Eva verlässt das Elternhaus

Eva blieb einige Tage in St. Elmo und besuchte die Gottesdienste, verrichtete auch manchen persönlichen Dienst, indem sie eine Anzahl ihrer Bekannten besuchte. Viele Türen, die vorher allen göttlichen Dingen gegenüber verschlossen waren, öffneten sich ihr. Rufe um Gebetsversammlungen hin und her in den Wohnungen wurden laut, so das der liebe Prediger und seine Mitarbeiter immer geschäftig gehalten wurden. Gar manche geistliche Regengüsse waren in diesen Versammlungen in erfrischender Weise herniedergekommen und eine Anzahl Seelen hatten Erlösung erlangt. Eva ging voran und wurde vom Herrn auf mancherlei Weise gebraucht. Auch zum Gebet und Ermahnen bekam sie viel Gnade. Wenige Sünder konnten ihrem Bitten widerstehen, wenn sie mit der flehentlichen Aufforderung an sie herantrat, sich doch mit ihrem Gott versöhnen zu lassen. Am Sonntagabend, es war der letzte Tag, den sie bei der Familie Mills verbrachte, gingen sie alle zusammen in die kleine Kapelle zum Gottesdienst. Auf dem Weg sagte Eva zu Frau Mills, dass sie schon den ganzen Nachmittag eine besondere Last auf dem Herzen habe und kaum wisse, wie sie sie loswerden und auf den Herrn werfen solle. „Was das nur sein mag?“, fragte sie ihre freundliche Gastgeberin.

„Vielleicht will der Herr, dass du uns heute Abend predigst“, antwortete Frau Mills. „Ehe wir von zu Hause fortgingen, sagte mein Mann, dass er noch gar keinen rechten Gedanken gefunden habe und nicht wisse, was er heute den Leuten bringen solle. Er hat einfach keine Botschaft für heute Abend bekommen.“

„Ich – predigen?“, rief Eva. „O Schwester, du weißt, ich bin doch keine Predigerin. Nein, das kann die Last nicht sein, die ich fühle. Der Herr weiß doch, wie unwissend ich bin, und es käme mir doch auch nicht zu, so etwas zu unternehmen. Was würden die Leute von mir denken?“

Frau Mills lachte und sagte: „Nicht was andere von uns denken, sondern was der Herr von uns verlangt, sollte uns am meisten bekümmern. Wir müssen unsere Herzen zu ihm offen halten. Gehen wir so voran, wie Gott es will, so wird er für das Übrige Sorge tragen und mit den Leuten alles recht machen.“

„Ja, aber wie würde es aussehen, wenn ich versuchen wollte, Bruder Mills Platz auf dem Podium einzunehmen?“, erwiderte Eva. „Die Leute kommen heute Abend und erwarten etwas für ihre Seele. Und wenn ich so etwas unternehmen möchte, weiß ich genau, das es heute Abend enttäuschte Leute in St. Elmo geben wird, besonders nach dem Versammlungsschluss. Nein, nein, Schwester, ich glaube, du hast diesmal nicht recht geraten.“

Wieder lachte Frau Mills und als sie zur Kapellentür eintraten, sagte sie: „Meine Liebe, wenn du zu predigen versuchtest, so nähmst du nicht meines Mannes Platz ein, sondern würdest nur deinen eigenen ausfüllen. Du weißt, es gibt im großen Weinberg, in dem wir arbeiten, Raum für alle. Jeder kann seinen Platz ausfüllen, ohne einem anderen Bruder oder Schwester den ihren zu nehmen.“

Herr Mills war den beiden ein Stück vorausgeeilt, und als sie in die Kapelle eintraten, sahen sie ihn eben in einen angrenzenden Raum gehen. Ein paar Minuten später kam er heraus. Auf seinem Gesicht war eine gewisse Unruhe zu lesen. Er setzte sich neben seine Frau und Eva hörte, wie sie ihn fragte: „Was stimmt denn nicht? Hast du nichts für heute Abend?“ Herr Mills seufzte schwer und schüttelte den Kopf.

„Vielleicht will der Herr sehen, ob du in dürrer Zeit ebenso standhaft bist wie in saftiger“, sagte sie. „Jetzt hast du vielleicht gerade einmal dürre Zeit.“

„Das mag sein“, erwiderte Herr Mills. „Der Herr wird mir eine Botschaft geben, wenn er es nicht für angebracht hält, sie einem andern zu geben.“ Und damit stieg er auf das Podium und gab das Eröffnungslied bekannt. Eine bestimmte Zeit wurde mit Gesang und Gebet verbracht, und als die Uhr acht schlug, stand Herr Mills wieder auf und sagte: „Nun, es ist jetzt Zeit fürs Wort, und ich möchte niemandem im Wege stehen.“

Als er diese Worte sprach, kam etwas über Eva, was sie nie vorher kannte. Sie trat auf ihre Füße und es war ihr, als sähe sie eine große Volksmenge einem finsteren Abgrund zueilen. Sie öffnete ihren Mund, um zu rufen und wusste nichts mehr, bis sie wieder auf die Uhr schaute und sah, dass es 8.45 Uhr war. Sie sah auch, dass sie auf dem Podium stand und ihre Bibel geöffnet vor sich liegen hatte. Dann sah sie, wie Herrn und Frau Mills Tränen über das Gesicht herabliefen; sie sah eine Anzahl Gläubige stehen und Gott preisen. Andere weinten. All das konnte sie nicht verstehen und sich an Frau Mills wendend, fragte sie: „Was ist los? Bin ich aufdringlich gewesen oder habe ich jemanden im Wege gestanden?“

„Nein, nein, nein, Kind, du bist niemandem im Wege gewesen. Du hast uns Gottes Wort gegeben, und wir möchten noch mehr davon.“

Eva setzte sich nieder und lehnte ihren Kopf an Frau Mills Schulter und weinte wie ein kleines Kind. Herr Mills gab dann an solche, die den Herrn suchen möchten, eine Einladung, nach vorne zu kommen. Eine Anzahl beugten sich am Altar zum Gebet, worunter sich auch jener junge Mann befand, der vor einigen Tagen Eva die Rolle „Evangeliums-Posaunen“ gebracht hatte. Als Eva an diesem Abend zur Tür hinaustrat, stand ihr Familienarzt vor ihr, erfasste ihre Hand und sagte: „Eva, ich muss es wieder sagen, du bist ein Wunder“. „Nein, Herr Doktor, ich bin kein Wunder. Ich habe nur einen wunderbaren Christus.“

Eva kehrte wieder zur Wohnung der Predigersleute zurück, schlief noch diese Nacht dort und am nächsten Nachmittag brachte sie Herr und Frau Mills zu ihrem Heim zurück. Neuigkeiten fliegen schnell. Der Familie Grant war vom Gottesdienst des gestrigen Abends bereits Verschiedenes zu Ohren gekommen und Eva begegnete einem sehr zornigen Vater. Er verbot Herrn und Frau Mills, den Hof zu betreten, und sagte zu Eva, dass sie nie wieder zu ihnen dürfe. Entweder müsse sie ihre verrückte Religion aufgeben oder das Elternhaus verlassen und nie wiederkommen. Denn er wolle in seiner Familie niemand um sich haben, der sich so zum Spott der Leute mache, wie sie es gestern Abend getan. Nachdem Herr und Frau Mills noch einige ermutigende Worte zu Eva geredet und ihr versprochen hatten, für sie zu beten, fuhren sie weg.

Eva hatte ihren Vater früher oft zornig gesehen und ihn in seinem Zorn manchen Auftritt machen hören. Hinterher war er immer wieder ruhig geworden und hatte es unterlassen, seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Und so dachte sie, dass sich sein Zorn nach einigen Wochen auch wieder legen und sie dann wieder das Vorrecht haben werde, die Gottesdienste besuchen zu dürfen. Sie passte auf, dass sie in seiner Gegenwart den Namen des Herrn nicht nannte, noch auf irgendetwas Religiöses zu sprechen kam. Auch war sie in jeder Weise überaus freundlich zu ihm. Ihre Freundlichkeit und Liebe erstreckte sich auch auf ihre Stiefmutter. Diese fand jetzt nicht mehr so viel Grund, Eva zu tadeln, da sie nun ihren Teil der Arbeit im Haus verrichten konnte und auch getreulich verrichtete.

Eines Sonntags, spät im September, kam die Rohdes-Familie mit ihrem Auto angefahren und fragte Eva, ob sie nicht ein paar Tage zu ihnen kommen wolle. Darauf erwiderte sie: „Da müsst ihr erst Papas Erlaubnis für mich einholen; denn er hat mich seit einigen Wochen nicht von zu Hause fortgelassen.“

„Gut, wir werden uns seine Erlaubnis holen“, sagte Herr Rohdes, stieg aus dem Wagen und schritt auf Herrn Grant zu, der im Hof stand. „Wir kommen eben vorbeigefahren und wollen sehen, ob Eva nicht für ein paar Tage mit uns kommen kann“, sagte Herr Rohdes, als er Herr Grant die Hand entgegenstreckte.

Die dargebotene Hand wurde abgewiesen und Herr Grant schaute ihn mit ärgerlich-zornigem Gesichtsausdruck an. Mit seinem Finger auf den Wagen deutend, rief er: „Steigen Sie wieder in ihr Fahrzeug und machen Sie, dass Sie von hier fortkommen – je eher, desto besser! Gerade so Leute wie Sie sind schuld, dass sie weiter nichts als Unsinn im Kopf hat, und selbst der Teufel nichts mehr mit ihr anfangen kann. Sie geht nicht mit ihnen – überhaupt nie, solange sie dies ihr Heim nennt.“

„Bitte, Papa“, sagte Eva, „lass mich mit ihnen gehen! Ich bin gewiss, dass kein Nachteil entsteht, wenn ich ein paar Tage bei unseren alten Nachbarn verbringe. Und ich bin doch hier nicht so nötig, nicht wahr?“

„Nein, du bist hier nicht so nötig mit deiner verrückten Religion“, gab Herr Grant erregt zur Antwort. „Entweder gibst du deinen Kram auf oder du gibst dein Elternhaus auf. Ich dulde hier keinen solchen Unsinn.“ Dann wandte er sich an Herr Rohdes und sagte: „Je eher Sie gehen, desto lieber ist es mir.“

Eva brach in Tränen aus, als Herr Rohdes ging. Er fuhr ein kurzes Stück die Straße hinunter, dann erzählte er seiner Familie von der Begegnung, hielt den Wagen an und alle weinten miteinander. Sie weinten mit den Weinenden und baten Gott, seinem Kinde doch die Freiheit zu geben, dass sie ihm dienen könne, wie es ihr Herz begehrte.

Am nächsten Morgen packte Eva ihre wenigen Kleider in einen Koffer, ging zu ihrem Vater und sagte: „Papa, ich habe meine Wahl getroffen. Ich liebe dich, wie eine Tochter ihren Vater nur lieben kann. Aber ich liebe meinen Jesus über alles in der Welt. Gern würde ich bei dir bleiben; denn du weißt, ich brauche ein Heim. Und dies ist das einzige Heim, das ich habe. Aber ich kann meinen Jesus nicht aufgeben. Du kannst mich an meiner Liebe zu dir nicht hindern und ich werde auch nicht aufhören, für dich zu beten.“

„Schon gut“, sagte Herr Grant, „aber lass mich bloß in Ruhe und komm mir nicht eher nach Hause, bis ich dich rufen lasse.“

„Ich werde es versuchen, Papa“, sagte Eva. „Aber um etwas möchte ich dich noch bitten, ehe ich gehe, nämlich, dass ich dir kurz etwas vorlesen darf, ja?“

„Meinetwegen, aber was ich gesagt habe, gilt“, erwiderte der Vater. „Entweder du raffst dich zusammen und benimmst dich wie jemand, der ein bisschen Vernunft hat, oder du gehst. Nun triff deine Wahl!“

„Meine Wahl habe ich schon getroffen“, sagte Eva. „Aber dies hier wollte ich dir vorlesen.“ Sie öffnete ihr kleines Testament und las Matth. 19:29: „Und wer verlässt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird’s hundertfältig nehmen und das ewige Leben ererben.“

„Nun denke bloß nicht, dass ich dir nachlaufen werde“, sagte der Vater, „und heul mir nicht, wenn du zu wenig Geld hast; denn du weißt, was du tun kannst.“

„Geld werde ich nie weniger haben als jetzt“, erwiderte Eva.

„Denn ich gehe ohne einen Pfennig in der Tasche. Aber ich setze mein Vertrauen auf den Herrn und bin gewiss, dass er für mich sorgen wird.“ Indem sie ihren Arm um ihres Vaters Hals legte, küsste sie ihn auf die Wange und sagte: „Auf Wiedersehen, Papa! Ich bin sicher, eines Tages wirst du nach mir schicken.“ Dann setzte sie den Hut auf, nahm ihren Koffer, der all ihre Habseligkeiten enthielt, und schritt durch den Torweg die Straße hinab. Wie schwer war ihr Herz trotz des Bewusstseins der Gegenwart Gottes! Ein Stück weit gegangen, drehte sie sich um, um noch einmal auf ihr einstiges Heim zu schauen, und brach in Tränen aus. Aber sie rief den Herrn an, empfing neue Kraft und, Loblieder Gottes singend, wanderte weiter.

„Jetzt geht es mir wie dem Heiland“, sagte sie vor sich hin, als sie sich an diesem Septembermorgen die staubige Landstraße entlang schleppte. Denn er sagte: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege“ (Lk.9:58). Und das ist auch meine Lage. Da er vor mir den Weg gegangen ist, weiß er auch für mich zu sorgen, und ich will mich auf ihn verlassen.“

Als sie in gewisser Entfernung von ihrem Elternhaus die Spitze einer Anhöhe erreicht hatte, blieb sie stehen, um noch das letzte Mal lange zurückzuschauen. Armes Mädchen, sie wusste nicht, wie lange es dauern würde und unter welchen Umständen sie wieder durch seine Tore eintreten würde.