Grants Kinder

Die ersten Kinder, die in Robert und Lucy Grants Heim ankamen, waren Zwillingsmädchen, Eva und Neva. Zwei Jahre später wurde ihnen ein Knabe, Harry, geboren, zweieinhalb Jahre später ein anderes Söhnchen, Edgar. Drei Jahre danach kam ein Töchterlein, Pansy, als ein wahrer Sonnenschein ins Haus. Die Zwillinge waren nun fast acht Jahre alt.

Lucy war für ihre kleine Schar, trotz ihrer außerordentlichen Armut, eine ideale Mutter. Als die Kinder kamen, hatte sie gehofft, dass Robert die Notwendigkeit der Besserung einsehen würde, besonders als sie ihm einen Sohn schenkte. Aber die starken Getränke hatten die Herrschaft über ihn gewonnen, und viele Nächte musste sie mit ihrer kleinen Schar allein sein. Lucy war immer von starkem Charakter gewesen; aber die Mutterschaft entfaltete in ihr köstliche Eigenschaften, die bisher völlig im Veborgenen gelegen hatten. Sie war ihren Kindern ein wirkliches Vorbild. Sie wuchsen auf in einer Atmosphäre der Liebe und der Furcht. Fürchten mussten sie den großen breitschultrigen Mann, der mit schweren Schritten durchs Haus wankte und dessen Stimme nie freundlich klang. Die gewalttätigen Erscheinungen seines Temperaments veranlassten sie oft, Schutzorte aufzusuchen. Es lag wohl Grund vor, ihn zu fürchten; denn oft, wenn er so zornig war, hatten sie das Gewicht seiner schweren Hand in missbräuchlicher Weise gefühlt. Aber so sehr sie den Vater fürchteten, so sehr liebten sie die gute, freundliche kleine Mutter, die es sich nie nehmen ließ, sie am Abend ins Bett zu bringen, ihnen allen einen Gutenachtkuss zu geben und nach der rohen Behandlung von der Hand ihres Vaters tröstende Worte zu ihnen zu reden. 

Die Kinder waren ungleich; sie unterschieden sich wie in der äußeren Erscheinung so auch in der inneren Veranlagung sogar die Zwillinge. Dies war von ihrer Geburt an bemerkbar. Eva, bei der Geburt die Größere, besaß die Züge und Veranlagung ihrer Mutter, während Neva das Ebenbild des Vaters war und dessen Veranlagung besaß. Deswegen war sie sein, wie auch seiner Verwandten Günstling. Wurden ihnen von des Vaters Verwandten Geschenke gebracht, so bekam Neva etwas Schöneres als Eva. Bei einer Gelegenheit beschenkte eine Tante jede der beiden mit einer Brosche. Nevas Brosche war eine feine und von beträchtlichem Wert, während Evas sehr einfach war und wenig Wert besaß. Eva nahm ihre Brosche in Empfang, dankte der Tante herzlich und ging sogleich auf ihr Zimmer, wo ihre Mutter sie nach einiger Zeit vorfand weinend, als wollte ihr kindliches Herz brechen. Des Kindes Kummer erratend, nahm die Mutter Eva in ihre Arme, und während ihre eigene Stimme vor Bewegung zitterte, sagte sie: „Weine nicht, meine liebe Eva. Denke daran, Mama liebt dich, wenn sonst niemand dich liebt.“

„Ja, Mama, aber du liebst Neva geradeso, wie du mich liebst, nicht wahr?“, schluchzte das Kind.

„Gewiss, ich liebe Neva“, erwiderte die Mutter, „aber Eva ist das kleine Mädchen, dem ich immer vertrauen kann. Ich kann mich immer auf sie verlassen. Sie ist mir nie ungehorsam gewesen. Ist das nicht mehr wert als all die Broschen, die die Tante dir hätte geben können?“

Diese Worte hatten ihre Wirkung und heilten das wunde kleine Herz. Eva wischte sich die Tränen ab, wusch ihr Gesicht und mit freudigem Lächeln ging sie hin, mit den anderen Kindern zu spielen. In ihrem Herzen tönte es immerfort: „Meine Mama vertraut mir.“

In der Schule zeigte sich die verschiedene Veranlagung der Grant-Zwillinge wohl am meisten. Neva verursachte durch ihr lebhaftes Temperament oft Zwistigkeiten mit den anderen Kindern. Da man wusste, dass Eva ihre Zwillingsschwester war, ergoss sich der Ärger und Zorn der Schulkameraden nicht selten auch über sie, so dass sie oft für Dinge zu leiden hatte, die Neva tat, und woran sie selbst vollkommen unschuldig war. Aber Eva war ein lernbegieriges Kind und machte gute Fortschritte in der Schule. Durch ihren Fleiß und Gehorsam wurde sie bei ihren Lehrern schnell beliebt und entging so mancher Strafe, die ihre Schwester Neva bekam. O wie fleißig sie hinter ihren Büchern saß!

Als Pansy drei Jahre alt war, ergriff sie ein Fieber. Da Eva immer ihre kleine Pflegerin war, war sie auch jetzt beständig an ihrer Seite und entlastete die Mutter, damit sie anderen Pflichten im Haus nachkommen konnte. Pansy lag mehrere Wochen lang krank. Und eines Abends, als Eva und ihre Mutter bei der Kleinen am Kinderbett saßen, gewahrten sie ein Zusammenziehen ihrer Muskeln, ein Zucken ihrer Schultern, ein schwaches Keuchen – und die kleine Leidende verschied. Der Tod hatte sich herangeschlichen und sie hingerafft, während sie an ihrem Bett saßen und wachten.

Dann kam die Beerdigung, wo man den kleinen Leib bestattete. Als sie vom Friedhof zurückkehrten, sahen sie die netten Spielsachen, die Kleidchen und das kleine Kinderbett, was immer wieder die Erinnerung an die Kleine wachrief, die ein wirklicher Sonnenschein im Hause gewesen war. Sie war in ihrem Wesen der Eva sehr ähnlich und war daher im Besonderen ihr Liebling gewesen. Obwohl keine Träne in Evas Augen kommen wollte, lastete doch eine Last auf ihrem kindlichen Herzen, die ihr den Appetit raubte. Einige Tage darauf war Eva von derselben Krankheit befallen. Wochenlang lag sie in brennendem Fieber, aber erholte sich schließlich. Die rosigen Wangen waren hinweg, sie spielte und sprang nicht mehr mit den Kindern. Das Fieber hatte ihren Körper so geschwächt, dass man mit ihr wie mit einem Gewächshauspflänzchen umgehen musste. Da sie weit von der Schule entfernt wohnten, war sie außerstande, sie zu besuchen; so musste sie daheim bleiben. Oft, wenn sie die kleinen Brüder und Schwestern zur Schule gehen sah, während sie zu Hause bleiben musste, brach sie in Tränen aus. Aber, obwohl so behindert, verfehlte sie es nicht, sich mit Ernst dem Selbststudium zuzuwenden. Jeden Abend ließ sie sich von Neva ihre gelernten Lektionen abhören und hielt auf diese Weise mit ihrer Schulklasse Schritt.

Evas Krankheit gestaltete das Leben für Lucy Grant nur um so härter, denn sie hatte sich schon sehr auf sie stützen können. Nun musste sie das Kind in jeder Weise schonen, und alle Verantwortlichkeiten lasteten auf der Mutter.

Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate und die Monate reihten sich zu Jahren. Die Zwillinge hatten nun ihr dreizehntes Lebensjahr erreicht. Neva war für ein Mädchen ihres Alters gut entwickelt, aber für die arme, gebrechliche Eva hatten die Jahre körperlich keine solche Entfaltung gebracht. Alle in der Familie, außer Vater, schonten und schützten sie. Oft stand sie sprachlos da, wenn er seine Flüche und Beschimpfungen über sie ergoss. Sie wusste auch, was es heißt, seine schwere Hand zu fühlen. Herr Grant war selten nüchtern, und die ganze Familie erlebte die Wirkungen eines durch berauschende Getränke entflammten Temperaments. Aber die Mutter bebte und fürchtete sich nie im Beisein ihrer Kinder, auch wenn es schien, dass sicherlich Schläge folgen würden. Welch eine tapfere kleine Mutter!