Evas großer Verlust

Eines Abends kehrte Herr Grant aus der Stadt zurück und hatte viel getrunken, was ihn sehr zänkisch machte. Das Abendbrot wartete und Eva, ihres Vaters Zustand gewahrend, ließ ihr Abendbrot unberührt stehen und eilte zu Bett, um der Beschimpfung und etwaiger Misshandlung zu entgehen. O wie sie zitterte, als seine Flüche an ihr Ohr drangen! Sie fürchtete auch, dass er die Mutter schlagen würde. Zu ihrem Erstaunen hörte sie die Mutter in leisem, freundlichen Ton sagen: „Das Abendbrot ist fertig, Papa. Wasch dich nur am besten gleich, denn ich habe heute ein ganz besonderes Gericht für dich.“ Sie hörte dann den Vater sich am Ausguss waschen. Weil ihr Schlafzimmer an die Küche angrenzte, konnte sie durch die halbgeöffnete Tür alles hören. Von Seiten der Mutter kam kein hartes Wort, vielmehr erzählte sie dem Vater mit freundlicher Stimme alle Vorfälle des Tages, sogar die ausgelassenen Streiche der Jungen, wobei Herr Grant seinen Zorn vergaß und herzlich mit ihnen lachte. Das besondere Gericht war eine Erdbeerpastete, die er sich gut munden ließ und die auch seine Stimmung ändern half. Er stand vom Tisch auf, um eine Zeitlang mit den Jungen herumzutoben. Das war etwas ganz Ungewöhnliches.

„Wie bringt sie es nur fertig?“, fragte sich Eva. „Wie kann sie so freundlich und ruhig sein, wenn er sie so ausschimpft? Ich verstehe es nicht. Sie ist furchtlos, während wir uns doch alle fürchten.“ Eine Zeitlang lag sie an diesem Abend nachdenklich im Bett, ehe sie einschlief. Am nächsten Morgen erwachte sie durch der Mutter Kuss auf ihre Stirn. Ihre Arme um Mutters Hals schlingend, sagte sie: „Mama, ich verstehe nicht, wie du so freundlich zu Papa sein kannst, wenn er uns alle so schlecht behandelt. Wie kannst du so lieb zu ihm reden, wenn er dir so flucht?“

„Bleib nur einen Augenblick liegen und ich werde dir sagen, warum“, erwiderte Frau Grant. Sie verließ das Zimmer und kehrte nach wenigen Augenblicken mit der offenen Bibel zurück. Sie setzte sich neben Eva und las Sprüche 15:1: „Eine linde Antwort stillt den Zorn, aber ein hartes Wort richtet Grimm an.“

„Bist du deswegen immer so freundlich zu uns allen?“, forschte Eva.

„Ja, mein Töchterlein“, erwiderte Frau Grant. „Ich habe gefunden, dass wenn eine sanfte Antwort den Zorn nicht beseitigt, es besser ist, still zu sein. Denn bittere Worte entfachen nur die Flamme und machen die Dinge schlimmer; und ich bedaure euren Papa. Er war ein lieber, guter Mann, ehe er trank.“

„Was habe ich für eine wundervolle, tapfere Mama“, sagte Eva, während sie voll Rührung ihre Hand erfasste. „Aber, Mama, fühlst du dich nicht wohl? Du siehst aus, als ob du Schmerzen hättest.“

Wieder beugte sich Frau Grant über Eva und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Lange schaute sie in die weitgeöffnete Augen.

„Mein liebes, kleines, aufmerksames Mädchen“, sagte sie, „Mamas kleiner Tröster und Helfer. Mama kann sich immer auf ihre kleine Eva verlassen. Ja, ich fühle mich heute Morgen nicht wohl. Du weißt, mir ist schon seit einigen Monaten nicht so ganz wohl; aber wegen euch, Kinder, bin ich aufgeblieben. Ich fühle mich heute Morgen schlechter als gewöhnlich, aber vielleicht wird sich’s im Laufe des Tages geben.“

Besorgnis schlich sich in Evas Herz. Unverzüglich stand sie auf und half ihrer Mutter bei der Morgenarbeit, um sie zu entlasten. Als der Tag voranschritt, ließen ihre Befürchtungen nach. Sie sah ihre Mutter das Mittagsmahl bereiten und dann tüchtig mitessen. Nach dem Essen bestand Eva darauf, dass sie sich hinlegen und ihr das Abwaschen und Aufräumen des Geschirrs überlassen solle. Das tat sie. Neva half ihrem Vater auf dem Feld, und so gingen die zwei an ihre Arbeit. Eva wusch leise das Geschirr, säuberte die Küche, tat alles an Ort und Stelle und trippelte vorsichtig auf den Zehenspitzen in das Zimmer der Mutter. Sie schlief. Am Nachmittag, als Frau Grant aufzustehen versuchte, wurde sie von einem Schwindelgefühl befallen, das immer schlimmer wurde. Eva rief ihren Vater und Neva vom Feld. Sogleich wurde ein Arzt geholt, der erklärte, dass Frau Grant sich in bedenklichem Zustand befände. Der Tag ging dahin und die Nacht nahte heran. Die jüngeren Kinder erschienen an der Tür des Schlafzimmers, wo ihre Mutter lag, und diese rief sie zum Gutenachtkuss zu sich heran. Dann gingen sie zu Bett und schliefen bald ein, wie sorglose Kinder es tun. Aber nicht Eva. Für sie gab es keinen Schlaf. Eine gute Nachbarin, die von Frau Grants Krankheit hörte, verbrachte die Nacht bei ihr und tat alles, was sie konnte, um ihr Leiden zu erleichtern. Während der Nacht schlich sich Eva oft in Mutters Zimmer. Als diese ihre Besorgnis gewahrte, rief sie Eva zu sich, erfasste ihre Hand und sagte in ihrer guten, mütterlichen Weise: „Geh zu Bett, mein Töchterlein, du kannst mir jetzt nicht helfen. Du brauchst deine Ruhe oder du wirst auch krank werden. Und du weißt, wir dürfen nicht zur selben Zeit zwei Kranke im Haus haben.“ Sich über die Mutter beugend, küsste Eva ihre Stirn und hörte sie wieder sagen: „Mama kann sich immer auf ihre kleine Eva verlassen.“ Die Mitternachtsstunde war schon vorüber, als Eva zu Bett ging, aber diese Worte tönten in ihrem Herzen weiter und trotz ihrer Angst um die Mutter fühlte sie sich glücklich und schlief bald ein.

Als Eva am nächsten Morgen erwachte, kleidete sie sich schnell an und schlich sich an die Mutter heran; aber kein liebevoller Blick grüßte sie. Sie nahm der Mutter Hand und flüsterte ihr in besorgter, mitempfindender Herzlichkeit einige Worte zu. Sie empfing als Antwort das wohlbekannte, tröstliche, mütterliche Streicheln. Mit schwerem Herzen verließ sie das Zimmer. Neva bereitete das Frühstück. Eva holte den Melkeimer und ging in den Stall, um die Kuh zu melken. Als sie an der Scheune vorüberkam, sah sie ihren Vater am Torweg stehen. Er rief sie zu sich. Näher an ihn herantretend, gewahrte sie, dass Tränen seine Wangen herabrollten. Indem er seinen Arm auf ihre Schultern legte, sagte er: „Eva, wir werden bald keine Mama mehr haben; denn sie eilt ihrem Ende zu.“ Dann setzte er sich wie zerschlagen nieder und sein Gesicht verzog sich unter heftigem Schluchzen. Dort sah Eva zum ersten Mal ihres Vaters bessere Natur und ihr Herz wurde für ihn erwärmt wie nie zuvor. Ihre Tränen fielen mit den seinen, aber sie ging und verrichtete ihre Arbeit. Die Tränen rannten, bis sie kaum mehr sehen konnte, wie sie melken sollte. Dort, auf jenem Melkstuhl, wandte sich ihr Herz in ernstem Flehen zu Gott, doch das Leben ihrer Mutter zu schonen, die für das Heim so nötig sei. „Erhalte sie“, rief sie, „und ich will dir immer dienen, Herr!“ Aber es schien, als rufe sie in den leeren Raum hinaus. Dann kam ihr der Gedanke: „Wie kann ich etwas vom Herrn erbitten, wenn ich nichts für ihn getan habe?“ Sie stand auf vom Melken und als sie ins Haus trat, fand sie ihre Mutter schlafend. Jeder im Haus verhielt sich sehr leise, denn man fürchtete, dass ein Fußtritt auf dem rauen Steinboden sie aufwecken könnte. Der Tag schritt voran und gegen Nachmittag konnten alle sehen, dass sie in einen Schlaf gefallen war, von dem sie im Diesseits nicht mehr erwachen würde. Als dann die Aprilsonne ihre langen Schatten warf und im Begriff war, am westlichen Horizont unterzugehen, ging Lucy Grant in die Ewigkeit. Freundliche Nachbarn und treue Freunde standen der Familie in jeglicher Weise bei. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, wurde Lucy Grant in den Sarg gelegt. Das weiße Totengewand schien den liebevollen Ausdruck ihres Gesichtes, von dem jede Spur der Sorge und Unruhe verschwunden war, noch freundlicher zu gestalten. Das Lächeln, das ihr Angesicht immer trug, schien auch im Tode um ihre Lippen zu spielen. Sie lag da wie eine, die den Kampf des Lebens gefochten und den Sieg davongetragen hatte. Zwei Tage danach wurde sie auf den Friedhof getragen. Die Familie kehrte in ein Heim zurück, dem der Tod das entrissen hatte, was das Heim zu einem wirklichen Heim macht. Während all der Begräbnisvorbereitungen und sogar als ihrer Mutter Sarg ins Grab versenkt wurde, befand sich Eva wie im Traum. Sie hatte geweint, als der Gedanke an ihrer Mutter Tod in ihr aufstieg; aber nun, da der Schlag wirklich kam, war die Wunde für Tränen zu tief. Ihr blasses Gesicht wurde noch blasser und ihr Körper bebte, aber keine Tränen wollten ihr zur Erleichterung kommen. Als sie vom Grab zurückkehrte und wieder ins Haus eintrat, schaute sie um sich, als wäre sie ganz abwesend. Die Aprilsonne schien durch die Fenster, aber für Eva lag nichts Erfreuendes in ihren Strahlen. Das Licht empfand sie wie einen Hohn auf die Dunkelheit und Traurigkeit ihres Herzens. Die Nacht kam heran; die Kinder machten sich bereit, zur Ruhe zu gehen. Aber niemand rief sie zu einem Gutenachtkuss zu sich, wie noch ein paar Abende vorher. Es gab keine freundlichen Worte mehr für jeden Einzelnen, kein liebevolles mütterliches Streicheln. Auch Eva bereitete sich zum Schlafengehen und während des Auskleidens fiel ihr Blick auf ihrer Mutter Bibel, die auf dem alten Schreibtisch in ihrem Zimmer lag. Das weckte die Erinnerung an die Unterhaltung mit ihrer Mutter an jenem denkwürdigen Morgen vor drei Tagen. Sie nahm das Buch, drückte es in liebkosender Weise an ihre Brust und es war ihr, als hörte sie wieder ihrer Mutter Stimme: „Mama kann sich immer auf ihre kleine Eva verlassen.“ Die Tränen kamen und manchmal bebte sie unter heftigem Schluchzen. Sie verbarg die Bibel unter ihrem Kissen, legte den Kopf darauf und weinte sich in den Schlaf.