Hinaus

„Ein furchtbar wütend Schrecknis ist der Krieg“, sagt der Dichter mit Recht. Die wenigsten Menschen ahnten es vor dem Weltkrieg, wieviel Schrecken, Grauen, Zerstörung und Unheil ein Krieg mit sich bringt. Schrecklich können die entfesselten Elemente der Natur wirken, aber schrecklicher ist es noch, wenn Menschen in entfesselter Leidenschaft sich die Kräfte der Chemie und der Technik dienstbar machen, um sie zur grausamen Vernichtung ihrer Mitmenschen zu benutzen. Der einzelne Mensch, der Soldat, ist dann nur noch eine Nummer in der großen Zahl, ein willenloses Werkzeug des höheren Kommandos. Blinden Gehorsam, Nichtachtung der eigenen Person, Aufbietung aller Kräfte und Treue bis zum Tod fordert der Fahneneid von dem Soldaten. So erhebend ein diszipliniertes Heer im Frieden aussieht, so furchtbar wirkt sich dieses eiserne „Muss“ im Kriege aus.

Als in jenen unheilvollen Sommertagen des Juli und August 1914 die Kunde erscholl, dass die europäischen Großmächte sich in einen Krieg verwickelten, galt es auch für mich, obwohl in der Schweiz ansässig, meinem Fahneneid die gelobte Treue zu halten. Furchtbar war mir diese Kunde – riss sie mich doch aus friedlichem, glücklichem Familienleben mitten auf den Schauplatz unerhörten Geschehens und grausamster Erlebnisse! Noch ahnte ich nicht die Tragweite des Begriffes „Krieg“, aber als etwas Schreckliches stand das Kommende vor meiner Seele – ein Spiel zwischen Leben und Tod! Doch ein fester Anker blieb mir im Sturm meiner Gefühle – die Zuflucht zu dem großen, heiligen Gott, der auch mein Gott geworden war. In heißem Ringen suchte ich sein Angesicht, bis jeder Zwiespalt in meinem Inneren sich löste und tiefer Friede meine Seele erfüllte. Wie dankbar fühlte ich gegenüber Gott, dass er mich noch zur angenehmen Zeit errettet und mir geholfen hatte am Tag des Heils. Nun wusste ich eine Zuflucht in böser Zeit und eine Hilfe in der Not. Es war mein Entschluss, meine Pflicht als Soldat zu erfüllen, aber dennoch Gott mehr zu gehorchen, als den Menschen (Lk. 3,14).

Wenige Stunden nach der Kriegserklärung musste ich mich meinem Truppenteil stellen, und so nahte nur zu schnell der bittere Abschied von meinen Lieben! Welche Gefühle durchzogen meine Brust – wusste ich doch nicht, ob es je ein Wiedersehen geben wird, ob ich die, die mir die Teuersten auf Erden waren, noch einmal in meine Arme schließen werde! Immer wieder knieten wir weinend und betend nieder, Gott um seinen Beistand für mich und für die Lieben, die ich allein zurückließ, zu bitten. Immer wieder hielt meine teure Frau meinen Hals umschlungen und wollte sich nicht trösten lassen! Herzzerbrechend waren die Bitten der lieben Kleinen: „Papa, bleib bei uns, geh nicht fort!“ Es kostete wahrlich einen eisernen Willen, mich von den geliebten Banden loszureißen und den schweren Weg zu gehen. Allein ging ich zur Bahnstation – wollte ich doch nicht noch einmal den Schmerz des Abschieds durchkosten. Allein, aber Gott ging mit mir! In meiner Seele stand die Gewissheit: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen“, und das machte mich stark und stille. Solange ich noch irgend zurückschauen konnte, winkten mir die weißen Tüchlein meiner Lieben nach, bis die letzte Wegbiegung sie meinen Blicken verbarg. Werde ich sie je wiedersehen auf Erden? Fast wollte mich der Trennungsschmerz übermannen, aber ich schaute auf zu dem Herrn und legte mich ganz in seine starke Hand.

Nach kurzer Bahnfahrt erreichte ich die Garnison, die meine Einberufung mir anwies, und war auch bald als Infanterist (Soldat, der zu Fuß mit der Waffe in der Hand kämpft (Anm. d. Red.)) bei einem württembergischen Landwehr-Regiment eingekleidet. Unser Bataillon musste als erstes per Bahn an die Front fahren. Bevor wir ausrückten, bat ich einen mir unbekannten Kameraden, mit mir zum Gebet niederzuknien, was er auch zögernd tat. Er kam heil aus dem Kriege zurück. Seine Frau wurde mit meiner Frau bekannt, fand Erlösung und Frieden im Herrn und ist heute schon in der Ewigkeit.

Als wir an der Front anlangten, begannen bald tüchtige Märsche, denn wir wurden „das fliegende Bataillon“ genannt und wurden überall zur Unterstützung anderer Truppenteile herangezogen. Diese anhaltenden Eilmärsche in der Sommerhitze wurden für mich zu einer besonderen Qual. Schon seit meiner militärischen Dienstzeit im Frieden litt ich an heftigem Fußschweiß, so dass bei größeren Märschen meine Füße so brannten, als ob ich auf Nadelspitzen trete. Wollte man dies Übel vertreiben, dann setzte man sich der Gefahr aus, dass ein anderer Körperteil dadurch leidet. Meine Schmerzen wurden geradezu unerträglich. Tage- und nächtelang dauerten die Märsche, immer noch hieß es: „Vorwärts! Vorwärts!“ In meiner größten Not fing ich an zu Gott im Gebet zu rufen, wusste ich doch aus Erfahrung, dass er der rechte Arzt in jeder Krankheit ist. Da fing ich an, ernstlicher zu beten und mit Gott zu ringen! Ich durchprüfte mein Herz und mein Gewissen, und weil mich nichts vor Gott verklagte, konnte ich, gestützt auf die Verheißungen, im vollen Glauben vor den Gnadenthron kommen. Ich rang mit Gott, bis die Antwort kam wie eine Stimme vom Himmel: „Es wird besser werden!“ Und wunderbar, in demselben Augenblick wurde es besser. Bald verspürte ich keine Schmerzen und konnte genau so marschieren wie meine Kameraden. Es lässt sich nicht beschreiben, welch ein Gefühl der Freude und des Glückes meine Seele überströmte! Wusste ich doch nun, dass Gott mich nicht verlassen noch versäumt hatte. Er war bei mir, er hatte mir geholfen! Gelobet sei sein Name! Dies Erlebnis erfüllte mein Herz mit neuem Mut und einem unbedingten Vertrauen, so dass ich trotz allem Schweren, das mir bevorstand, ganz getrost sein konnte.