Weg hat er allerwegen!

Meine mir zugeteilte Schlafstelle war an sich mir recht und gut, nur meine Wirtsleute waren sehr gehässig zu mir. Ich hatte auch ihnen von Jesus, dem Sünderheiland, erzählt und war ihnen in jeder Hinsicht zuvorkommend. Trotzdem hassten sie mich ohne Ursache, legten mir allerlei in den Weg und verdächtigten mich in falscher Weise. Ich klagte Jesus mein Leid, wollte aber die Wohnung nicht selbst aufgeben, weil ich sie aus Gottes Hand genommen hatte. Eines Tages teilte man mir mit, dass ich die Wohnung sofort räumen sollte. Ich bat die Frau, mich solange wohnen zu lassen, bis ich eine andere gefunden hätte. Ein schroffes „Nein!“ war die Antwort.

Nun tat ich alles, um eine andere Schlafstelle zu finden. Aber es war vergebens. Ich musste wieder Gottes Hilfe in Anspruch nehmen und bat ihn ernstlich um ein anderes Plätzchen. Keine Antwort kam. Noch immer hatte ich nichts gefunden und am nächsten Tag musste ich die Wohnung räumen. Es war noch Winter und wo sollte ich in der Kälte bleiben? In meinem dunklen Stübchen lag ich am Boden und rief ernstlich zu Gott: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Da plötzlich vernahm ich eine Stimme: „Gehe aufs Wohnungsamt!“ Ich glaubte, es wäre eine Täuschung und betete weiter. Da hörte ich nochmals dieselben Worte. Ich sprang rasch auf und eilte dorthin. Der Beamte sagte mir sogleich: „Es ist alles besetzt und kein Platz frei!“ Ich erwiderte ihm, es müsste schon irgendwo ein Platz für mich sein. Und richtig, er schaute nochmals nach und sagte: „Ja, es ist aber im nächsten Dorf, da ist noch ein Platz in einem Zimmer mit zwei anderen.“ Ich ging noch in derselben Nacht dorthin, dankte Gott für seine wunderbare Leitung und war zufrieden.

Allerdings hatte ich um ein Zimmer für mich allein und mit Heizgelegenheit gebeten, doch glaubte ich, dass Gott alles wohl macht. Die Hausfrau war sehr freundlich und als sie merkte, dass ich gern ein Zimmer allein haben wollte, bot sie mir ein anderes an, ohne dass ich ihr etwas davon gesagt hatte. Sie zeigte mir ein kleines Zimmer mit einem Ofen darin. Freudig bezog ich es und pries Gott, der meinen Wunsch so wunderbar erfüllt hatte – „Habe deine Lust am Herrn; der wird dir geben, was dein Herz wünschet“ (Ps. 37,4). Herrliche Segenszeiten durfte ich in diesem Stübchen verleben, konnte ungestört im Gebet vor meinem Gott verweilen und seine heilige Nähe verspüren.

Wie Gott auch meine kleinsten Wünsche kannte, zeigt folgendes Beispiel: Meine Gastgeber waren sehr freundlich zu mir und gaben mir manches an Lebensmitteln, was sie übrig hatten. Sie besaßen einige Ziegen, von deren Milch sie mir auch gaben. Ich konnte sie leider nicht trinken, weil sie mir von Jugend auf widerstand. Ich sagte es aber nicht den Leuten, um sie nicht zu kränken, da sie es so gut mit mir meinten. Wie erstaunte ich aber, als eines Morgens eine schöne Kuh im Stall stand. Und noch mehr staunte ich, als die guten Leute mir jeden Tag Kuhmilch anboten. Wie wunderbar ist unser Gott, wie sehr liebt er seine Kinder und sorgt für ihre kleinsten Bedürfnisse! Als ich nach Friedensschluss wieder daheim war, schrieb mir diese Frau, dass sie die Kuh wieder verkauft haben und doch lieber Ziegen halten wollen. Ich sah nun klar, dass Gott das Herz dieser Menschen so gelenkt hatte, dass ich nicht Ziegen-, sondern Kuhmilch zu trinken bekam.

Als ich vom Frontdienst abgelöst wurde, teilte ich das den Lieben mit, die mich so lange mit Liebesgaben versorgten, und bat, dass sie, wenn möglich, andere Soldaten damit erfreuen möchten. Für mich war ja, wenn es auch noch schmal zuging, die schwerste Zeit vorüber. Meinen guten Wirtsleuten war ich auch in jeder Weise behilflich, wo ich es nur konnte, und wir kamen gut miteinander aus. Ihre Kinder unterrichtete ich und konnte ihnen viel von Jesus, dem Kinderfreund, erzählen. Ich hoffe, dass diese ausgestreute Saat noch Ewigkeitsfrüchte tragen wird.

Auch sonst tat ich mein Möglichstes für den Herrn: sprach mit den Leuten über ihr Seelenheil und verteilte viel Traktate, wo immer es eine Gelegenheit gab. Bald war meine Tätigkeit bekannt und fing an, Widerspruch zu erregen. Ja ich wurde sogar durch einen Zeitungsartikel gewarnt, dies zu tun, damit man nicht „andere Maßregeln“ ergreife, wie man drohte. Das hinderte mich aber nicht, dennoch meinen Heiland zu bekennen und davon zu erzählen, was er für mich getan hat.

An meinem Arbeitsplatz hörte man auch nichts anderes als fluchen und schimpfen und manches musste ich auch über mich ergehen lassen. Ich konnte aber allen Anfeindungen mit Liebe begegnen. Wenn diese Leute eine Ahnung von den Erlebnissen an der Front gehabt hätten, wären sie gewiss zufriedener an ihrem Platz gewesen. Zu meinem Erstaunen hörte ich, dass in dieser Werkstätte bis vor Kurzem, ehe ich eintrat, Munition hergestellt worden sei. So hatte Gott auch in dieser Hinsicht mein Gebet erhört und mir einen Platz gegeben, wo keine Munition hergestellt wurde. Wenn ich alle diese wunderbaren Führungen Gottes betrachte, erscheint es mit unfassbar, dass der große, allmächtige Gott im Himmel sich so um einen einzelnen, geringen Menschen bemüht und seine Wünsche erfüllt. Mit dem Psalmisten muss ich ausrufen: „Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen“ (Ps. 139,6).

Unter mancherlei Erlebnissen verging hier wieder ein Jahr. Endlich hieß es: Waffenstillstand! Mein Herz schlug höher bei dem Gedanken, bald bei Frau und Kindern zu sein. Allabendlich wurden die neuesten Nachrichten beim Schein eines Schaufensterlichtes verschlungen und fast konnte man die Zeit der Entlassung nicht erwarten. Endlich kam auch diese Stunde. Meine Pflicht, fürs Vaterland zu kämpfen und zu arbeiten, hatte ich erfüllt und durfte nun diesen Platz verlassen. Mein Vorgesetzter wollte mich gerne hier behalten, doch meine liebe Frau willigte nicht ein, ihre Heimat aufzugeben und für immer hierher zu ziehen. So gab ich mein Werkzeug ab und machte mich reisefertig. Noch einmal besuchte ich alle mir lieb gewordenen Plätzchen am See und im Wald, wo ich so oft im Gebet die tröstliche Nähe meines Gottes empfunden hatte. Noch einmal schaute ich den schönen Flugplatz nahe am See, wo die prächtigen Zeppeline täglich Probefahrten machten, und es schien mir, als wäre mit heute ein Lebensabschnitt beendet, der reich an äußeren Leiden, aber noch reicher an innerem Erleben war. Am Abend feierte ich mit meinen Wirtsleuten Abschied und Tränen der Liebe bezeugten, dass ich ihrem Herzen nahe stand.

Nach einer schlaflosen Nacht machte ich mich schon sehr früh auf. Ich hatte geglaubt, der Tag meiner Heimreise würde der allerherrlichste meines Lebens sein, aber es war ein Tag voller Unruhe und Kämpfe und ich brauchte Gottes Gnade und Beistand in ganz besonderer Weise. Ich hatte von zuständiger Stelle schon gehört, dass es durchaus nicht leicht sei, in die Schweiz zu kommen, weil die Grenze gesperrt ist. Im Glauben und Vertrauen zu Gott, der mich bisher so wunderbar geführt und der mir am Schluss seine Hilfe nicht versagen wird, machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Ich hatte eine ziemliche Strecke zu gehen. Meine wenigen Habseligkeiten waren nur eine geringe Last, dennoch fühlte ich, wie merklich meine Kräfte geschwunden waren. Oft musste ich auf dem Wege ausruhen, wobei ich die Gelegenheit benutzte, um niederzuknien und Gott zu danken, dass ich heil und gesund aus diesem schrecklichen Krieg heimkehren durfte.

Mein Pass für die Einreise in die Schweiz nannte einen bestimmten Ort als meine Grenzstation. Man hatte mir aber gesagt, dass ich in Singen nicht durchgelassen werde. Ich löste daher keine Karte bis Singen, sondern nur bis H., wo mein Bruder wohnte, der mich eventuell aufnehmen könnte. Mein Zug war ein Militärzug, der von Singen an keine Zivilperson mitnehmen durfte. Hier musste jeder, der in die Schweiz einreisen wollte, mehrere Wochen Aufenthalt nehmen, bis er nach genauer ärztlicher Untersuchung und Beobachtung die Erlaubnis zum Übertritt der Grenze erhielt. Mein Gebet zu Gott war, er möge helfen, dass ich hier nicht so lange warten müsse, denn ich war ja durch seine Gnade gesund und frei von jeder ansteckenden Krankheit geblieben. Ich ging zum Vorstand und bat, weiter reisen zu dürfen. Ausnahmsweise bewilligte er es mir. Bis Waldshut durfte ich weiterreisen, aber dann blieben wir sechs Stunden liegen. Hier hätte ich mit der Fähre nach der Schweiz hinüberfahren können, aber der Fährmann hatte strengsten Befehl, niemand überzusetzen. Nun wollte ich ein Telegramm an meinen Bruder senden und ihm meine Ankunft melden, denn ich glaubte, dass ich wirklich nicht über die Grenze komme.

Als ich so dastand und den betreffenden Fahrplan studierte, kam eine Stimme: „Fahre nach Leopoldshöhe.“ Ich schaute mich um, es war niemand da. Nun merkte ich: Es war Gottes Stimme. Ich unterließ es, das Telegramm abzusenden und wartete auf den Zug, der mich nach Leopoldshöhe bringen sollte. Inzwischen schaute ich mich im Städtchen um. Es war festlich geschmückt und bald nahten Kolonnen heimkehrender Soldaten aus dem Feld. Kein lauter Jubel war zu hören, mitleidsvoll schauten die Leute auf die müden, abgezehrten Krieger, die nach unendlich schweren Kämpfen doch nicht als Sieger heimkehren durften. Endlich lief mein Zug ein, viel Passagiere wollten mit. Ein Wagen war dunkel, mit zerschlagenen Scheiben; den wählte ich und blieb allein im heißen Gebetskampf, galt es doch, nun die letzte Schwierigkeit zu überwinden. Zweifel wollten mich mutlos machen. Wenn ich nicht über die Grenze komme, was dann? Kehre um zu deinem Bruder – so klang es in mir. Aber immer wieder rang ich mich im Gebet zum Glauben hindurch.

Ich kam in Leopoldshöhe an und ging zur Grenze. Ein Posten sagte mir: „Du kommst nicht über die Grenze, sie ist gesperrt. Ein Mann ist schon auf der Wache, der auch hinüber wollte, und er muss zurück.“ Ich antwortete ihm: „Ich muss hinüber und werde es mit Gottes Hilfe versuchen.“ „Da bin ich wirklich neugierig“, erwiderte spöttisch der Posten. Ich meldete mich an dienstlicher Stelle auf der deutschen Seite, wo man mir ohne Weiteres abwinkte mit dem Bemerken: „Niemand darf die Grenze passieren.“ Ich bat um die Erlaubnis, die schweizerische Dienststelle zu fragen, was mir bewilligt wurde. Auch der schweizerische Beamte erklärte mir, dass die Grenze gesperrt sei. Ich blickte auf zum Herrn, für den es keine Grenzen gibt und der mir ja so oft bewies, dass er die Menschenherzen wie Wasserbäche lenkt. Nach einigem Hin- und Hergerede erklärte der pflichtgetreue Beamte: „Ich will noch einmal nachsehen, ob es sich also verhält.“ Er schlug ein Buch auf und sagte dann: „Sie dürfen passieren, aber nur als einzelne Ausnahme.“

Eine Woge des Glücks und der Freude überflutete mich. „Frei! Frei!“, klang es in meinem Herzen. Ich kehrte zur deutschen Dienststelle zurück und meldete, dass ich die Erlaubnis zum Übertritt der Grenze habe. Hier wollte man mich ohne Ursache aufhalten und behandelte mich in sehr geringschätzender Weise. Ich merkte, dass es nur Schikane war. Und fast wollte ein Gefühl des Zorns in mir aufsteigen, dass Leute, die nie an der Front waren und keine Ahnung von den furchtbaren Erlebnissen des Krieges hatten, mich in dieser Weise behandelten. Doch Gott gab Gnade zum Überwinden. Endlich ließ man mich gehen.