Eva vertraut Gott

Als Eva an diesem Septembermorgen ihr Heim verließ, wusste sie nicht, wo sie hin sollte, noch was das Verlassen des elterlichen Hauses für sie bedeuten würde. Aber sie ging im Vertrauen auf den Herrn, der ihr mehr war als alles in der Welt. Er hatte doch schon so oft ihre Gebete erhört. Eine innere Gewissheit, dass er sie auch jetzt nicht verlassen werde, machte ihre Schritte fest und sicher. Immer wieder kam ihr die Verheißung aus Ps. 27:10 in den Sinn: „Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf.“

Es waren vierzehn Meilen bis St. Elmo. Und doch lenkte sie ihre Schritte zu den guten Predigersleuten. Sie wusste, dass sie in ihnen treue Freunde finden würde, die ihr auch raten konnten, welchen Weg sie in Zukunft einschlagen solle. Zu Fuß, allein und ohne einen Pfennig in der Tasche schleppte sie sich dahin, nicht wissend, wie sie das Ziel erreichen soll. Aber sie hatte ihre Wahl getroffen und ihr Vertrauen auf Gott gesetzt, dass er sie versorge.

Kaum war sie weiter als eine Meile gegangen, fuhr ein Wagen an ihr vorbei und sie erkannte darin ihren Nachbar Bleiler.

Er hielt an und forderte sie freundlich auf, mitzufahren – ein Anerbieten, das ihr sehr willkommen war. Als sie sich auf den weichgepolsterten Sitz niederließ, konnte sie sich nicht mehr länger halten und machte ihrem übervollen Herzen dadurch Luft, dass sie in Tränen ausbrach. Sie empfand, dass sie eine nähere Erklärung schuldig sei. So erzählte sie Herrn Bleiler ihr Ergehen und beide weinten. Sie erzählte, wie ihr Vater Herrn Rohdes behandelt habe, was er zu ihr gesagt und wie er sich sogar zu dem Ausspruch hatte hinreißen lassen, „dass selbst der Teufel nichts mehr mit ihr anfangen könne“. Herr Bleiler saß eine Zeitlang still da, innerlich so ergriffen, dass er unfähig war zu sprechen. Schließlich sagte er: „Nun, Fräulein Eva, Sie wissen, dass ich überhaupt kein Religionsbekenntnis habe. Aber wenn ich etwas von Religion verstehe und Sie dahin gekommen sind, wo selbst der Teufel nichts mehr mit Ihnen anfangen kann, so will es mir scheinen, dass Sie an einem guten Platz angelangt sind, wo Gott Sie gebrauchen kann. Ich habe immer gehört, dass die zwei nicht miteinander arbeiten können, und dass man nur der Diener des einen oder des anderen sein kann. Ich verstehe nicht, wie Ihr Vater eine solche Stellung gegen sein eigenes Kind einnehmen kann und dazu gegen ein körperlich so schwaches, wie Sie sind. Wären Sie stark und arbeitsfähig genug, sich selbst durch die Welt zu schlagen, so würde mir’s nicht so herzlos scheinen. Mein Heim ist nicht groß und fein, aber so wie es ist, biete ich es Ihnen an. Sie sind uns herzlich willkommen und können bei uns bleiben, solange es Ihnen gefällt.“ Und indem er in die Tasche griff, zog er einen Geldschein hervor, reichte ihn Eva hin und sagte: „Ich kann Sie nicht ohne einen Pfennig in der Tasche weiterziehen sehen. Hier, nehmen Sie dies und denken Sie daran, dass wenn Sie je einen Freund brauchen, Sie in Ihrem alten Nachbar einen solchen finden.“

Eva zögerte. Sie wusste nicht, ob sie das Geld annehmen sollte oder nicht. „Warum zögern Sie?“, fragte Herr Bleiler. „Erwarten Sie vom Herrn, dass er Geld in ihren Schoß regnen lässt, wenn Sie welches brauchen? Ohne Zweifel brauchen Sie jetzt Geld. Sie sollten es annehmen, und ich werde viel befriedigter sein, wenn Sie es nehmen.“ Daraufhin nahm Eva den Zehndollarschein aus seiner Hand entgegen – eine Summe, die sie nie zuvor ihr eigen hatte nennen können. Wie dankte sie ihm dafür; doch am meisten dankte sie dem Herrn. Denn sie empfand, dass er wirklich für sie sorgte und dass sie sich für all ihre Bedürfnisse auf ihn verlassen könne. Herr Bleiler ließ Eva bei der Familie Mills und sie musste ihm versprechen, ihn zu benachrichtigen, wenn sie sich je in Not befinde würde.

Der November war bald zu Ende und der raue Dezember mit seinen kalten, beißenden Winden nahte heran. Mit ihm kam auch ein Brief an Eva von ihrer Schwester Neva, die damals im mittleren Teil des Staates wohnte. Der Brief enthielt die Bitte, den Winter doch bei ihr zu verbringen, da sie sie wirklich brauche. Eva erwiderte ihr, dass sie gern kommen werde, sobald sie das Fahrgeld beisammen habe. Einige Tage später kam wieder ein Brief, der gleichzeitig die nötigen Mittel zur Bahnfahrt enthielt. Eva hatte nämlich den Herrn gebeten, ihr doch das Wiedersehen mit ihrer Schwester Neva zu ermöglichen. Und nun war nicht nur das Wiedersehen ermöglicht, sondern es öffnete sich für sie auch ein Heim für den Winter. Dazu sollte sie auch Gelegenheit haben, Gottesdienste zu besuchen. Neva hatte sich große Sorgen um Eva gemacht, als der Winter herannahte; denn sie fürchtete, dass für sie nicht gesorgt sei. Nachdem sie mit ihrem Mann darüber gesprochen hatte, waren sie übereingekommen, sie zu sich zu nehmen, damit sie nicht der Kälte ausgesetzt sein müsse.

Wie froh war sie, wieder mit ihrer Schwester zusammen zu sein und auch das vier Monate alte Söhnchen zu hegen, das Neva bei ihrer Ankunft stolz in ihre Arme legte. Trotz allem, was sie durchmachte, war Eva sehr glücklich und ihr Eifer für den Herrn kannte keine Grenzen. Wie hatte sie doch jemanden so nötig, der ihr helfen und sie unterweisen konnte, denn ihre Fehler waren mannigfaltig. Am neuen Platz leitete eine Schwester die Versammlung. Sie erwies sich recht treu zu ihr und unterließ es nicht, sie zu ermutigen und, wenn es nötig war, ihr den nötigen Rat zu erteilen. Sie verstand es gut, jungen Kindern in Christus über ihre Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Eva verbrachte viele Stunden in ihrem Heim, wo sie ihr Herz so recht öffnen konnte und viel nötige Hilfe empfing. Obwohl sie viele Fehler machte, wurden sie doch nie wiederholt, nachdem man es ihr gesagt hatte. Sie machte gewissermaßen nur Meilensteine daraus, die sie weiter voran und näher zum Herrn brachten. Sie entwickelte sich schnell, denn sie hatte doch ein großes Verlangen, dem Herrn eine gute Dienerin zu sein. Mit allem Ernst ihrer Seele suchte sie ihn, damit er einen solchen Menschen aus ihr machen könne, wie er es haben wolle. In ständigem Umgang mit dem Herrn entwickelte sie sich zu einer Persönlichkeit von solcher geistlicher Stärke, dass ihre äußerlich gekrümmte Gestalt ganz in den Hintergrund trat und alle, die mit ihr in Berührung kamen, den tiefen Reichtum ihres Lebens verspürten.

Der Winter war vergangen, Regenwetter hatte eingesetzt und Eva zog sich eine schwere Erkältung zu, von der sie einige Wochen lang nicht genas. In Verbindung mit der Erkältung öffneten sich wieder drei Stellen in ihrer Seite, aus denen ihre Lunge erneut Eiter absonderte. Wie entmutigte sie das manchmal! Aber trotz aller Anzeichen, die zu ernster Besorgnis hätten Anlass geben können, hielt sie sich fest an Gott und bekannte Heilung. Sie dachte an ihr Versprechen, dass sie ihm damals gab, als alle Zweifel geschwunden waren und sie das zweite Mal Heilung erlangt hatte. Sie stützte sich auf seine Verheißungen, wissend, dass alles nur eine List des Satans und eine Probe des Glaubens sei. Noch andere Leiden gesellten sich dazu; aber sie widerstand ihnen im Namen des Herrn und behauptete den Sieg. Mit den körperlichen Leiden gab es auch andere Dinge in der Versammlung und im Heim zu tragen, die sie in den verborgenen Umgang mit dem Herrn trieben. Dort konnte sie ihr Herz vor ihm ausschütten und die vielbenötigte Gnade erlangen, den rechten Kampf zu führen und ein rechtes Vorbild zu sein, wie sie es zu sein wünschte. In der Versammlung war ein junges Mädchen, das Eva sehr als Freundin begehrte, aber die ihr fast grollte. Zahlreich waren die unfreundlichen Bemerkungen, die über sie gemacht wurden. Und nicht selten offenbarte sich eine beleidigende Geringschätzung ihr gegenüber, so dass sie oft mit Tränen in den Augen nach Hause ging. Aber trotz allem behandelte Eva alle so freundlich und offenbarte solch einen Geist der Liebe, dass sich die Herzen für sie erwärmten. Sie erlangte genug Gnade, um sich über geringschätzige, unfreundliche Bemerkungen noch freuen zu können und fühlte, dass Gott sie sicher hindurchbringen werde wie das geläuterte Gold. Ihr ganzes Vertrauen setzte sie auf ihn.

Als der Monat Juni näher rückte, bereiteten sich eine Anzahl Geschwister aus der Versammlung vor, die Lagerversammlung zu besuchen, die in Anderson, Indiana, stattfinden sollte. O wie Eva sich sehnte, auch gehen zu können! Wieder besuchte sie ihre Predigerin und sagte ihr von ihres Herzens Sehnen.

„Warum machst du dich nicht bereit?“, fragte diese, nachdem Eva ihr Verlangen kundtat. „Ich wüsste nicht, was dich abhalten sollte. Und wenn du gehen willst, bleibe ich gern daheim und lasse dich an meiner Statt gehen. Denn ich glaube, du hast die Versammlung nötig.“

„O, das könnte ich nie tun“, erwiderte Eva. „Ich würde mir ja wie ein Dieb vorkommen. Schwester, ich weiß, du willst diese Versammlung besuchen, und ich werde dir keinesfalls die Gelegenheit rauben.“

„Eva, vertraust du auf den Herrn, ohne seine Macht zu beschränken?“, fragte die Predigerin freundlich. „Kannst du einige Dinge nennen, die er für dich getan hat?“

„Sicher kann ich das“, erwiderte Eva. „Er hat mir Kleidung, ein Heim, Brüder und Schwestern und wirklich liebe Väter und Mütter gegeben. Und ich glaube nicht, dass seine Macht irgendeine Grenze hat.“

„Warum vertraust du ihm dann nicht, dass er dich mit den nötigen Mitteln versieht, die Lagerversammlung zu besuchen?“, sagte sie. „Du hast doch deine Lieblingsverheißung: „Bittet, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren“ nicht vergessen, nicht wahr?“

„Ich werde es tun“, sagte Eva schnell. „Ich bin gewiss: Der Gott, der mich aus unbekannter Quelle mit einer Bibel versorgte, kann mich auch mit Mitteln versorgen, dass ich die Lagerversammlung besuchen kann. Hilf mir beten, Schwester, dass mir der Herr den Besuch der Lagerversammlung ermöglicht!“ 

„Sicher will ich das tun“, erwiderte die Predigerin. „Wir wollen ihn gerade jetzt darum bitten“. Sie knieten nieder und sie flehte zum Herrn, Eva doch zu helfen, ihren Glauben zu stärken und sie mit den nötigen Mitteln zu versehen, dass sie mit den anderen Geschwistern aus der Versammlung zur Lagerversammlung nach Anderson fahren könne.

Eva ging nun wieder heim zu ihrer Schwester. In ihrer Seele hatte sie Zuversicht und Vertrauen, obwohl der Feind zeitweise mit Zweifeln kommen wollte. Aber Eva hatte immer dem Herrn vertraut und ihn in all seinen Verheißungen treu erfunden, so dass Zweifel nicht lange bleiben konnten. Woher das Geld herkommen sollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Aber sie fragte nicht danach, auf welche Weise es kommen würde, sondern war willig, es dem Herrn zu überlassen.

Am nächsten Tag sandte Neva sie in die Stadt, um etwas einzukaufen. Und da es ein prächtiger Tag war, entschloss sie sich, zu Fuß zu gehen, anstatt mit der Straßenbahn zu fahren, wie sie es gewohnt war. Der Gang war sehr ermüdend für sie. Und als sie in der Nähe des Geschäftsviertels eine Parkanlage erreichte, setzte sie sich auf eine der Bänke nieder, um ein wenig auszuruhen. Während sie dort saß, kam ein junger Mann und setzte sich auf eine Bank, die etwa in drei Meter Abstand neben der ihren stand. Bald kam ein anderer junger Mann und fing an zu reden mit dem ersten jungen Mann, der in ihrer Nähe saß. Eva hatte ihn nicht besonders beachtet. Aber als sich die beiden unterhielten, konnte sie alles deutlich hören und bemerkte, dass der erste junge Mann schwer sprechen konnte und zwischendurch immer husten musste. Aus der Unterhaltung der beiden erfuhr sie, dass er eben aus Colorado zurückgekehrt sei, wo er sich einige Monate zwecks Wiedererlangung seiner Gesundheit aufgehalten hatte. Aber statt dessen habe er nur eine allmähliche Verschlimmerung erfahren, so dass ihn die Ärzte wieder heimgeschickt hatten, weil sein Fall unheilbar war.

Als Eva dieser Unterhaltung lauschte, wurde ihr Herz für den jungen Mann mit Mitleid erfüllt. Sie dachte daran, was aus ihr geworden wäre, wenn Gott nicht seine heilende Hand ausgestreckt hätte. Sie stand auf und trat vor den jungen Mann. Da sie immer ein kleines Testament bei sich hatte, zog sie es aus ihrer Handtasche hervor, öffnete es und sagte: „Verzeihen Sie, bitte, wenn ich aufdringlich zu sein scheine. Aber ich habe hier gesessen und konnte es nicht verhindern, ihre Unterhaltung zu hören. Ich bin so froh, dass ich dem jungen Mann sagen kann, dass es noch eine Hoffnung für ihn gibt.“ Dann erzählte sie ihm ihre Erfahrung, las ihm Gottes Verheißungen vor und mit aller Inbrunst ihrer Seele bat sie ihn, alles Gott zu übergeben und das anzunehmen, was sein Wort sagt.

Sie war von dem Gedanken, dem jungen Mann Hilfe zu bringen, so erfüllt, dass sie nicht bemerkte, was um sie herum vorging. Als sie den jungen Mann anschaute, sah sie, dass ihm die Tränen an den Wangen herabliefen und dass er sehr bewegt war. „O Bruder“, sagte sie, „wir haben einen Gott, der alle Macht besitzt. Und wenn Menschen nicht mehr helfen können, ist noch eine unbegrenzte Kraft in dem mächtigen Arm Gottes. Ich will ihnen noch etwas vorlesen und dann muss ich gehen. In Hebr. 13:8 steht: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“. Gestern das meint die Zeit, wo er die Aussätzigen reinigte, die Toten auferweckte und arme Unglückliche, ähnlich wie Sie und ich, heilte. Heute – das meint die gegenwärtige Zeit; und in Ewigkeit – das schließt alle Zeit in sich, die noch vor uns liegt.“

„Nun will ich Ihnen noch die Verheißung lesen, die ich meine Verheißung nenne, und auf der ich ruhe. In Joh. 15:7 steht:

„So ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.“ Bruder, ich habe den Herrn auf diese Verheißung hin geprüft, und er hat nie versagt. Ich bin in ihm geblieben und habe sein ganzes Wort nach bestem Wissen in mir wohnen lassen. Und wo ein Mangel vorhanden war, habe ich ihn gebeten, mir das Verständnis zu öffnen. Wenn ich dann zu ihm komme, kennt er mein Herz, und ich kann ihm sagen, dass ich in ihm bleibe, und dass seine Worte in mir bleiben. Und ich habe das Vertrauen, dass er handeln werde, wie er verheißen hat. Ich habe ihn um Kleidung gebeten, und er hat sie mir gegeben. Er hat mir auch ein Heim gegeben. Er versah mich mit Briefpapier und frankierten Umschlägen, so dass ich an meine Schwester schreiben konnte, und gab mir eine Bibel. Aber vor allem, wenn ich zu leiden hatte und die Berührung seiner heilenden Hand benötigte, konnte ich mich auf diese Verheißung verlassen, denn ich blieb wirklich in ihm. Und als ich ihn um Heilung bat, wies er mich nicht ab; denn seine Verheißungen sind wahr und können nimmermehr wanken.“ Indem sie ihm die Hand zum Abschied reichte, sagte sie noch: „Bruder, ich werde Sie auf meine Gebetsliste schreiben. Und wenn Sie Gott von ganzem Herzen suchen, werden Sie nicht fehlgehen und können meine Verheißung ebenfalls zu Ihrer Verheißung machen, damit das, was Sie bitten, Ihnen widerfahren wird.“

Sie wandte sich, um zu gehen. Eine tiefe Röte stieg ihr in die Wangen, als sie die Schar erblickte, die sich, während sie sprach, versammelt hatte. „Fräulein, diese Rede war mir einen Dollar wert“, sagte der junge Mann, der sich zuerst mit dem Kranken unterhalten hatte. Und von der Menge ertönte es: „Und mir auch, mir auch, mir auch.“ So nahm er seinen Hut, reichte ihn unter der Schar herum und händigte Eva vier und einen halben Dollar aus. Mit Tränen in den Augen dankte sie und ging davon.

Da der junge Mann in unserer Geschichte nicht mehr erwähnt wird, sei noch gesagt, dass Eva einige Wochen später ihn noch einmal traf und zwar gesundheitlich bedeutend besser. Er sagte ihr, dass er ihre Verheißung auch zu der seinen gemacht habe und nun wieder in den Westen gehe, nach Arizona, wo seine Schwester wohne.