Die Lagerversammlung

Als Eva an jenem Nachmittag den Park verließ, flüsterte ihr der Feind zu: „O, was hast du nun getan? Du hast dem jungen Mann gesagt, du seist geheilt. Und du weißt doch, dass du drei eiternde Öffnungen in deiner Seite hast, und deine Gestalt ist so gekrümmt. Wie kannst du jemandem vorreden, du seist geheilt? Wärst du doch lieber still gewesen, bis du in Wahrheit deine Heilung bezeugen kannst. Denn wenn du vollkommen geheilt bist, wird deine Gestalt aufrecht sein, und dann wirst du mit deiner ganzen Person ein Muster der Heilung darstellen. Aber darüber, wie du nun bist, werden die Leute nur spotten.“ Diese und viele ähnliche Gedanken durchflogen Evas Gemüt, als sie den Park verließ. Niedergeschlagen und bedrückt lenkte sie ihre Schritte ins Heim der Predigerin.

Als die Predigerin auf ihr Klopfen „Herein!“ rief, fiel ihr Eva in die Arme und fing an zu weinen wie ein Kind, das für eine unrechte Tat schwer bestraft worden ist. Es dauerte eine Zeit, ehe sie sich fassen und reden konnte. „O Schwester“, sagte sie, „ich habe etwas Schreckliches getan. Ich weiß, dass du mich dafür schelten wirst.“ Dann fing sie wieder an zu weinen.

„Nein, meine Liebe“, erwiderte die Predigerin, als sie Eva in mütterlicher Weise in ihre Arme zog, „ich werde dich nicht schelten. Denn wenn du etwas Unrechtes getan hast, so bist du sicher schon genug dafür bestraft. Aber setze dich nur und erzähle mir alles.“

„Willst du mir versprechen, dass du mich nicht schiltst?“, fragte Eva, als sie sich neben ihr niederließ.

„Ja, ich will dir versprechen, dass ich dich nicht schelte. Aber wenn du einen Fehler begangen hast, so werde ich dich darauf aufmerksam machen müssen. Ich möchte überhaupt niemanden schelten. Nur wenn ich sehe, dass jemand irrt, möchte ich warnen. Aber sage schnell, was hast du Schreckliches getan?“

Eva berichtete den erwähnten Vorfall im Park und die Schwester Predigerin lauschte gespannt, bis sie ihre Geschichte beendet hatte.

„Wie viel Geld hast du erhalten?“, fragte sie.

„Vier und einen halben Dollar“, erwiderte Eva. „Und was soll ich damit machen? Ich weiß es nicht. Es ist mir gar nicht wohl dabei. Zurückbringen kann ich’s nicht, und wie hätte ich’s verweigern können, wo sie’s doch gerade für mich zusammengelegt haben? Und nun frage ich mich: War es unrecht, dass ich dem jungen Mann von meiner Heilung erzählte? Und bin ich geheilt, wenn ich drei eiternde Wunden in meiner Seite habe?“

„Ich kann nur eine Frage auf einmal beantworten“, erwiderte die Predigerin. „Erst die Frage, was du mit dem Gelde anfangen sollst.“ Auf die Ecke des Zimmers deutend, wo sie am gestrigen Nachmittag zusammen niedergekniet und Gott um die Mittel für die Reise zur Lagerversammlung gebeten hatten, sagte sie:

„Weißt du noch, wie wir gestern Gott gebeten haben, dir die Mittel zum Besuch der Lagerversammlung zu geben? Und du sagtest doch, dass du’s Gott überlassen wollest, auf welche Weise er dir es schicke. Und du wolltest willig sein, es anzunehmen, woher immer es auch komme.“ Eva nickte. „Gott kann ebenso eigenartige Wege gehen, dich mit Geld zu versehen, wie er dich mit einer Bibel versah. So behalte das Geld und sage dir, dass Gott es dir so gesandt hat, wie er dir eine Bibel sandte.“

„Zweitens, ob du Unrecht getan hast, dem jungen Mann von deiner Heilung erzählt zu haben. Deine Frage ist für mich doch sehr belustigend. Du warst so voll von dem Wunsch, andern von der Heilkraft Gottes zu erzählen, und nun, wenn du Gelegenheit hast, vor einem Leidenden davon zu zeugen, fühlst du, als ob du Unrecht getan habest und Schelte verdientest. Gott heilte dich zu seiner Verherrlichung, und wie kannst du ihn besser verherrlichen, als wenn du andern, die die Heilung gerade so brauchen, wie du sie brauchtest, davon erzählst? Gott will nicht, dass wir selbstsüchtig sein sollen. Darum hat er gesagt: „Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch“. Wie er es uns gibt, so erwartet er von uns, dass wir es andern geben. Nein, Schwester, du hast nicht Unrecht getan. Erzähle es überall, wo du nur kannst, damit andere, die ebenso hungrig und bedürftig sind, wie du es warst, hören, dass es noch eine Hoffnung für sie gibt, nachdem alles andere fehlgeschlagen und versagt hat. Nur pass auf, dass du deine Perlen nicht vor die Säue wirfst und diese sie dann zertreten.“

„Und jetzt zu deiner letzten Frage, ob du geheilt bist. Du weißt, dass der Herr dich wirklich geheilt hat, als du dich im völligen Glauben auf seine Verheißungen stelltest. Was warst du doch für ein elendes, hilfloses Geschöpf! Aber als der Herr seine heilende Hand ausstreckte, konntest du aufstehen. Ja nicht allein das, du konntest nach dem Willen des Herrn dein Heim verlassen und vieles auf dich nehmen, was dir vorher unmöglich gewesen wäre. Auch die Wunden in deiner Seite waren verschwunden. Sicher kannst du die Heilung Gottes bezeugen und mit dieser deiner Erfahrung andere ermutigen. Nun sind in Verbindung mit deiner letzten Erkältung allerdings wieder Wunden in deiner Seite aufgebrochen. Und augenblicklich befindest du dich in einem Zustand, in dem du nicht sagen kannst, dass du völlig geheilt bist. Aber das hast du dem jungen Mann doch auch nicht gesagt. Du hast ihm von der Erfahrung berichtet, die du wirklich gemacht hast. Und jetzt stehst du in einer neuen Probe des Glaubens. Der Feind versucht, alles zunichte zu machen. Und dadurch, dass du auf dem Weg hierher seinen Einflüsterungen Gehör geschenkt hast, sind so entmutigende Gefühle über dich gekommen. Bedenke, gerade in dem Maße, wie du glaubst und die Verheißungen des Herrn dir aneignest, wirst du die Hilfe wirklich erfahren, und du wirst sie jetzt erfahren. Gib dem Teufel und den entmutigenden Gefühlen keinen Raum. Schlage ihn in die Flucht und eile hin zum Kreuz auf Golgatha, wo dir der Herr auch die Heilung deines Leibes erwirkt hat wie alles andere.“

Eva stand auf, stampfte mit dem Fuß auf den Boden und sagte zu dem unsichtbaren Feind: „Gehe hinter mich, Satan, ich habe lange genug auf dich gehört. Ich glaube und erhebe Anspruch auf den Verdienst Christi, ungeachtet dessen, was du mir einflüstern und was du sonst unternehmen magst.“ Als sie sich wieder hinsetzte, sagte sie: „Aber Schwester, ich habe doch nur 4,5 Dollar, und ich gebe doch dem Herrn immer den Zehnten. Das sieht nicht so aus, als ob es Mittel für die Lagerversammlung seien.“

„Um was hast du den Herrn in deiner Bitte betreffs des Besuchs der Lagerversammlung in Anderson gebeten?“, forschte die Predigerin.

„Ich bat ihn, mir die Mittel zu geben, dass ich reisen kann“, erwiderte Eva.

„Und wie viel brauchst du dazu?“, fragte die Predigerin weiter.

„Am Sonntagmorgen fährt ein Sonderzug nach Indianapolis“, sagte Eva. „So weit könnte ich für 2,75 Dollar fahren. Aber ich weiß nicht, wie viel es von dort aus noch kostet.“ „Aber ich weiß es“, erwiderte die Predigerin. „Ich bin diese Strecke schon öfters gefahren. Es kostet 1,30 Dollar. Wenn du nun von dem Betrag, den du im Park erhieltest, dem Herrn den Zehnten gegeben hast, wie viel fehlt dir dann noch zur Fahrkarte?“

Ein Lächeln flog über Evas Gesicht, als sie sagte: „Ich habe ganz genau den Betrag. Aber wie steht’s dann um meine Rückreise, und wie soll ich mich während der Lagerversammlung durchschlagen?“

„Vertraust du auf Gott, Eva?“, fragte lächelnd die Predigerin und schaute auf ihr verdutztes Gesicht. „Meinst du nicht, wenn er dir das Geld zur Hinreise gibt, dass er dich auch dort versorgen wird? Fasse deine Lieblingsverheißungen nur noch etwas fester und dann bitte, was du willst.“

„Ich fahre zur Lagerversammlung“, sagte Eva und stand auf. Als sie auf die Uhr schaute, sah sie, dass der Nachmittag fast vergangen war. Und sie hatte die Einkäufe für Neva noch nicht besorgt. Nach kurzem Austausch einiger Worte und einigen Fragen betreffs der Gottesdienste am folgenden Sonntag, nahm sie Abschied und ging. Als sie die Tür hinter sich zumachte, wiederholte sie nochmal: „Ich fahre zur Lagerversammlung und vertraue auf Gott!“ Nachdem Eva gegangen war, begab sich die Predigerin auf die Knie, schüttete ihr Herz vor Gott aus und betete für das Mädchen, das um seinetwillen verstoßen wurde und willig war, um seines Namens willen der Welt entgegenzutreten. Auch betete sie, dass sie Evas Verheißung auch in größerem Maße zu ihrer eigenen Verheißung machen möchte, um ihrem Gott noch völliger zu vertrauen. In der gewissen Zuversicht, dass Gott sie erhört habe und auf seine ihm wohlgefällige Weise antworten werde, stand sie auf.

Die Zeit der Lagerversammlung rückte näher heran und Eva eröffnete ihrer Schwester Neva ihren Plan. Die Schwester versuchte, sie zum Daheimbleiben zu überreden, aber Eva erwiderte: „Ich vertraue auf Gott und weiß gewiss, dass er mich versorgen wird.“ Da sie sah, dass Eva von ihrem Plan nicht abzubringen war, gab sie nach und half ihr schwesterlich bei allen Vorbereitungen. Sie hatte Stoff zu einem neuen Kleid, das sie noch anfertigte und Eva gab. Auch lieh sie ihr eine Anzahl von ihren eigenen Kleidern, was Eva gut zustatten kam. Und wie war sie für alles so herzlich dankbar! In jeder Weise konnte sie sehen, dass Gott seine Hand ausgestreckt hatte, ihr zu helfen.

Der Sonntagmorgen ihrer Abreise brach an. Jene vier Dollar und fünf Cent wurden in ihr Geldtäschchen getan. Niemand wusste etwas über Evas Verhältnisse, ausgenommen die Predigerin und ihre Schwester. Frühzeitig stand sie auf. Da merkte sie, dass Neva noch vor ihr aufgestanden war und einen guten Imbiss vorbereitet und für die Reise eingepackt hatte. Es war so viel, dass es ihr für mehrere Mahlzeiten reichte. Als Eva ihrer Schwester den Abschiedskuss gab, drückte ihr Neva 2,5 Dollar in die Hand und sagte: „Nimm dies, Eva, es ist alles, was ich habe. Mit Everetts Erlaubnis habe ich’s meinem wöchentlichen Haushaltsgeld entnommen. Ich wünsche, ich könnte dir mehr geben; denn das scheint eine kleine Summe zu sein, wenn man eine Lagerversammlung besuchen will.“

„Gott wird alle meine Bedürfnisse decken“, erwiderte Eva.

„Und nicht das allein. Ich werde als ein gesundes Mädchen zurückkehren.“ Sie stellte sich an Nevas Seite, um sich mit ihr zu messen, und sagte: „Eines Tages werde ich ebenso gerade neben dir stehen, wie du bist, und werde so viel wiegen wie du wiegst, wenn nicht noch mehr.“ Mit einem fröhlichen „Ha, ha!“ und unter freudigem Winken ging sie zur Bahn.

Als Eva zur Bahnstation kam, standen dort schon einige, und andere kamen noch hinzu. Es war eine fröhliche Schar. Aber niemand unter ihnen war glücklicher als Eva, und keiner hatte einen so knappen Geldbörseninhalt wie sie. Niemandem offenbarte sie dies Geheimnis. Aber sie setzte ihr Vertrauen auf Gott und wusste, dass er sie versorgen werde. Nachdem sie in Indianapolis die Fahrkarte kaufte, war sie noch im Besitz der 2,5 Dollar, die ihr Neva nebst dem Imbiss, der für etwa drei Mahlzeiten reichte, gegeben hatte. In Anderson angekommen, zahlte sie dem Fahrer fünfzehn Cent für die Fahrt zum Lagerplatz, so dass ihr noch 2,35 Dollar blieben. Beim Anmelden im Verwaltungsbüro hatte sie für eine Schlafstelle im Schlafsaal 1,25 Dollar zu entrichten. Und da sie von allem, was sie bekam, dem Herrn den Zehnten gab, benützte sie die Gelegenheit am ersten Abend. Als die Kollekte gesammelt wurde, gab sie ein Vierteldollarstück – den Anteil des Herrn an dem Betrag, den ihr Neva am Morgen gab. So blieben ihr noch 85 Cent. Und sie war gekommen, um während der ganzen Versammlungswoche hier zu bleiben.

Am Montag stand sie früh zum Morgengebetsgottesdienst auf. Und da es Gelegenheit gab, erhob auch sie sich und gliederte den Zeugnissen anderer auch ihr Zeugnis an.

Gott bewegte die Herzen, als sie erzählte, wie sie von zu Hause vertrieben worden sei, weil sie sich dem Herrn ergeben hatte. Viele der Kinder Gottes weinten, während sie schilderte, wie Gott immer ihre Bedürfnisse gedeckt hatte. Nur die Reise zur Versammlung erwähnte sie nicht. Das war ein Geheimnis zwischen ihr und Gott. Am Schluss der Versammlung, als sie eben den Versammlungssaal verlassen wollte, begegnete ihr an der Tür ein Bruder, der sie leise an der Schulter berührte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er redete sie dann mit den Worten an:

„Ich bin durch Ihr Zeugnis heute morgen sehr bewegt worden. Und während Sie redeten, sagte der Geist zu mir: „Bekunde ihr dein Mitgefühl durch die Tat wie durch Worte“. So, hier ist ein Beweis meiner Wertschätzung für eine Person, die willig ist, der Welt entgegenzutreten und sich ganz auf Gott zu verlassen, wie Sie es getan haben.“ Und er überreichte Eva eine Zehndollarnote, die sie entgegennahm und ihm von ganzem Herzen dankte.

Im Laufe des Tages gab ihr eine Schwester fünf Dollar, so dass sie im ganzen fünfzehn Dollar hatte. Nachdem sie dem Herrn seinen Anteil gegeben hatte, blieben ihr noch 13,5 Dollar für ihre Bedürfnisse während der Lagerversammlungswoche. Gott hatte seine Verheißung bestätigt: „Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben“ (Lk. 6:38). Mit Freuden suchte sie ihre Predigerin auf, die auch zur Lagerversammlung gekommen war, um ihr diese gute Neuigkeit mitzuteilen. „Jetzt, da Gott meine Bedürfnisse gedeckt hat, kann ich auch für andere beten“, sagte sie.

Die ganze Lagerversammlung schien Eva ein wunderbarer Traum zu sein. Oft sagte sie nach Anhören einer köstlichen Botschaft, die ihr Herz erhoben und gestärkt hatte: „Wenn dieses Zusammenkommen von nur ein paar Kindern Gottes auf dieser Erde schon so herrlich ist, wie wird es sein, wenn wir eines Tages alle im Himmel uns treffen werden!“ Es war gewisslich eine herrliche Zeit für alle, und sie freute sich umso mehr, da sie empfand, dass Gott ihr den Weg gebahnt hatte und er es war, der sie so vollkommen versorgte.

Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, dem Herrn in der Taufe zu folgen. Nun aber war sie beim ersten Taufgottesdienst die Erste im Wasser. Und als sie dem Herrn in dieser Demutshandlung gehorsam geworden war, fühlte sie, dass sie sich noch stärker auf die in Joh. 15:7 gegebene Verheißung Gottes verlassen und noch völliger Gott vertrauen kann. So lenkte sie am darauf folgendem Tag ihre Schritte in den Gebetsraum, wo Gebete für die Hilfsbedürftigen emporgesandt wurden. Und als Bruder E. E. Byrum und Bruder J. W. Byers ihr die Hände auflegten und beteten, dass Gott sie heilen möge, ging die Kraft Gottes durch ihren Leib und sie fühlte, dass das Werk geschehen sei. Am nächsten Tag schlossen sich die Öffnungen in ihrer Seite und brachen nie wieder auf. Sie war vollständig geheilt.

Ein paar Tage vor dem Schluss der Lagerversammlung traf Eva auf dem Lagergrund einen alten Freund, der sie fragte, ob sie mit ihm in seinem Auto heimreisen wollte. Ein mit ihm gekommener Versammlungsbesucher war nach Hause gerufen worden und so gab es für sie einen freien Platz. Dankbar nahm Eva dieses Anerbieten an, da es ihr das Reisegeld ersparte. Und da sie auch während der Lagerversammlung sehr wirtschaftlich gewesen war, hatte sie, daheim angekommen, noch 6,70 Dollar – fünfzehn Cent mehr als bei ihrer Abreise.

Viel gab es nun ihrer Schwester zu berichten. Aber vor allem konnte sie erzählen, wie Gott für sie gesorgt und wie er sie geheilt hatte, so dass sie nun wieder ein ganz gesundes Mädchen war. Gott verlässt die Seinen nicht – das hatte sie in treffender Weise erfahren. Sie wusste: Wenn sie in ihm blieb und seine Worte in ihr blieben, so konnte sie bitten, was sie wolle, und es würde ihr widerfahren. In der Tat, Gott lenkte alles wunderbar und führte es herrlich hinaus.