Zweifel schwinden

Am Morgen, nachdem Eva die heilende Hand Gottes verspürt hatte, kleidete sie sich an, beugte ihre Knie, dankte Gott für seine Güte und ging in die Küche, wo sie das Frühstück bereitete und dann die Familie zum Frühstück rief. Das Mahl wurde still eingenommen, da sich niemand in Unterhaltungsstimmung zu befinden schien. Nachdem alle mit dem Essen fertig waren, bereitete sich Eva, das Geschirr abzuwaschen. Dazu war sie längere Zeit nicht imstande gewesen. O, wie ihr Herz jubelte, als sie das Geschirr aufräumte. Sie schritt auf die hintere Veranda zu, um das Abwaschwasser hinauszuschütten. Dabei überkam sie eine Schwäche, so dass sie sich unfähig fühlte, wieder ins Haus zurückzugehen. Der Feind überfiel sie gleich einer Flut und da sie über sein tückisches Wirken nicht Bescheid wusste, konnte sie ihm nicht widerstehen. Es wurde ihr ganz kalt und sie bebte vor Frost. In ihrem geschwächten Zustand konnte sie kaum ein Wort des Gebets zu Gott emporsenden. Ihr Vater wurde gerufen. Wieder holte man den Arzt und Eva fing wieder an, Medikamente zu nehmen, obwohl sie wusste, dass alles für sie getan worden war, was die medizinische Wissenschaft nur bieten konnte. O, wie hätte sie jetzt jemanden zur Ermutigung nötig gehabt! Aber Gott bringt alles zur rechten Zeit zu einem guten Ausgang und vergisst noch verlässt keinen, der ein aufrichtiges Herz hat.

Die Vorfälle des letztes Abends wurden dem Familienarzt weit übertrieben berichtet. Und als er am nächsten Morgen wiederkam, um nach seiner Patientin zu schauen, fühlte sich Eva bedeutend besser und fragte ihn, was er von ihrem Zustand denke. Er erwiderte: „Zu viel religiöse Aufregung. Du musst bedenken, Kind, dass wir nicht in den Tagen des Bartimäus oder des Jünglings zu Nain leben. Christus ist jetzt nicht mehr als der große Heiler auf Erden und du wirst dich damit zufrieden geben müssen, das nächstbeste Heilmittel in Anwendung zu bringen.“

„Aber, Herr Doktor“, forschte Eva, „meinen Sie nicht, dass der Herr Jesus wirklich den blinden Augen aufgetan und die Toten auferweckt hat?“

„Ich habe kein Recht, dies zu bestreiten“, erwiderte der Doktor.

„Aber darum handelt es sich nicht“, sagte Eva. „Es kommt nicht darauf an, ob Sie ein Recht haben, es zu bestreiten, sondern ob Sie es wirklich glauben.“

„Ja, ich glaube es“, erwiderte der Doktor. „Aber du musst bedenken, dass Jesus jetzt nicht hier ist. Und wäre er hier, so würde er eine vollkommenere Heilung an dir zustande gebracht haben, als du meinst, sie empfangen zu haben. Gott tut nichts Halbes. Wenn er etwas tut, so ist es vollkommen.“

„Hier gehen wir gerade auseinander“, sagte Eva. „Sie glauben, dass Jesus lebte und geheilt hat, und ich glaube, dass Jesus lebt und heilt. Herr Doktor, Jesus wurde gekreuzigt und ins Grab gelegt. Aber das Grab konnte ihn nicht halten und er stand vom Tode auf. Er ist mir ein lebendiger Christus und so wirklich in meinem Herzen, wie er dem Bartimäus und dem Jüngling zu Nain wirklich war. Lassen Sie mich Ihnen etwas vorlesen“. In dem sie ihr kleines Testament aufschlug, las sie in Hebr. 13:8: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“

Der Doktor errötete einen Augenblick. Dann erwiderte er lachend, indem er Evas Hand erfasste: „Nun, ich bin viel älter als du, und ich bin nicht hier, um mit dir über solche Dinge zu streiten. Aber wenn du einen lebendigen Christus findest, der die Toten auferweckt und dich heilt, soll mir das recht sein. Ich tue alles, was ich für dich tun kann. Du musst dich aber äußerst ruhig verhalten, sonst wirst du nie wieder gesund werden.“

„Ich weiß, dass Sie alles tun, was Sie für mich tun können“, erwiderte Eva. „Und ich bin Ihnen dafür sehr dankbar. Aber Sie wissen, dass eine höhere Kraft erforderlich ist, um mich gesund zu machen, befinde ich mich doch schon jenseits dem Gebiete medizinischer Hilfe.“

„Ich glaube nicht, dass ich noch einmal kommen brauche“, sagte der Arzt, als er nach seinem Koffer griff und sich zur Tür wandte. „Aber wenn du gesund sein wirst, so bist du herzlich eingeladen, mich zu besuchen; denn ich möchte dich wiedersehen. Ich bin vielleicht ein bisschen grob. Aber ich habe deiner Mutter beigestanden, als du geboren wurdest, ich hörte deinen ersten Schrei und ich bin wirklich um dein Wohlergehen besorgt. Wenn du irgendwie Heilung erlangen wirst, so würde ich mich freuen, davon zu hören. Niemand soll vergnügter sein als ich, dich als ein gesundes Mädchen zu sehen.“

„Dank sei ihnen, Herr Doktor“, sagte Eva, „Ich werde mir die Einladung merken und eines Tages werden Sie mich an ihre Tür klopfen hören.“

„Wir wollen’s hoffen“, erwiderte der Arzt, als er hinter sich die Tür zumachte.

Eine Zeitlang lag Eva in ihrem Bett, in tiefes Nachdenken versunken. Wieder und wieder stieg in ihr die Frage auf: „Warum hat mich wohl dies wieder betroffen, während ich doch weiß, dass Gott meinen Leib berührt hat?“ Sie öffnete ihr kleines Testament und fing an, im 4. Kapitel des Matthäusevangeliums zu lesen. Als sie las, wie der Teufel sich zum dritten Mal an den Erlöser wandte, sagte sie: „So verfährt er gerade mit mir. O Gott, gib mir Gnade, alles zu ertragen und siegreich durchzugehen! Hilf mir, geduldig zu sein und auf dich zu warten. Und hilf mir, dem Teufel zu widerstehen!“

Der April war dahingegangen und schon zeigte der Kalender Mitte Mai. Eines Tages lag Eva auf ihrem Bett und dachte daran, wie oft Gott ihre Gebete schon beantwortet hatte. Wieder musste sie an eine Bibel denken, die sie so gern ihr eigen genannt hätte. „Gewiss werde ich darin nicht enttäuscht werden“, sagte sie, „denn Gott hat verheißen, uns alles zu geben und all unsere Bedürfnisse zu decken. Er weiß, dass ich eine Bibel brauche und mir selbst keine beschaffen kann. So bin ich doch darauf angewiesen, dass er mir eine schickt.“ Wieder schlug sie ihr Testament auf und las diesmal, wie der ungerechte Richter mit der Witwe handelte, weil sie wieder und wieder kam. Unverzüglich schlüpfte sie aus dem Bett auf ihre Knie, um Gott mit aller Inbrunst ihrer Seele um eine Bibel zu bitten. Eine Zeitlang blieb sie auf ihren Knien und dann stand sie mit einem Vertrauen auf, dass er sie erhört habe und antworten werde.

Drei Tage später brachte Edgar wieder ein Päckchen aus dem Briefkasten. Und als sie es öffnete, fand sie eine prächtige Bibel darin. Zu gleicher Zeit empfing sie einen Brief, dessen Poststempel den Namen eines kleinen Städtchen zu erkennen gab, das einige Meilen von ihr entfernt war. Er lautete wie folgt:

„Meine liebe unbekannte Freundin!

Sie sind mir fremd, und ich bin es Ihnen. Aber bitte nehmen Sie die Bibel, die ich Ihnen mit gleicher Post übersende, als ein Geschenk vom Herrn entgegen. Ich kolportiere mit diesen Bibeln und war vor einigen Wochen in ihrer Nachbarschaft, wo ich auch von Ihnen hörte. Ich beabsichtigte, Sie auf dem Rückweg zu besuchen; aber die Bibelgesellschaft beorderte mich auf einen anderen Distrikt. Darum hatte ich nicht dieses Vorrecht. Nun will ich Ihnen sagen, warum ich Ihnen jetzt diese Bibel sende.

Nachdem ich von Ihrer Krankheit und von Ihrer Bekehrung hörte, habe ich viel an Sie denken müssen. Vor drei Nächten war ich sehr unruhig und konnte nicht schlafen. Eine Stimme schien mir fortwährend zu sagen: „Schicke dem Fräulein eine deiner Bibeln“. Seit einer Reihe von Jahren bin ich ein Christ und habe mir vorgenommen, jeweils dem Herrn den Zehnten meines Einkommens zu geben. So sagte ich dem Herrn, dass ich Ihnen als seinen Anteil jetzt diese Bibel senden wolle. Wenn Sie es mit Gebet lesen, so bin ich gewiss, dass Sie darin finden werden, wonach Ihr Herz verlangt. Ein unbekannter Freund.“

Eva hatte zu große Freude, um sprechen zu können. Sie küsste die Bibel, dann legte sie ihren Kopf darauf und weinte wirkliche Freudentränen. Nun hatte sie eine eigene ganze Bibel und noch ein Gebet wurde ihr beantwortet. Die Verheißung: „Bittet, was ihr wollt, und es soll euch widerfahren“, hatte sich in ihrem Leben verwirklicht.

April, Mai und Juni waren vorübergegangen und noch war Eva unfähig, auf zu sein. O, wie langsam die Tage dahingingen! Aber in ihrer köstlichen Bibel fand sie viel Trost. Sie verbrachte viele Stunden mit dem Lesen des kostbaren Wortes Gottes. In ihrer Seite waren nun sieben Öffnungen und aus allen kam Eiter heraus. Das griff sie sehr an. Auch war mehrere Male täglich neues Verbinden erforderlich. Das war eine schwere Aufgabe für sie; aber der Herr gab ihr Kraft. Obwohl die Stiefmutter unfreundlich zu ihr war, zeigten sich der Vater und ihre zwei Brüder doch freundlich und versuchten in jeder Weise, etwas für sie zu tun. Mit dem Essen wurde sie nicht vernachlässigt, Herr Grant trug jetzt selbst ausgewählte Speisen zu ihr. Sie empfand, dass sie viel Ursache habe, dem Herrn zu danken, und das tat sie auch beständig. Aber sie wurde schwächer und schwächer. Ihr bleiches schmales Gesicht und ihr entkräfteter Körper zeugten von Nächten des Leidens und Tagen des Seelenkampfes. O, wie sie sich nach Neva sehnte oder nach einem lieben Kinde Gottes! Aber das blieb ihr versagt. Sie hatte nur einen, zu dem sie gehen konnte. Und täglich legte sie ihm, der alles weiß und versteht, ihren Fall vor. Dann schienen ihre Leiden nicht hart zu sein, weil seine beständige Gegenwart ihr sogar in der Krankheit Zufriedenheit und Genüge brachte.

Eines Morgens, in der ersten Woche des Monats Juli, kam ein junger Mann, ein früherer Schulkamerad, der sich gerade auf der Durchreise befand, und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Eva hatte an diesem Morgen nicht so sehr zu leiden. Und so unterhielten sie sich in vergnüglicher Weise über alte Schultage und einige amüsante Vorfälle, die sich zugetragen hatten, als sie noch zusammen zur Schule gingen. Da sie wenig Besuch bekam, freute sie sich dieses kurzen Besuches um so mehr. Und als er aufstand, um zu gehen, bat sie ihn, noch ein wenig länger zu bleiben. Aber er erwiderte: „Nein, ich muss jetzt gehen, aber ich will dir etwas hier lassen, was dich eine Weile unterhalten kann“. Und damit überreichte er ihr eine Rolle Zeitschriften und sagte:

„Frau Hugo hörte, dass ich heute hier durchreise, und brachte mir dies heute morgen. Ich soll dir’s dalassen, weil sie meint, das könnte dir etwas die Zeit vertreiben.“ Eva dankte ihm freundlich und er verabschiedete sich. Er war noch nicht lange weg, als Eva die Seiten durchforschte und auf etwas stieß, das ihrer Seele sehr wohltat. Die Rolle Zeitschriften bestand aus einer Anzahl „Evangeliums-Posaunen“ und einigen „Jugendfreunden“.

Sie las das Zeugnis einer Frau, die geheilt worden war. Dann war der Feind wieder gekommen und eine Zeitlang war es mit ihr schlimmer als zuvor. Aber sie hatte dem Teufel widerstanden und die Heilkraft war erneut über sie gekommen. Und zum großen Erstaunen ihrer Angehörigen und einer Anzahl Ärzte hatte sie die völlige Gesundheit erlangt. Dies war ihrem eigenen Fall so ähnlich, dass es ihr fast vorkam, als lese sie ihr eigenes Zeugnis. Sie legte das Blatt beiseite und fing an, ein anderes durchzuschauen. Darin fand sie einen Aufsatz von C. W. Naylor, mit dem Titel: „Zweifel, deren Ursache und Beseitigung.“ Als sie diesen Aufsatz las, erkannte sie, warum sie wieder unter die Hand des Anfechters geraten war, und unverzüglich wandte sich ihr Herz zu Gott. Deutlich konnte sie erkennen, dass sie sich nur durch Zweifel den Sieg hatte rauben lassen.

Mit erneutem Glauben brachte sie ihren Fall wieder vor Gott, während heiße Tränen auf ihr Kissen fielen. Eine Zeitlang lag sie weinend auf ihrem Bett, denn sie dachte auch daran, wie es um sie bestellt sein könnte, wenn sie nur verstanden hätte, dem Teufel zu widerstehen und die Zweifel zu besiegen. Wieder ging sie auf die Knie an der Seite ihres Bettes. Indem sie ihren Kopf auf ihre Bibel legte, sagte sie: „O Herr, ich danke dir für dein Wort, das so viel für mich bedeutet. Du weißt, ich liebe es von ganzem Herzen. Es bleibt wahrhaftig in mir, und du hast mir gesagt, zu bitten, was ich will, und es soll mir widerfahren. Du erhörtest mein Gebet und sandtest mir Briefmarken, so dass ich an Neva schreiben konnte. Du ließest mir eine Bibel zukommen, so dass ich dein ganzes Wort habe. Nun, Herr, heile mich, dass ich gesund sein möge und etwas für dich tun kann!“ Ihren Kopf über die Evangeliums-Posaune beugend, die den Aufsatz enthielt, den sie eben las, sagte sie: „Ich danke dir auch für solch eine herrliche Zeitschrift und für die frommen Leute, die so etwas schreiben können, was mich so wunderbar ermutigt und mir neue Lichtblicke gibt. Und nun, Herr, nimm jeden Zweifel hinweg und lass die Heilkraft wiederkommen. Ich will nie mehr zweifeln, noch auf irgendetwas anderes mein Vertrauen setzen als auf dich.“

Als sie diese Worte sprach, kam die Heilkraft Gottes wieder auf sie herab. Ihr Glaube stieg hinweg über alle Zweifel und über alles, was ihr bisher ein Hindernis war, und wieder erfüllte die Herrlichkeit Gottes ihre Seele. Kraft durchströmte ihren Körper und sie stand auf und ging wieder von einem Zimmer ins andere, Gott preisend. Den Rest des Tages verbrachte sie in vollkommenem Wohlbehagen. Sie fühlte keinen Schmerz mehr, hatte nichts mehr zu leiden und ihre Lungen sonderten keinen Eiter mehr ab. In dieser Nacht erfreute sie sich zum zweiten Male, seitdem sie krank geworden war, eines gesunden, ungestörten und erfrischenden Schlafes.

Aber der Feind war nicht ohne harten Kampf zu besiegen, und am nächsten Morgen stürzte er sich wieder wie eine Flut über sie. Der Geist des Herrn in ihrer Seele befähigte sie jedoch, den Schild des Glaubens hochzuhalten und dem Feind so stark zu widerstehen, dass er fliehen musste. In zwei Tagen waren die Wunden in ihrer Seite zugeheilt, und am dritten Tag fuhr sie mit ihrem Bruder vierzehn Meilen (ca. 22,5 km) mit Pferd und Wagen, um in St. Elmo die Predigerfamilie Mills aufzusuchen. Als Frau Mills auf ihr Klopfen „Herein!“ rief, grüßte sie Eva mit den Worten: „Preis dem Herrn, ich bin geheilt!“ Sie erzählte ihnen all die Vorfälle, die zu ihrer Heilung führten. Dann fiel sie in Frau Mills Arme und beide weinten und priesen zusammen den Herrn.

Eva blieb einige Tage bei der Familie Mills und besuchte auch ihre Tante und die Rohdes-Mädchen. Auch hielt sie ihr Versprechen dem alten Familienarzt gegenüber und besuchte ihn. „Nun, du bist mir ein Wunder“, sagte er, nachdem er Evas Geschichte anhörte. „O nein, ich bin kein Wunder“, erwiderte Eva, „aber ich diene einem Gott, der alle Macht besitzt. Mein Christus ist ein lebendiger Christus. Er ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.“