Selbstlos

„Die Liebe suchet nicht das Ihre“ (1.Kor. 13:5).

Jesaja beschreibt die Selbstsucht des Menschen mit den Worten: „Ein jeglicher sah auf seinen Weg“ (Jes. 53:6). Ach ja, ein jeglicher drängt sich an dem anderen fremd und kalt vorüber und achtet nicht auf des anderen Schmerz. Jeder denkt nur an sich. Jedoch die Liebe macht es anders. Die Liebe sucht nicht das Ihre. Wenn Jesus die Summe des Gesetzes zusammenfassen will, dann sagt er: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn... und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Mt. 22:37-39).

In der Schule habe ich es so ausgelegt bekommen: Die Selbstliebe ist etwas Erlaubtes, ja sogar Gebotenes. Der Heiland sagt ja, wir sollen unseren Nächsten so lieben, wie wir uns selbst lieben. Aber ob dann wohl für meinen Nächsten viel übrig bleibt, wenn ich erst die Erlaubnis ausnutze, mich selbst zu lieben? Ich fürchte, dann bin ich und bleibe ich so damit beschäftigt, mich selbst zu lieben, dass für den Nächsten nicht mehr viel übrig bleibt. Und kann das wohl die Meinung Jesu gewesen sein, dass wir uns erst selbst lieben sollten, dann freilich den Nächsten gerade so? Ist das denkbar?

Jesus ist doch gerade ein Vorbild und ein Beispiel, an dem wir sehen können, was es heißt, sich nicht selbst lieben. Hat er je etwas für sich begehrt und beansprucht? Nein, nie. Obwohl er „in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst“ (Phil. 2:6-7). Er gab alles dran. Er „machte sich selbst zunichte“, wie es wörtlich übersetzt lautet. Kann der Heiland, der die Selbstlosigkeit in Person war, wohl so sprechen: „Erst liebe dich selbst, und dann liebe deinen Nächsten ebenso?“ Unmöglich. Ja, was heißt es denn aber: Liebe deinen Nächsten als dich selbst, als dein Ich?

In der Schule haben wir gelernt, dass es drei Personen gibt. Die erste Person heißt „Ich“, die zweite Person heißt „Du“, und die dritte: „Er, Sie, Es.“ Das mag in Grammatikstunden in der Schule ganz richtig sein. Aber im Reiche Gottes ist das nicht richtig. Da müssen wir etwas umlernen. Bei einem Kinde Gottes heißt die erste Person „Du“, die zweite heißt „Er, Sie, Es“, und erst die dritte heißt „Ich“. Das ist die richtige Reihenfolge. Du sollst deinen Nächsten lieben als dein „Ich“, heißt also: Du sollst deinem Nächsten deine Liebe zuwenden, die der natürliche Mensch auf das Ich verwendet. Deine Liebe soll nicht dem eigenen Ich, sondern dem Nächsten gelten, er ist dein wahres Ich. Willst du mal daraufhin dein Leben prüfen? War es ein „Ich-Leben“ oder ein „Du-Leben“? Oh, die Selbstsucht drängt sich bis in den Gnadenstand hinein, bis in das Gebetsleben hinein. Und man merkt es oft gar nicht.

Da ist eine Frau, die einen unbekehrten Mann hat. Er ist ein Trinker. Er misshandelt sie. Es fehlt den Kindern an dem Nötigsten, weil der Vater so viel Geld ins Wirtshaus trägt. Jetzt betet die Frau um die Bekehrung ihres Mannes. Ganz recht. Aber aus welchen Gründen betet sie darum? Sie gibt die Antwort: „Dann bekomme ich es besser. Dann wird er mich nicht mehr misshandeln. Dann werde ich für die lieben Kinder besser sorgen können.“ Wenn sie so steht, was ist dann der Beweggrund ihres Gebets? Selbstsucht. Sie sucht das Ihre. Ja, soll sie denn nicht so beten um die Bekehrung ihres Mannes? Freilich! Aber aus anderen Beweggründen. Sie soll daran denken, dass ihr Mann den heiligen Namen Gottes lästert und verunehrt. Dass er das Blut Jesu Christi mit Füßen tritt. Dass er der Hölle entgegentaumelt. Wenn sie daran denkt, dann betet sie um seine Bekehrung nicht um ihres Mannes willen, sondern um des Heilandes willen. Dann sucht sie nicht das Ihre, sondern das Seine und das, was des Herrn Jesus ist.

Oder da ist eine Mutter, die für ihren Sohn betet, dass er sich bekehre. Recht so. Aber was treibt sie dazu? Der Gedanke: „Wenn sich mein Sohn bekehrt, dann werde ich an ihm eine Stütze haben. Ich werde, wenn ich mal nicht mehr arbeiten kann, nicht ins Versorgungshaus oder ins Armenhaus gehen müssen. Ich werde bei meinem Sohn mein Leben beschließen können. Denn wenn er bekehrt ist, dann weiß er, was er seiner alten Mutter schuldig ist.“ Nicht wahr, das ist Selbstsucht.

Oder da betet ein Prediger um eine Erweckung. Kann da Selbstsucht nicht hinterlaufen? Ach, ja. Gewiss macht der liebe Bruder es sich nicht klar, dass auch in seinem Gebet Selbstsucht steckt. Er hat den Gedanken noch nie so klar durchgedacht: „Wenn es hier in meiner Gemeinde eine Erweckung gibt, dann bekomme ich neue Mitglieder, es gibt auch Beiträge. Dann werde ich bei meinem Oberen gut angeschrieben sein. Ich werde auch ein höheres Gehalt bekommen usw.“ Ich sage nicht, dass es bei dir so ist. Ich sage aber, es kann so sein. Und darum müssen wir der Selbstsucht auf die Finger sehen, dass sie sich nicht sogar in unser Gebetsleben einschleicht und es lähmt. Die Liebe sucht nicht das Ihre. Aber der natürliche, selbstsüchtige Mensch sucht das Seine. Ach, dass auch Gottes Kinder oft noch so selbstsüchtig sein können, und es gar nicht wissen!

Da lehnt ein Bettler am Zaun der Straße. Sein Reisegefährte will ihn verdrängen: „Das ist mein Platz!“ Wie kommt er dazu, den Platz „seinen Platz“ zu nennen? Hat er dazu das allergeringste Recht? Nein. Aber machst du es nicht vielleicht gerade so? Du bist schon in der Eisenbahn gefahren. Du hattest ein Abteil für dich alleine. Das war dir sehr angenehm. Jetzt hielt der Zug auf einer Station. Du stelltest dich groß und breit ans Fenster, um dein Abteil gegen andere zu verteidigen: Das ist mein Abteil. Nicht wahr, so dachtest du? Die Leute können ja woanders einsteigen, nur nicht hier. Dies ist mein Abteil. Was tut die Liebe in solchem Fall? Sie öffnet die Tür und sagt: „Bitte, hier ist noch Platz.“ Denn die Liebe sucht nicht das Ihre. Die Liebe denkt daran: Den Nächsten soll ich lieben wie mein Ich.

Als Abraham von der Schlacht der Könige zurückkehrte, kam ihm der König von Sodom entgegen und sagte: „Gib mir die Leute, die Güter behalte dir“. Abraham antwortete mit einem Wort, das hieß „Biladej“, auf Deutsch: „Nichts für mich!“ Eine gute Parole für einen, der das Lieben lernen will: Nichts für mich! Ein Segensstück. Am Niederrhein feiert man den Martinstag. Da ziehen die Kinder von Haus zu Haus und singen ein Verschen, um Gaben und Geschenke zu erbitten: „Hier wohnt ein guter Mann, der uns wohl was geben kann“. Und dann öffnet sich die Tür, und der Hausherr wirft eine Hand voll Nüsse, oder was es sonst ist, unter die Kinder. O, der wilde Tumult, der dann beginnt! Jeder will das meiste erbeuten. Ob man den anderen stößt oder tritt, das ist gleich, – nur möglichst alles für mich. Gefällt dir das Bild? Oder gefällt dir das Bild Abrahams besser? „Biladej“ – nichts für mich. Die Liebe sucht nicht das Ihre.