Schwerere Prüfungen für Eva

Ein paar Wochen lang ging im Grantheim alles gut. Die Stiefmutter nahm sich des Haushaltes an und entlastete Neva von vielen Pflichten, die sie vorher zu erfüllen hatte. Neva versuchte nicht, ihren Widerwillen der Stiefmutter gegenüber, der sich ihrer am ersten Abend ihrer Anwesenheit bemächtigte, ja der sich bald in richtigen Hass verwandelte, zu verbergen. Zuerst versuchte Frau Grant, freundlich zu sein, aber dies ließ bald nach. Und Herr Grant hatte Gelegenheit sich zu überzeugen, dass er nun eine Frau habe, die von seiner guten, geduldigen Gattin, die einst seine Kinder bemutterte, ganz unterschiedlich war. Von vernünftigem Handeln und Urteilen war keine Rede. Sie wurde eigensinnig, störrig und verdrießlich. Und da sie es ohnehin mit ihren Worten nicht genau nahm, entschlüpften ihren Lippen viele Flüche und gemeine Bemerkungen. Sie fing an, an den Kindern Fehler zu finden, nannte sie faul, wenn sie nicht immer arbeiteten, und hatte an allem, was sie taten, etwas auszusetzen. Mit nichts war sie zufrieden, über nichts konnte sie sich freuen. Eva hatte am meisten unter ihren Launen zu leiden, war sie doch noch unfähig zu arbeiten, obwohl sie alles versuchte, was sie nur konnte. So gab es genug Streitigkeiten in der Familie. Oft schimpfte sie Eva und sagte zu ihr: „Du faules kleines Ding, den ganzen Tag sitzt du herum und weißt weiter nichts, als in der alten dummen Bibel zu lesen.“ Viele Drohungen gegen das arme Kind und ihr köstliches Buch wurden in bösem und bitteren Ton ausgestoßen. So zog sich Eva schließlich, wenn sie lesen wollte, an ein verborgenes Plätzchen zurück und trug ihr Testament immer mit sich aus Furcht, die Drohungen ihrer Stiefmutter können einmal in die Tat umgesetzt werden. In dem allen aber klammerte sich Eva an Gott, bat ihn, sie zu erhalten, zu bewahren und ihr zu helfen, ihre Stiefmutter zu lieben und als Frau des Hauses achten zu können.

Die Zwillinge waren jetzt siebzehn Jahre und Neva, wohlentwickelt und stark, schien nun vor den Misshandlungen der Stiefmutter verschont zu bleiben. In Wirklichkeit fürchtete sich die Stiefmutter vor ihr; denn einmal war ihr der Beweis erbracht worden, dass Neva wohl in der Lage sei, sich mit Stößen und Schlägen zu wehren. So wurde sie nun völlig in Ruhe gelassen. Aber der Hass Nevas gegen ihre Stiefmutter nahm zu.

In Grants Nachbarschaft wohnte eine Familie namens Long. Deren ältester Sohn Everett hatte Neva ein paarmal nach Hause begleitet. Als Herr Grant davon erfuhr, verbot er Neva, mit ihm zu gehen oder irgendetwas mit ihm zu tun zu haben. Dem ersten Gebot gehorchte sie, unterhielt aber einen geheimen Briefwechsel mit ihm. An einem regnerischen Tag spät im September bemerkte Eva, dass Neva den ganzen Tag sehr mit Waschen, Bügeln und Kofferpacken beschäftigt war. Des kühlen Wetters wegen musste Eva in ihrem Zimmer bleiben. Neva kam oft herein und sagte stets ein freundliches Wort oder streichelte sie zärtlich. Als sich die Familie an diesem Abend zur Ruhe begab, kam Neva noch einmal ins Zimmer, trat an Evas Bett, beugte sich über sie, küsste ihre Stirn und sagte: „Gute Nacht und Auf Wiedersehen, liebe, kleine Schwester. Es hat für dich nichts zu sagen, was sich jetzt zuträgt oder was ich tue, bleibe nur immer eingedenk, dass Neva ihre kleine, bleiche Schwester liebt.“ Kurze Zeit blieb sie stehen und hielt Evas Hand fest, dann verließ sie das Zimmer. Eva war die ganze Nacht hindurch sehr unruhig und schlief sehr wenig. Bald nachdem im Haus alles ruhig geworden war, hörte sie an der Scheune ein Auto halten, aber nur für kurze Zeit. Dann setzte sich der Motor wieder in Bewegung und der Wagen fuhr am Haus vorbei. Am nächsten Morgen, als die Familie zum Frühstück zusammengerufen wurde, war Neva nicht mehr da. Ihr Bett war diese Nacht unbenutzt geblieben, ihre Kleider waren fort und man fand eine Notiz für ihre Schwester Eva mit der Bitte, doch nicht traurig zu sein, dass sie Everett Long gefolgt sei, um sich mit ihm zu verheiraten.

Das war für Eva ein harter Schlag; denn ihre Schwester hatte ihr beigestanden, dem Zorn der Stiefmutter zu begegnen. Immer hatte Eva auf sie als ihre Beschützerin blicken können und nun sollte sie alles allein durchzukämpfen haben? Einige Tage war Eva an ihr Bett gebunden und konnte weder essen noch schlafen. Aber indem sie ihr Herz Gott ausschüttete, empfing sie Gnade für die Prüfung. Sie entschloss sich, das Beste aus ihrer Lage zu machen und stets auf die lichte Seite zu schauen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, wie schön es nun sein würde, große lange Briefe an Neva zu schreiben. Dies war ihr bisher noch nie vergönnt gewesen, weil sie ein Getrenntsein von ihrer Schwester eigentlich noch nie erlebt hatte.

Wie einsam es ihr ohne Neva vorkam! Aber sie fing an, an sie zu schreiben – jeden Tag ein wenig, um schon einen langen Brief fertig zu haben, wenn sie von ihr hören werde. Aber in der Durchführung dieser Absicht wurde sie sehr enttäuscht. Denn als sie von Neva einen Brief erhielt, versagte ihr die Stiefmutter die Briefmarke. Und wie ein Luchs passte sie auf, dass sie den Brief keinem andern gab, der ihn hätte frankieren können. Auch konnte Eva nicht zu ihrem Vater diese Unfreundlichkeit ihrer Stiefmutter tragen, weil er doch über Nevas Entlaufen so zornig gewesen war. Sie wusste, es hat gar keinen Zweck, diese Sache zu erwähnen. Neva schien die Lage zu verstehen; denn sie schrieb oft, obwohl sie keine Antwort auf ihre Briefe bekam. Nun wandte sich Eva an Gott und bat ihn in kindlicher Art, ihr doch auf irgendeine Weise die Mittel zu geben, einen Brief an Neva absenden zu können.

Ein paar Wochen nach Nevas Weggehen erhielt Eva ein Päckchen. Edgar brachte es ihr. Wie begierig sie es öffnete, als sie Nevas Handschrift erkannte! Was konnte ihr Neva schicken? „Dem Herrn sei Dank“, rief Eva, als sie den Deckel einer zierlichen Briefkassette öffnete, deren Briefumschläge alle mit Marken versehen waren. Jetzt hielt sie nichts mehr zurück, Nevas Briefe zu beantworten. Obwohl Nevas Briefe voller Liebe waren und davon zeugten, wie glücklich sie mit ihrem Mann sei, war in Evas Antworten doch kein Wort der Unzufriedenheit über ihre eigene Lage zu finden. Ihr Herz war zu sehr mit Gott erfüllt, als dass sie von etwas anderem als seiner Güte hätte schreiben können.

Als die Jahreszeit voranrückte und das Wetter kühler wurde, war Eva gezwungen, im Haus zu bleiben, da sie nicht den leisesten kalten Luftzug vertragen konnte. Somit musste sie bedeutend mehr mit der Stiefmutter zusammen sein. Nur Gott weiß von den Misshandlungen, die sie jeden Tag zu erdulden hatte. Nicht ein einziges Mal klagte sie es ihrem Vater. Weihnachten nahte heran. Aber Eva fühlte sich nicht so wohl und konnte deshalb nicht bei den Vorbereitungen mithelfen, die für das Fest getroffen wurden. Ein Nachbarmädchen kam auf Besuch und nachdem es erzählt hatte, was es sich zu Weihnachten wünsche, fragte es: „Eva, was hast du für einen Wunsch? Was soll dir denn der heilige Christ bringen?“

„O, ich wünsche mir vor allem anderen in der Welt Gesundheit“, erwiderte Eva. „Das würde das beste Weihnachtsgeschenk sein, das ich je in meinem Leben empfangen habe, wenn ich es nur bekommen könnte.“

Nachdem das Mädchen gegangen war, benutze die Stiefmutter Evas Worte, sie zu sticheln und zu ärgern. Spöttisch sagte sie:

„Du wünschst dir Gesundheit, nicht wahr? Nun, warum rührst du dich nicht ein bisschen und sitzst immer so untätig herum? Ich weiß nicht, wie du überhaupt erwarten kannst, etwas zu Weihnachten zu bekommen, wenn du so faul und träge bist. Du wirst den Sternen danken können, wenn du diese Weihnachten etwas bekommst, sag’ ich dir nur. Für meinen Teil gäbe ich dir lieber eine Dosis Gift, um dir ein bisschen voranzuhelfen, als irgend etwas anderes, so hasse ich dich, du kleines Ding.“

Der Weihnachtstag kam, aber da war von Geschenken nichts zu sehen, auch nicht für die Kinder. Als der Jüngste den Vater auf diese Tatsache aufmerksam machte, sagte er nur: „Ihr Kinder werdet jetzt alle zu groß, als dass ihr noch an solch kindischen Dingen hängen solltet.“

Als Eva sich an diesem Abend zum Schlafengehen fertigmachte, merkte sie, wie hübsch die Decken über ihr Bett gezogen waren. Dies war ihr bisher unbekannt, da sie sich ihr Zimmer immer selbst besorgte. Sie kniete sich nieder, dankte Gott für den Tag und für das beste Weihnachtsgeschenk, das sie je empfangen hatte, nämlich die Gabe seines eigenen lieben Sohnes, der ihr die Erlösung schenkte. Wieder bezeugte sich der Heilige Geist zu ihrer Seele und verlieh ihr Kraft. Sie stand auf und schlug die Decken zurück, um ins Bett zu gehen. Aber siehe da, Wasser war ins Bett ausgegossen worden und die Decken glatt darüber gelegt! Als sie diese Entdeckung machte, hörte sie vom anderen Zimmer aus ein lautes „Ha, Ha!“ ihrer Stiefmutter. Spöttisch rief sie: „Eva, wie gefällt dir dein Weihnachtsgeschenk?“ Eva brach in Tränen aus und rief ihrem Vater, ihr doch beizustehen. So breiteten sie das Bettzeug rund um den Ofen aus und Herr Grant blieb bei ihr und unterhielt das Feuer, bis alles trocken genug war, damit sie wieder zu Bett gehen konnte. Ihre Kissen wurden in dieser Nacht mit Tränen benetzt, als sie den Herrn um Kraft anrief, ihre Stiefmutter so lieben zu können, wie sie es tun sollte. „O Mama, Mama“, rief sie, „ich brauche dich so sehr! Niemand scheint mich so zu verstehen oder so für mich zu sorgen, wie du es tatest.“ Eva nahm immer ein Glas Wasser in ihr Zimmer, das sie in die Nähe des Bettes stellte. Denn wenn sie nicht schlafen konnte, bekam sie oft Durst, und da es kalt war, wollte sie sich durch Aufstehen nicht einer Erkältung aussetzen. Auch in dieser Nacht wollte der Schlaf nicht kommen. Und als sie das Glas Wasser hob und an ihre Lippen führte, stieg ihr ein Geruch scharfer Karbolsäure (Nervengift) in die Nase. Wieder sagte sie es ihrem Vater, aber niemand schien wissen zu wollen, wie diese ins Glas gelangt sei. Eva war jedoch überzeugt, dass sie jemand ins Glas goss, während sie und ihr Vater das Bettzeug trockneten. Denn sie hatte vorher, als sie sich zum Zubettgehen fertig machte, das Wasser aus dem Eimer geholt. Sie hatte dabei auch einen Schluck aus dem Glas genommen und wusste, dass keine Karbolsäure im Glas gewesen war; und im Eimer war auch keine. 

Nach diesem Vorfall fürchtete sich Eva vor ihrer Stiefmutter, wie man sich vor einer giftigen Schlange fürchtet. Sie wusste doch nicht, wann oder auf welche Weise sie etwas anstellen mochte. Nach vielen anderen Misshandlungen und Drohungen fand Eva nächtelang keinen Schlaf aus Furcht, die Drohungen können in die Tat umgesetzt werden und ihrem Leben ein Ende machen. Da sie sehr schwach war, bedeutete die beständige Furcht und der große Schlafverlust zu viel für sie. Als der Winter den warmen Frühlingslüften Raum gewährte, stand Eva am Rande eines Nervenzusammenbruchs, und der Familienarzt musste wieder gerufen werden. Zu ihrem Leiden kam noch, dass ihre Seite sich wieder öffnete und Eiter aus der Lunge herausfloss. Der Arzt ordnete völlige Ruhe an, unter reichlicher Zuführung von frischer Luft und auch zeitweilige Körperbewegung, soweit sie dazu fähig sei, sowie gute, den Körper aufbauende Nahrung. Aber da sie die meiste Zeit unfähig war, sich selbst zu helfen, konnte sie diesen Anordnungen des Arztes nicht nachkommen, und somit verschlimmerte sich ihr Zustand mehr und mehr. Sie wurde nicht gepflegt. Nie bekam sie etwas zu essen, es sei denn, dass sie sich an den Tisch schleppte. Trotz allem tadelte sie niemanden und klagte nicht, brachte aber ihre Lage mit größerem Ernst denn je zuvor zu Gott.

Eines Morgens, nach einer schmerzensreichen und schlaflosen Nacht, bat sie ihren Vater um Erlaubnis, Prediger Mills und seine Frau rufen und sie für sich beten zu lassen. Darauf gab er schroff zur Antwort: „So etwas dulde ich nicht unter meinem Dach. Das Beste für dich ist, dir solchen Unsinn aus dem Kopf zu schlagen und einmal ein bisschen vernünftig zu handeln.“ Eva verteidigte sich und sagte, dass dies ihre einzige Hoffnung sei, und dass alle Hilfe, die ihr überhaupt zuteil werden könne, nur in der Kraft des Herrn bestehe. Aber nur um so bestimmter erwiderte er:

„Schluss damit, die Leute sollen nie mein Haus betreten.“

Eva besann sich nun darauf, dass manchmal gesalbte Taschentücher gesandt wurden. Sie entschloss sich, an Frau Mills zu schreiben, ihr alles, so gut sie konnte zu erklären und um Zusendung eines gesalbten Taschentuches zu bitten. Gesagt, getan. Harry, ihr Bruder, brachte den Brief zur Post. Drei Tage danach kam die Antwort. Die lieben Predigersleute schrieben, dass sie ihren Fall vor Gott gebracht hätten und ihr nun im Vertrauen auf Gott ein gesalbtes Taschentuch sandten. Am Mittwochabend würden sie in der Gebetsversammlung ihren Fall der Versammlung vortragen. Und um acht Uhr solle sie sich das Taschentuch auflegen, und die ganze Versammlung werde vereint den Herr bitten, dass er sie heile. Der Brief war mit der Morgenpost angekommen und so verbrachte sie den Rest des Tages in ernstem Gebet. Als die Uhr acht schlug, legte sie sich das Taschentuch auf die Wunde in ihrer Seite und in einfältiger, kindlicher Ergebenheit erhob sie ihr Herz zu Gott. Sie fühlte die Heilkraft Gottes wie einen elektrischen Strom durch ihren Körper gehen, sprang auf von ihrem Bett, ging im Zimmer hin und her und lobte Gott. Man machte ihr Vorstellungen, versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, und sagte ihr, dass es nur eine Erregung sei und sie sich ihre Lage nur selbst verschlimmere. Eine Zeitlang fuhr sie fort, den Herrn zu preisen. Dann begab sie sich zur Ruhe und konnte sich eines vollständig gesunden, ungestörten und erfrischenden Schlafes erfreuen – das erste Mal seit mehreren Monaten.