dieser Kamerad völlig hergestellt wurde und uns dankte für seine Rettung.

Zurück ging’s wieder ins mörderische Gefecht! Halb laufend, halb kriechend gelangten wir unter heftigem Geschützfeuer zu unserer Schützenlinie. Die Erde war aufgewühlt von den einschlagenden Granaten. Jedes Loch, jeden kleinen Erdwall benutzten die Kameraden als Deckung. Mit angstverzerrten Gesichtern drückten sie sich an die Erde, ein Vorwärtskommen schien unmöglich. Da sprengte zu Pferde der Offizier heran und mit erhobenem Revolver schrie er mit lauter Stimme seine Befehle. Weiter musste es gehen! Auch ich warf mich auf die Erde und kroch auf dem Bauch vorwärts, den um mich sausenden Kugeln so wenig wie möglich Ziel bietend. Entsetzliche Bilder sah ich. Wie hingemäht lagen Tote und jammernde Verwundete in ihrem Blut, niemand konnte ihnen helfen. Weiter musste es gehen, vorwärts! Die zertretenen Trauben, mit denen sich warmes Menschenblut mischte, gaben einen widerlichen Geruch. Noch lange Zeit danach hatte ich einen Ekel vor Trauben.

Immer näher kamen wir an die feindlichen Stellungen, immer heftiger wurde das Feuer. Ein Haus am Eingang des Dorfes war vom Feinde besetzt. Wir sollten es stürmen. Vier Kameraden rammten mit einem Baumstamm die verschlossene Tür. Unser Kompanieführer stand mit schussbereitem Revolver dabei, den Angriff erwartend – doch von einer Kugel getroffen, sank er zu Boden. Weiter ging’s. Ich kam rechts ab und geriet unter die Bayern, die als wilde Draufgänger bekannt waren. Aber es gab kein Zurück mehr! Vor uns lag schon, zirka 60 Meter entfernt, der besetzte feindliche Schützengraben. Ich machte noch einen kurzen Sprung und drängte mich mit anderen in einen natürlichen, etwa 40 Zentimeter tiefen Graben. In demselben Augenblick schrie mein Nebenmann auf wie ein verwundetes Tier und entsetzt sah ich, wie aus seinem Ärmel stoßweise das Blut hervorschoss. Helfen konnte ich ihm nicht, der Feind schoss unaufhörlich und andere drängten sich zwischen uns in das Blut, so dass ich gezwungen war weiterzukriechen. Hier hielt der Tod reiche Ernte. Manche Mutter, manche Frau mag daheim um den Sohn und Gatten gesorgt haben, während er zur selben Stunde im nassen Gras hilflos verblutete, im letzten Gedanken noch seine Lieben grüßend!

Doch solchen Gefühlen konnten wir in diesen Augenblicken nicht Raum geben. Nur ein Gedanke – wenn es überhaupt noch ein Gedanke war – beherrschte uns: Vorwärts! Ohne Deckung stürzte ich weiter und wieder auf die Erde, den Kopf fest an den Boden gedrückt. Sprungweise gelang es uns, bis nahe an den Feind heranzukommen. Schon sah man Gewehrläufe und hin und her Köpfe aus dem Schützengraben hervorlugen. Der sichere Tod stand mir vor Augen. Ein schwaches Stammeln entrang sich meinen Lippen: „Herr hilf mir! Ich bin verloren!“ Minuten verharrten wir in dieser Lage, sie wurden zu Stunden. Rechts und links von mir sausten die Kugeln. Aufschreie der Getroffenen drangen mir durchs Herz. In jedem Augenblick erwartete ich die mir bestimmte Kugel. Im Geiste nahm ich Abschied von meinen Lieben, segnete Frau und Kinder und befahl mich der Gnade des Herrn.

Da geschah das Unglaubliche. Etwa 30 Meter rechts von mir schrie ein Kamerad mir durchdringender Stimme: „Die Zuaven!“ (französische Elitetruppe (Anm. d. Red.)) Wie elektrisiert sprang die ganze Schützenlinie auf und, anstatt vorwärts auf den Feind, machte alles kehrt und raste in vollem Lauf zurück. Nun hatte der Feind sicheres Ziel. Einer um den anderen sank, durch wohlgezielte Schüsse getroffen, lautlos zu Boden. Ich schrie laut auf: „Im Namen des Herrn geh ich zurück!“, und lief mit den anderen. Wie Hagel sausten die Kugeln um mich; aber wunderbar – keine durfte mich treffen! Gott hatte seinen Engeln befohlen, die mich schützten.

Plötzlich sah ich mich allein und bemerkte, dass ich zu weit nach rechts abgekommen war und dem Feind direkt entgegenlief. Keiner meiner Kameraden war zu sehen, die Feinde schossen wie wild auf mich. Da gelangte ich wieder in den Weinberg, der mir ein wenig Schutz bot. Wie ein gehetztes Wild floh ich über zerschossenes Gelände, stürzte in Granattrichter, blieb in Drahtverhauen hängen bis meine Kraft erschöpft war. Keuchend sank ich zu Boden, mein Herz schlug zum Zerspringen, die Zunge hing mir trocken aus dem Hals. So lag ich und konnte nur noch zu Gott um Hilfe flehen. Schuss um Schuss schlug neben mir ein, bis die Dämmerung anbrach und es still wurde. Da ging ich langsam unserem Ausgangspunkt zu. Dort traf ich noch 13 verjagte Kameraden und wir schlossen uns den Bayern an, die gerade abzogen. Das Gefecht war vorüber. Am dunklen Abendhimmel leuchtete der Feuerschein der brennenden Häuser wie die blutige Fackel dieses furchtbaren Krieges. Nach drei Tagen fand ich meine Kompanie wieder, aber manch tapferen Kameraden fand ich nicht mehr.

Diese wunderbaren Erlebnisse des offensichtlichen Schutzes Gottes legten einen großen Ernst auf meine Seele. Ich wollte in einem heiligen und Gott wohlgefälligen Wandel jederzeit bereit sein, meinem Gott zu begegnen, wenn es ihm gefällt. Mein Herz war voll dankbaren Vertrauens zu Ihm erfüllt, Tag und Nacht pflegte ich innigen Umgang im Gebet mit dem Herrn und war dadurch gegen die listigen Anläufe des Teufels allezeit gewappnet.

Versuchungen der verschiedensten Art gab es wahrlich genug in diesem wilden Kriegsleben, aber – gelobt sei Gott! – ich konnte den Sieg in meiner Seele behaupten. Obwohl ich in allen Dingen dasselbe erdulden musste wie meine Kameraden, kam doch nie ein Wort der Klage oder des Murrens über meine Lippen – im Gegenteil, ich konnte immer zufrieden sein und dem Herrn noch danken. Oft gab es harte Geduldsproben zu bestehen. Da waren wir z. B. nach langem, anstrengendem Tagesmarsch soeben in das Quartier gekommen, als es „Antreten!“ hieß. Wir wurden vor das Dorf geführt und mussten bei strömendem Regen so lange in Reihe und Glied stehen, bis wir bis auf die Haut durchnässt waren. Das Wasser füllte unsere Stiefel, so dass wir sie öfter entleeren mussten. War’s ein Wunder, wenn die Kameraden in gröbster Weise fluchten und schimpften? Endlich hieß es: „Ohne Tritt Marsch!“, und weiter ging’s, müde und durchnässt im kalten Herbssturm durch die Nacht, bis wir endlich in einer Scheune auf etwas Stroh ruhen durften. Solche Gelegenheiten gab es am Anfang des Krieges sehr oft. Durch die fortwährenden Märsche waren die Soldaten so müde, dass sie oft beim Stehen oder Gehen in der Marschkolonne schliefen.