Evas Traum

Am nächsten Morgen fuhr Eva aus dem Schlaf, durch einen höchst beunruhigenden Traum aufgeweckt. Als sie um sich schaute, wusste sie im Moment nicht, wo sie war. Die Sonne flutete durch das Fenster und während ihr Blick auf vertraute Gegenstände fiel, erinnerte sie sich der Vorgänge des letzten Abends. Obwohl ihr der beunruhigende Traum noch so wirklich und lebendig vor Augen stand, dankte sie Gott, dass sie noch einmal heimkehren durfte. Auch dass sie nie Zweifeln Raum gegeben, sondern sich fest auf ihre Verheißung gestützt hatte. Schnell kleidete sie sich an, kniete sich an die Seite des Bettes, wo sie früher so oft kniete, und pries ihren Herrn in wahrer Dankbarkeit ihres Herzens, dass sie sich zu ihm nahen durfte. – Nicht mehr mit der Bitte, sie mit seiner heilender Hand zu berühren und von Schmerzen und Leiden zu befreien, sondern mit Dank für die Gesundheit und dafür, dass er auch ihren Vater erweicht hatte. Nach der innigen, vertrauensvollen Bitte zu Gott, sie durch diesen Tag hindurchzutragen, stand sie auf und ging in die Küche, wo sie ihre Stiefmutter geschäftig bei der Vorbereitung des Frühstücks vorfand.

„Guten Morgen, Mutter“, rief Eva fröhlich. „Wie geht’s dir heute Morgen und wo ist Papa?“ 

„O, ganz gut“, erwiderte Frau Grant. „Und dein Vater ist noch im Bett. Das war seine beste Nacht seit Monaten, soweit ich weiß. Er schlief die ganze Nacht hindurch. Gewöhnlich wird er in der Nacht sehr geplagt, aber diesmal hatte er eine ganz ungestörte Nacht. Und als ich heute Morgen aufwachte, schlüpfte ich ganz leise aus dem Bett, um ihn nicht zu stören. Er schien so gut zu ruhen. Ich werde ihn aber bald rufen müssen, dass er sich zum Frühstück bereit mache.“

„Es freut mich sehr, so etwas zu hören“, sagte Eva; „denn ich hatte heute Morgen einen Traum, der mich sehr beunruhigte. Als ich erwachte, wollte sich sogleich eine schwere Last auf mein Herz legen. Ich hatte nie so einen Traum; es ist so seltsam.“

„Ich habe immer gehört, dass man seine Träume nicht vor dem Frühstück erzählen soll. Aber erzähl mir ihn jetzt; lass es uns diesmal riskieren“, sagte Frau Grant lachend. „Du wirst dich natürlich an einen andern wenden müssen, der dir ihn auslegt; aber ich möchte ihn wenigstens gern wissen.“

„Schon gut“, erwiderte Eva, „mir ist nicht bange, ihn vor dem Frühstück zu erzählen. Und wenn er etwas bedeuten sollte, wird das nichts ändern. Mir träumte, dass ich einen engen Pfad entlang ging, der ganz gerade war, soweit mein Auge sehen konnte. Aber ich war allein. Rechts schien in gewisser Entfernung ein großer Wald zu sein. Eine Weile hatte ich Furcht, dass irgendein wildes Tier aus dem Walde auf mich zukommen könnte. Aber als ich Löwen, Tiger, Leoparden und andere Raubtiere am Rande des Waldes sah und merkte, wie sie von dem hellen Licht geblendet wurden, das über mir schien, wurde ich ruhiger, wanderte getrost weiter und sang das Lied:

„Ich will folgen dir, mein Heiland,

Was mein Teil auch sein mag hier.

Wo du hingehst, will ich folgen,

Folgen treulich, Heiland dir.

Wenn gar Todesfluten rauschen,

Kalt und tief sie nahen mir;

Du gingst auch durch seine Wogen;

Unerschrocken folg ich dir.“

„Als ich eine Strecke weiterging, sah ich Papa plötzlich aus dem Wald auf mich zukommen. Ich legte meine Hand in seine und wir gingen ein paar Schritte miteinander. Plötzlich legte sich eine dunkle Wolke, so schwarz wie die Nacht, auf uns und ich konnte nichts mehr sehen. Ich hielt inne, denn ich wusste nicht, in welche Richtung ich gehen sollte, und fürchtete mich, in dieser Dunkelheit einen Schritt zu tun. In dem Moment fühlte ich, dass meine Hand Papas Hand entschlüpfte, wie wenn er mir hinweggerissen worden wäre. Ich schrie auf und dann fühlte ich eine Hand an meinem Arm, die mich führte. Ich schritt aus der Wolke wieder in das Licht, und da stand Friedrich Reed, der mein Gatte werden soll, in seiner Uniform neben mir und hielt mich am Arm. Und als er mir ins Gesicht schaute, sagte er: „Fürchte dich nicht, mein Liebling; denn ich werde mit dir durch die Wolken deines Lebens gehen und auch durch den Sonnenschein.“ Dann erwachte ich. Es nimmt mich nur wunder, was das bedeuten soll. Hast du dafür irgendeine Auslegung?“

„Das ist wirklich ein seltsamer Traum“, sagte Frau Grant.

„Aber ich bin nicht in der Lage, eine Bedeutung daraus zu lesen. Im Allgemeinen gebe ich nicht viel auf Träume. Aber das Frühstück ist jetzt fertig. Ich denke, dass du deinen Vater rufen kannst. Er wird genug geruht haben, und ich glaube, er wird sich heute Morgen nach so einem ungestörten Schlaf viel besser fühlen.“

„Papa“, rief Eva, als sie an ihres Vaters Tür herantrat, „das Frühstück ist fertig!“ Aber da kam keine Antwort. Sie öffnete die Tür, trat an sein Bett und legte ihre Hand auf die seine, die er außerhalb der Bettdecke an seiner Seite liegen hatte, und fand sie eiskalt. Ihr plötzlicher Schrei brachte Frau Grant und Edgar herbei. Die Wolke war in der Tat auf sie herniedergekommen, denn ihr Vater lag kalt und leblos vor ihr. Ja, der Tod hatte sich in dieser Nacht hereingeschlichen, während er schlief. Schon seit mehreren Stunden, ehe die Familie es wusste, war er tot. Nun verstand Eva die Bedeutung ihres Traumes. Sie brauchte keinen Ausleger mehr.

Der Tag, der für Evas Hochzeit angesetzt war, brach mit hellem Sonnenschein und klarem Himmel an. Der Bräutigam kam, aber nicht um das Ehegelübde zu tun, sondern um seine Braut an den Sarg ihres Vaters zu führen und mit ihr dem langen Zuge zum Friedhof zu folgen, wo man ihn neben seiner ersten Frau in die kühle Erde bettete. Als sie vom Grab zurückkehrten, erzählte Eva all ihren Angehörigen die Begebenheiten des ersten Abends ihrer Heimkehr. Das brachte der Familie, besonders Harry, der für gewisse Zeit von zu Hause fort war, große Befriedigung. Er war bereit, alles Vergangene zu vergessen und nur an die letzten paar Wochen des Lebens seines Vaters zu denken, wie sie ihm geschildert wurden. Der Tod hatte bittere Erinnerungen aufgeweckt, nun aber auch ein liebliches Andenken gebracht.

Wieder dankte Eva Gott, dass sie seine Verheißung in Joh. 15:7 zu der ihren machte. Denn sie hatte gebeten, dass Gott ihr ihren Vater geben möge, und dankte ihm, dass sie nun die Erfüllung dieser Verheißung verwirklicht sah, wenn er auch nur ein paar Schritte mit ihr auf dem schmalen Wege wandeln durfte. Jenes Gebet unter dem Baum im Garten ist ihr eine unvergessliche Begebenheit geblieben, die sie oft in ihr Gedächtnis zurückrief. Der Gang vom Baum zum Haus entsprach jenen paar Schritten in ihrem Traum auf dem schmalen Weg, Hand in Hand mit ihrem Vater. Das war ihr eine Quelle großer Freude. Ihrer Tränen waren wenige; denn mit den Tränen musste fortgesetzt Preis und Dank zu Gott emporsteigen.

Es war schwer für Eva, so bald nach ihres Vaters Tod an die Hochzeit zu denken. Aber da Friedrich Reed, noch ehe er von Herrn Grants Tod Nachricht bekommen hatte, Heiratserlaubnis erwirkt hatte, ging Eva drei Tage nach der Beerdigung mit ihm in das Heim eines bekannten Predigers und wurde dort Gattin dieses jungen Offiziers.

Eva empfand die Notwendigkeit ihrer weiteren Ausbildung und der junge Ehemann musste nach einer kurzer Zeit lieblichen Beisammenseins zu seinen Offizierspflichten in die Armee zurückkehren. So wandte sich Eva zunächst wieder ihren geistlichen Pflichten in jener Gemeinde in Kentucky zu. Sie reichte aber ihren Rücktritt ein, um in diesem Herbst noch das Bibelseminar in Anderson besuchen zu können.